Antisemitismus: Vom Recht auf Selbstbestimmung zur Feindmarkierung: Die Instrumentalisierung des Begriffs „Zionismus“
Aussagen wie „Das ist nicht antisemitisch, sondern antizionistisch“, „Zionisten sind Faschisten“ oder „Zionazi“ sind aktuell in der öffentlichen Debatte und auf der Straße präsent. Sie markieren eine Verschiebung: Der Begriff „Zionist“ hat sich zu einem moralischen Kampfbegriff entwickelt, der mit Rassismus, Rechtsextremismus und Faschismus gleichgesetzt wird.
Die „Praxis“ des Antizionismus ist so zur vermeintlich gebotenen Antwort auf das, was fälschlicherweise unter Zionismus verstanden wird, geworden.
Dabei geht die abstrakte Denunziation in manchen Fällen über bloße Rhetorik hinaus. In Berlin-Neukölln kursierte kürzlich ein Flugblatt, auf dem die Betreiber einer Kneipe als „Zionisten“ mit dem roten Hamas-Dreieck markiert wurden, mit der Forderung, „dass diese drei für immer schweigen“ sollen – eine Formulierung, die als Mordaufruf gelesen werden muss. Ein ähnliches Flugblatt, das den Mitarbeiter der israelischen Botschaft, Yaron Lischinsky, ein Hamas-Dreieck und den Schriftzug „Make Zionists afraid“ zeigte, war zuvor in der Nähe der Humboldt-Universität zu Berlin aufgetaucht. Er und seine Partnerin Sarah Milgrim waren im Mai 2025 bei einem Terroranschlag in Washington D.C. gezielt erschossen worden; der Täter rief während der Festnahme „Free Palestine” und die Tat wurde im Internet als „antizionistisch” gefeiert.
Um die Debatte einzuordnen, ist es essenziell, sich die ursprüngliche Bedeutung des Zionismus vor Augen zu führen: Zionismus ist die nationale Bewegung des jüdischen Volkes, die das Recht auf nationale Selbstbestimmung vertritt. Diese Idee entstand im 19. Jahrhundert als Reaktion auf den anhaltenden und sich verstärkenden Antisemitismus in ganz Europa.
Die Judenfeindschaft ist ein Jahrtausende altes, sich wandelndes Phänomen, dessen Kontinuität maßgeblich zur Forderung nach einem eigenen jüdischen Staat führte. Sie begann in der Antike als theologisch begründeter Antijudaismus, der Juden des „Gottesmordes“ bezichtigte und sie zur Heimatlosigkeit verdammte. Im Mittelalter konkretisierte sich diese Feindschaft durch kirchliche Gesetze zur Ausgrenzung (Kennzeichnung der Kleidung, Ghettobildung) und führte wiederholt zu massiven Gewaltausbrüchen und Pogromen, genährt durch Mythen wie der Brunnenvergiftung. Auch die Frühe Neuzeit, etwa durch Martin Luthers radikale Schriften, brachte keine Entspannung. Der entscheidende Wendepunkt zum modernen, rassistischen Antisemitismus erfolgte im 19. Jahrhundert, als sich die Propaganda von der Religion löste und die vermeintlichen Eigenschaften der Juden auf die unwandelbare „Rasse“ verlagerten. Diese im Deutschen Kaiserreich politisch und gesellschaftlich wirksame Diffamierung schuf die ideologische Grundlage für die spätere Vernichtung.
Die Idee eines eigenen Staates als Schutzraum der jüdischen Bevölkerung wurde erstmals 1897 auf dem Zionistenkongress in Basel konkret formuliert. Einer der bekanntesten Namen, wenn es um „Zionismus“ geht, ist Theodor Herzl. Sein Werk „Judenstaat“ aus dem Jahr 1896 gilt als Grundlage für die Idee des politischen Zionismus. In diesem beschreibt er den Judenstaat als „Weltbedürfnis“ (1) und beschreibt die zu diesem Zeitpunkt diskutierte “Judenfrage” als „nationale Frage“ (2). Herzl sah den Antisemitismus in Europa nicht als Ausnahme, sondern als systemisches Problem, welches unabhängig von gesellschaftlichem Fortschritt oder der damals geforderten Emanzipation oder Assimilierung der Juden, bestand.
Innerhalb des politischen Zionismus gab und gibt es unterschiedliche Strömungen, die von sozialistischen und linken Formen bis zu nationalistischen Ideologien reichen. Der Begriff beschreibt somit eine zunächst abstrakte Idee, die in verschiedenen politischen Lagern unterschiedlich ausgelegt werden kann. Die Verwendung des Begriffs „Zionist“ als Feindmarkierung ist kein neues Phänomen. In der Geschichte diente der Antizionismus bereits als Vorwand für antisemitischen Terror. In der Sowjetunion ab den späten 1940er-Jahren, insbesondere während der stalinistischen Schauprozesse wie dem antisemitischen Slánský-Prozess, diente der Zionismus als Chiffre für „die Juden“. Hochrangige jüdische Parteifunktionäre wurden unter dem Hauptanklagepunkt „Weltzionismus“, der mit dem US-Imperialismus verschmolzen sei, angeklagt. Zitate der Anklage waren: „Internationale zionistische Schacherer großen Formats“, „Geschworene Feinde des Volkes“, „Kosmopolitismus und jüdische bürgerlicher Nationalismus […] in der Münzstätte der Wallstreet geprägt“ und „Wie Blutegel und tausendarmige Meerpolypen hätten sie sich am Körper der Republik festgesogen und saugten an ihrem Blut“ (3). Einer der Mitangeklagten, Paul Reimann, wurde zur Aussage gezwungen, dass die jüdische Herkunft das verbindende Element der Angeklagten sei (4).
Auch heute wird „Zionismus“ als Kampfbegriff verwendet, der als Chiffre für eine „israelische Weltverschwörung“ fungiert. Diese Dämonisierung hat sich seit dem Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober 2023 und dem darauf folgenden Krieg im Gazastreifen noch einmal massiv verschärft und dient seither als Vorwand für Gewalt. Laut der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) waren 71 % der antisemitischen Vorfälle nach dem 7. Oktober israelbezogener Antisemitismus (5).
In der öffentlichen Debatte wird der Begriff Antizionismus gerne mit Kritik an Israel gleichgesetzt, obwohl zwischen beiden ein wesentlicher Unterschied besteht. Eine klare Unterscheidung ist für die effektive Bekämpfung von Antisemitismus notwendig. Legitime Kritik an Israel richtet sich gegen konkrete Politik der israelischen Regierung, einzelne politische Akteure oder spezifische Handlungen, zum Beispiel die Siedlungspolitik oder militärisches Handeln. Diese Kritik ist ein legitimer Teil jeder demokratischen Debatte, die auch von vielen Jüdinnen und Juden sowie Israelis selbst geübt wird. Sie stellt jedoch das Existenzrecht des Staates als Ganzes nicht infrage.
Antizionismus hingegen lehnt die nationale Selbstbestimmung des jüdischen Volkes grundsätzlich ab und richtet sich damit gegen das Existenzrecht des Staates Israel als jüdischen Staat. Die Leugnung des Selbstbestimmungsrechts des jüdischen Volkes, während dieses Recht allen anderen Völkern zugestanden wird, ist eine Form des modernen Antisemitismus. Es gibt auch nicht per se antisemitisch motivierte Argumente gegen den Zionismus, etwa religiös-orthodoxe.
Besonders seit dem 7. Oktober 2023 und dem daraus resultierenden Krieg sowie der humanitären Katastrophe im Gazastreifen hat sich der Begriff Zionismus primär zu einem moralischen und polemischen Kampfbegriff entwickelt. Seine Verwendung, insbesondere in sozialen Medien, suggeriert oftmals, dass als „Zionisten“ bezeichnete Personen per se Individuen sind, die die Kriegsführung der israelischen Armee im Gazastreifen uneingeschränkt befürworten sowie das Leid der palästinensischen Bevölkerung ignorieren, relativieren oder gar billigen. Die ideologische Verwendung des Adjektivs „zionistisch“ führt zu einer weitreichenden und pauschalisierenden Stigmatisierung, die nicht nur Einzelpersonen, sondern auch Institutionen, Unternehmen oder Konsumgüter erfasst. In der öffentlichen Kritik an Israel oder vermeintlich damit in Verbindung stehenden Akteuren wird das Attribut „zionistisch“ oft unspezifisch vorangestellt. In weiten Teilen der propalästinensischen Bewegung wird der Zionismus dabei mit Faschismus, Rassismus oder sogar dem Nationalsozialismus gleichgesetzt, was einen schweren moralischen Vorwurf darstellt. Den Begriff des Zionismus auf solche Weise falsch und zur Feindmarkierung zu verwenden, ob bewusst oder nicht, hat nichts mit Kritik an der israelischen Regierung oder deren Kriegsführung zu tun, sondern muss als antisemitisch verstanden werden.
Quellen und weiterführende Links
1) Theodor Herzl, The Jewish State. An Attempt at a Modern Solution of the Jewish Question, New York: Dover Publications, 1989, S. 5.
2) Theodor Herzl, The Jewish State. An Attempt at a Modern Solution of the Jewish Question, New York: Dover Publications, 1989, S. 11.
3) Holz, Klaus / Haury, Thomas: Antisemitismus gegen Israel, Hamburg: Hamburger Edition, 2021, S. 115.
4) Gerber, J.: „Rote Assimilation“. Judentum und Kommunismus im mittleren und östlichen Europa (1917–1968). In: M. Börner, A. Jungfer & J. Stürmann (Hrsg.), Judentum und Arbeiterbewegung, Berlin/Boston: De Gruyter, 2018, S. 183–202., hier: S. 198.
5) Bundesverband Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus e.V. (Bundesverband RIAS), Antisemitische Vorfälle in Deutschland 2023 – Jahresbericht, Berlin 2024, S. 44, abrufbar unter: https://report-antisemitism.de/documents/25-06-24_RIAS_Bund_Jahresbericht_2023.pdf (Zugriff am 01.12.2025).