Halle-ProzessSchlusswort einer Überlebenden aus der Synagoge

„Die Idee des ‚Nie wieder‘ ist schon gebrochen.“

Es gab zwei Anschläge auf zwei Synagogen in Halle und auf die zu ihnen gehörenden Jüdinnen und Juden. Jeweils am 9. Tag eines Herbstmonats.

Der erste war im November 1938, während des Novemberpogroms.

Der zweite war im Oktober letzten Jahres am jüdischen Feiertag Jom Kippur.

Wegen dieser beiden sind wir hier.

Es gibt eine historische Verbindung zwischen diesen Anschlägen. Die zweite Synagoge steht heutzutage nur, weil die erste Synagoge am 9. November 1938 zerstört wurde. Dies kann man schon daran erkennen, dass ein Friedhof zwischen der Synagoge und der Straße liegt. Synagogen werden nicht neben Friedhöfen errichtet. 

Es gibt auch eine ideologische Verbindung zwischen den beiden Anschlägen: Sie heißt Antisemitismus. Zuvörderst betrifft Antisemitismus Jüdinnen und Juden. Seine zentrale Wirkungsweise ist es, Jüd*innen als die Fremden zu markieren. Es gibt Zeiten, in denen sich die Vorstellung, alles für Fremdgehaltene vernichten zu müssen, ausbreitet. Dies ist in Halle geschehen. Es wurden alle und alles angegriffen, was als „fremd“ definiert wurde, dazu gehörte auch der Kiezdöner.

Der Täter hat sogar auf die Kontinuität in der seine Tat steht hingewiesen, als er am Anfang des Livestreams den Holocaust leugnete und sich zu seinem Antisemitismus bekannte. 

Während ich in der Synagoge war und versuchte, mich irgendwie zu schützen und zu verstecken, konnte ich nicht wissen, was er sagte. Ich habe den Livestream nicht gesehen. Doch habe ich ihn auch nicht gebraucht, um zu wissen, dass es immer noch Personen gibt, die gerne in einer – nach ihren Maßstäben definierten – homogenen Gesellschaft leben würden. Diese Idee hat Europa im 20. Jahrhundert geprägt. Sie war der Grund dafür, dass Verwandte von mir in die USA fliehen mussten. Dafür kann ich nur dankbar sein; deswegen bin ich am Leben. 

L’dor Va’dor ist ein hebräischer Ausdruck, der in der jüdischen Tradition einen hohen Stellenwert hat. Er bedeutet „von Generation zu Generation.“ Als Kind habe ich mir nie vorgestellt, ich müsste als Jüdin selbst irgendwann einmal um mein Leben fürchten. So etwas gehört der Vergangenheit an, – dachte ich. Was ich nicht verstanden habe ist, dass die Vergangenheit ein Teil unserer Gegenwart ist. 

L’dor Va’dor wird oft im Sinne von Lernen benutzt. Die ältere Generation lehrt die Jüngere. Wir sind verpflichten, die Vergangenheit weiterzugeben, damit wir die Zukunft besser machen können. 

Als ich mehr über das Konzept der Erinnerungskultur gelernt habe, habe ich das mit der Idee von L’dor Va’dor verglichen. Obwohl die Ideen aus zwei verschiedenen Perspektiven stammen, geben beide Antworten auf die Frage: Wie geht eine Gruppe mit den Ereignissen der Vergangenheit um? 

Man könnte sagen, dass die KZ-Gedenkstätten konkrete Antworten auf diese Frage aus der Erinnerungskulturperspektive sind. 

Als Austauschschülerin und dann im vergangenen Jahr als FSJlerin in einer KZ-Gedenkstätte, lernte ich vieles über diese deutsche Erinnerungskultur. Zwei Sätze hörte ich fast täglich während meiner Arbeit: “Nie wieder” und “Nie vergessen.” 

“Nie wieder” – nie wieder soll Deutschland zur Diktatur werden. Nie wieder soll ein Völkermord geschehen. Nie wieder sollen Menschen, die nicht zur “Volksgemeinschaft” gehören, in Lager eingesperrt werden. Und vor allem sollen nie wieder Jüd*innen und andere Minderheiten um ihre Leben fürchten.

Die Idee des „Nie wieder“ ist schon gebrochen. 

Als ich im Januar 2020 bei der Gedenkstunde des Bundestages zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus teilgenommen habe, sagte Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier etwas Bemerkenswertes in seiner Rede: 

“Meine Sorge ist, dass wir [Deutsche] die Vergangenheit inzwischen besser verstehen als die Gegenwart. Wir dachten, der alte Ungeist würde mit der Zeit vergehen. Aber nein: Die bösen Geister der Vergangenheit zeigen sich heute in neuem Gewand.” 

Zwei Anschläge gehören jetzt zur Vergangenheit. 75 Jahren trennen sie, aber sie sind durch eine auf Hass gegründete Ideologie verbunden. 

Nach dem Anschlag habe ich viele Fragen gehabt. In der Zwischenzeit wurden einige beantwortet, aber ich habe noch viele und eine davon lautet: Wie viele Menschen müssen sterben und wie viele Menschen müssen um ihr Leben fürchten, bevor die Mehrheitsgesellschaft versteht, dass Hass auf Minderheiten nicht verschwunden ist? 

Unmittelbar nach dem Krieg gab es schon wieder Diskriminierung gegen Jüd*innen! Aber nach dem Krieg gab es auch Jüd*innen, die wieder leben und feiern und genießen wollten, nachdem sie aus dem Leben und der Welt gerissen worden waren. 

Für das Judentum ist die Vergangenheit und die Erinnerung daran wichtig. Viele jüdische Feiertage erzählen, was in der Vergangenheit geschehen ist; die Zichronot, Hebräisch für Erinnerungen, bleiben mit uns. Wir müssen uns erinnern, egal ob es etwas Gutes oder Schlechtes ist, damit die zukünftigen Generationen davon lernen können. 

Aber es gibt einen großen Unterschied zwischen der deutschen Erinnerungskultur und dem Verständnis von Zichronot imJudentum. Dieser Unterschied ist nicht nur einer von tausenden Jahren, sondern hauptsächlich einer der zeitlichen Perspektive. Deutsche Erinnerungskultur versucht an die Vergangenheit zu erinnern. Die Idee von Zichronot betrifft gleichzeitig die Vergangenheit und die Zukunft. Deswegen sagen wir uns jedes Jahr an Yom HaShoah, dem Holocaust Gedenktag, Yizkor. 

Die Bedeutung von Yizkor ist: „Man wird erinnern.“ Das Wort ist etymologisch mit Zichronot verwandt. Aber Yizkor ist grammatikalisch ein Wort der Zukunft und nicht der Vergangenheit, weil es im Futur steht. Es ist ein Versprechen, das jedes Jahr erneuert werden muss. Es ist wie ein Weckruf, der regelmäßig ertönt, damit wir es uns nicht zu bequem machen und anfangen zu vergessen. 

Die Idee scheint wie ein Paradox, weil sie gleichzeitig Zeit trennt und Zeit vereint. Genau deshalb hat sie solch eine Wirkung. Erinnerung funktioniert nur wenn man sich erlaubt, die Schreie der Vergangenheit, der Gegenwart und auch der Zukunft zu hören. Keine Zeit existiert für sich ohne den Einfluss der anderen. 

Ich bin jung und habe mein ganzes Leben vor mir. Ich kann nicht vergessen, was während des Anschlags passierte. Der Anschlag wird ein Teil meiner Erinnerungen bleiben. Solange ich am Leben bin, kann ich darüber schreiben, was ich erlebt habe. Aber ich leihe meine Stimme nicht nur den sechs Millionen, die nicht mehr sprechen können, sondern auch den Opfern und Überlebenden, die nach dem Kriegsende nicht ernst genommen wurden. Dies kann ich nur tun, weil ich überlebt habe. 

Das Schweigen zu Antisemitismus und Rechtsextremismus muss gebrochen werden. Dazu muss die Mehrheitsgesellschaft beitragen. 

Zwei Anschläge sind schon zu viel. Lassen Sie es nicht mehr sein. 

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