Halle-ProzessSchlusswort von Jessica Wax-Edwards

In diesem Prozess wurden wir ein ums andere Mal enttäuscht.

Was ist der Zweck dieses Prozesses?
Wir haben ein Video, das das Verbrechen beweist, wir haben es gesehen. Ohne den geringsten Zweifel zu lassen hat der Angeklagte eingeräumt, dass er das Verbrechen begangen hat, ja sogar stolz darauf ist.
Da die „Beweislast“ aus der Gleichung gestrichen ist, herrscht in diesem Gerichtssaal ganz offensichtlich ein Gefühl von „Bringen wir es hinter uns“, es geht nicht um weitere Nachforschungen und darum, welche Fragen noch zu beantworten wären.
Doch dieser Prozess hat einen höheren Zweck und eine weiterreichende Bedeutung: die Bedingungen und Hintergründe zu verstehen und zu hinterfragen, die dieses Verbrechen überhaupt möglich gemacht haben – Bedingungen, die, wenn sie nicht thematisiert werden, weitere Verbrechen dieser Art nach sich ziehen.
Als Nebenklägerinnen und Nebenkläger versuchen viele von uns seit dem Tag des Anschlags, das Geschehene zu verstehen. Wir haben uns in aller Tiefe mit den Wurzeln der Online-Radikalisierung auseinandergesetzt, mit der drohenden und wiederauflebenden Präsenz des Rechtsextremismus in Deutschland (und der Welt), dem darin eingebetteten Sexismus, Rassismus und der hegemonialen Männlichkeit, mit allem, was hier eine Rolle spielt.
Wir sind zu unfreiwilligen Expertinnen und Experten für diese Themen geworden – trotz unserer persönlichen Betroffenheit, trotz unserer anderen Verpflichtungen. Arbeit, Studium, Familie, Freunde, von der Pandemie ganz zu schweigen. Es hätte nicht unsere Aufgabe sein sollen. Doch je weiter der Prozess voranschreitet, desto klarer wird, dass die Aufgabe dennoch bei uns verbleibt. Und wir sind müde.
Zu sehen, wie die sogenannten wahren Experten – die Staatsanwaltschaft, Teile der Nebenklagevertretung, die das Thema Ideologie nicht weiter verfolgen wollten, und allen voran Ermittlerinnen und Ermittler wie das BKA – die Möglichkeit an sich vorbeiziehen lassen, zu untersuchen, was hier genau passiert ist, nicht nur das Wie, sondern auch das Warum – es wirkte herablassend, naiv und schmerzlich kurzsichtig.
Wir haben unsere Zeit darauf verwendet, das Verbrechen zu verstehen, während sich beschämenderweise zeigte, wie die Ermittlerinnen und Ermittler die Arbeit auf ihre Kolleginnen und Kollegen abschoben, wie sie behaupteten, für so etwas nicht verantwortlich zu sein und sich weigerten, auch nur einen Deut über ihr eng gestecktes Aufgabenfeld hinaus zu ermitteln. Offensichtliche und deutliche Verbindungen zu anderen Anschlägen wie dem von Christchurch wurden abgetan.
Wenn die Beamten des BKA über ihre Ermittlungsarbeit berichteten und die Fragen des Gerichts beantworteten, war als Grundtenor ein „Ich habe nur Befehle befolgt“ zu hören. Nicht einmal ansatzweise wurde Verantwortung übernommen, die Herangehensweise ließ keinerlei Initiative oder ein breiteres Verständnis durchschimmern. Ich bin mir absolut sicher, dass ihre Passivität und Gleichgültigkeit gegenüber Rechtsextremismus nicht geeignet ist, sich weiteren Verbrechen dieser Art entgegenzustellen; diese Haltung ist bezeichnend für die Ignoranz, die es dieser Art Terror ermöglicht hat, in unserer Gesellschaft zu gedeihen.
Wir haben uns ihre Entschuldigungen, ihre Versäumnisse und ihre unbeholfene Inkompetenz geduldig und schweigend angehört.
Es ist noch milde ausgedrückt, dass uns ihre unverblümte Nachlässigkeit noch mehr Schmerzen zugefügt hat; den deutschen Institutionen sollte dies Anlass zur Scham sein.
In diesem Prozess wurden wir ein ums andere Mal enttäuscht. Enttäuschend war die Unfähigkeit, die rassistische Sprache zu mäßigen, derer sich der Angeklagte bediente und die auch von einigen der Anwälte in diesem Prozess wiederholt wurde, enttäuschend war die gänzlich fehlende Verantwortlichkeit seitens des BKA, enttäuschend war der Ausschluss einiger Stimmen / Nebenklagen, und die jüngste Enttäuschung war der Kampf darum, hoch relevante Sachverständige vor diesem Gericht zu hören. Wir, die Nebenklägerinnen und Nebenkläger, haben unsererseits so viel Druck wie möglich ausgeübt, damit diese Stimmen Gehör finden, und natürlich wurden einige, nämlich die, die sich mit den weiterreichenden Folgen des rechtsextremen Terrors und dem Internet beschäftigen, nicht zugelassen.
Trotz all der Sinnwidrigkeiten, mit denen wir uns herumschlagen mussten, geht es hier nicht um uns. Aber in vielerlei Hinsicht geht es auch nicht wirklich um ihn. Ihn kann man vergessen, und tatsächlich wird er, wenn das Urteil einmal gefällt ist, mit größter Wahrscheinlichkeit vergessen werden – sogar von seinen Online-Freunden. Vielmehr geht es hier um das große Ganze, und das wird willentlich ignoriert.
Dieser Anschlag war nur einer von einer immer länger werdenden Reihe von Angriffen in Deutschland und im Westen. Es ist nur eine von vielen Gewalttaten gegen Minderheiten, die im letzten Jahrzehnt verübt wurden, und genau wie die Anschläge von Christchurch, Oslo und Poway zielte auch dieser darauf ab, bejubelt und nachgeahmt zu werden. Er war zielgerichtet in der Planung, in der Verunglimpfung der Opfer, der Ermittler, des Gerichts. Er richtete sich direkt an eine globale Community, die für ihre toxische Männlichkeit und ihren Rassismus bekannt ist. Es war ein Anschlag wie aus dem Lehrbuch und ein klares Produkt der Imageboard-Kultur. Das Versagen des deutschen Staates, all dies zu erkennen, macht alles noch verwerflicher und ist schlicht und einfach erbärmlich.
Wie kann es sein, dass die zahlreichen Verbindungen zu Christchurch abgetan werden, nur weil der Angeklagte sich zu seiner Ideologie weniger umfangreich äußerte, oder, wie der BKA-Beamte sich ausdrückte:
"Hier lässt sich feststellen, dass der Attentäter von Christchurch umfangreich schreibt… Das ist im pre- action report nun nicht der Fall…"
Als würde dieselbe rassistische Ideologie weniger Schaden anrichten, wenn sie knapper oder weniger wortgewandt ausgedrückt wird.
Wie kann es sein, dass Ermittler ohne Kenntnisse der Gaming-Kultur eingesetzt wurden, um genau diese zu untersuchen?
Dieser Anschlag wurde weithin als einer der schlimmsten antisemitischen Angriffe der Nachkriegszeit begriffen, und soweit ich das beurteilen kann, bestand die Antwort des BKA darin, unerfahrene Hochschulabsolventen auf den Fall anzusetzen.
Bezüge auf Memes und Insider-Witze wurden nicht verstanden, weil eine oberflächliche Einschätzung laut Vertretern des BKA „ausreichend“ zu sein schien.
Die Inkompetenz des BKA ist so offensichtlich, dass der Angeklagte den Beamten und ihrem mangelnden Verständnis direkt ins Gesicht lachte.
Wie kann ein Mann sein eigenes Waffenarsenal bauen, zwei Menschen umbringen, zahlreiche weitere verletzen und zu ermorden versuchen, ohne dass seine Motivation, das Umfeld, das ihn geprägt hat, minutiös analysiert werden?
Ganz ehrlich: Die Nebenklägerinnen und Nebenkläger und das Recherche-Team, die die Timemap zum Anschlag von Halle zusammengestellt haben, haben bessere Arbeit geleistet – mit ehrenamtlicher Arbeit, Zeit und Ressourcen.
Dieser Prozess hat nur offengelegt, wie veraltet das Verständnis darüber ist, wie Einzelne sich radikalisieren und wie die extreme Rechte sich organisiert – sichtbar daran, wie das Gericht sich darauf fixiert hat, eine persönliche Interaktion außerhalb des Internet zwischen dem Täter und Neonazi-Gruppen aufzuspüren. Als sich nichts dergleichen feststellen ließ, wurden keine weiteren Anstrengungen unternommen, die Community zu verstehen, die den Täter hervorgebracht und ermutigt hat.
Jetzt, wo wir alle unsere Leben in den Online-Raum umsiedeln – wie kann es diesem Saal so unverständlich sein, dass ganze Gemeinschaften und soziale Identitäten ausschließlich online existieren und schon lange vor Corona auf diese Art existiert haben?
Er ist ganz offensichtlich Teil einer Gemeinschaft.
Diese Gemeinschaft hat eine definierte Sprache und Kultur, einen definierten Code. Sie trifft sich regelmäßig online, tauscht Ideen, Wissen und Ressourcen aus und ist gut organisiert. Es ist eine Gemeinschaft, die diesen Mann nach dem Anschlag als einen der ihren erkannt hat. Sie haben eine klare Vorstellung davon, wer dazugehört und wer nicht, und wieder und wieder haben sie bewiesen, dass sie bereit sind, ihren Ansichten Taten folgen zu lassen.
Dieser Prozess hätte die internationalen Netzwerke des Rechtsextremismus aus dem Schatten zerren können, die weiterhin in Deutschland agieren. Der Prozess hätte uns helfen können, als Gesellschaft eine Antwort auf extremistische Gewalt zu finden. Eine Antwort, die über „nie wieder“ hinausgeht. Es
passiert, immer und immer und immer wieder, und es sind keine isolierten Einzelfälle, auch wenn sie als solche behandelt werden.
Wir haben hier gesehen, dass sich das System lieber auf das bequeme Bild der Juden als Opfer und des isolierten Neonazis am Rande der Gesellschaft zurückzieht. Schwarze und muslimische Stimmen werden nur widerstrebend gehört, nur widerstrebend werden sie mit derselben Wichtigkeit und derselben Geltung behandelt, wird der Rassismus erkannt, den sie erleben.
Dieser Prozess hätte die Chance sein können, dem Rassismus in unserer Gesellschaft etwas entgegenzusetzen. Den rechtsextremen Terror endlich einmal nicht kleinzureden, sondern zuzugeben, dass seine Wurzeln weit über diesen einen Mann, diesen einen Gerichtssaal, dieses Land hinausreichen.
Dieser Prozess war eine Chance, doch wie sich nach vier Monaten herausstellt, wurde diese Chance nicht ergriffen.

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