Rechtsextremismus: Mythos Wald: Antisemitismus & Ahnenkult
Grüne Wiesen und sanfte Täler, dunkle mystische Wälder und imposante Berge – untermalt von idyllischer Musik, Marschklängen oder traditionellen deutschen Volksliedern. Solche Videos verbreiten TikTok-Accounts mit Namen wie „Freiheitsklang“, oder „Deutscher Wanderbursche“.
Zwischen Naturaufnahmen marschieren meist junge Männer, gelegentlich auch Frauen, durch Wälder und über Felder. Sie tragen schwere Rucksäcke, feste Stiefel und oft kurz geschorene Haare – ein Erscheinungsbild, das stark an vergangene Epochen erinnert.
TikTok ist übersät mit Videos, die den „Deutschen Wald“ und die „Deutsche Natur“ als etwas Einzigartiges inszenieren. Manche zeigen ausschließlich epische Landschaftsaufnahmen, unterlegt mit Fraktur-ähnlichen Schriften und Schlagworten aus der „Heimatkunde“. Wiederkehrende Begriffe sind „Heimat“, „Naturverbunden“, „Stolz“, „Tradition“ oder „Nostalgie“ – eine Nostalgie, die sich auf eine Zeit richtet, in der Deutschland Krieg führte und uniformierte Männer durch dunkle Wälder marschierten. Es wird vom „Aktivwerden“ und von der „Rückkehr zur Natur“ gesprochen – stets im Namen von Heimat und Vaterland. Auf TikTok und vor allem in Telegram-Kanälen werben rechtsextreme Gruppen wie die Jungen Nationalisten, die Identitäre Bewegung, Der Dritte Weg oder Jugendgruppen wie „Jung & Stark“ und „Deutsche Jugend Voran“ für gemeinsame Touren. Dabei handelt es sich nicht um gewöhnliche Wanderungen oder harmlose Spaziergänge, sondern meist um „Leistungsmärsche“, „Gepäckmärsche“ oder „Gedächtnismärsche“. Die Bilder zeigen überwiegend junge Männer, die auf den ersten Blick an Pfadfinder erinnern, auf den zweiten eher an Soldaten.
In der Telegram-Gruppe der Jungen Nationalisten heißt es zum Beispiel: „Am Samstag, dem 14.12., ruft die nächste Wanderung durch die wunderschönen Landschaften Mittelsachsens – ein Ruf, der jene erreicht, die die Schönheit unserer Heimat im Herzen tragen”. In den nächsten Zeilen wird von Heimat, Volk und gemeinsamen Blut und Erbe, das bewahrt werden muss, geredet.
Bei TikTok dokumentiert ein Mitglied der Jungen Nationalisten seine Teilnahme an dem sogenannten „Ausbruch 60“ – einen ungarischen Gedenkmarsch von Budapest nach Szomor, an dem Neonazis aus ganz Europa teilnehmen. Der Marsch heroisiert den gescheiterten Ausbruchsversuch von Waffen-SS-, Wehrmacht- und ungarischen Einheiten aus der belagerten Stadt im Februar 1945.
Besonders auf TikTok dominieren bestimmte Sound-Schnipsel und O-Töne. Ein populäres Beispiel ist ein Zitat aus dem Roman Im Westen nichts Neues (1928) von Erich Maria Remarque, der die Schrecken des Ersten Weltkriegs schildert. Obwohl es sich um eines der bekanntesten Werke der Antikriegsliteratur handelt, wird der Ton auf TikTok meist romantisierend verwendet – unterlegt mit Bildern von Wäldern, Bergen, Deutschlandflaggen oder uniformierten jungen Männern. Ein weiterer beliebter Sound stammt aus einem Volkslied, das online als „Freikorps Lied“ geführt wird, mit der Zeile „Ein Landsknecht bin ich von Natur und dächt' an Krieg und Wandern nur“. Die jungen Männer scheinen sich mit diesem Bild identifizieren zu wollen: dem des kämpferischen Wanderers, der Heimat verteidigt und Krieg als Teil seines Selbstverständnisses begreift. Neben diesem Lied finden auch andere historische Volks- und Soldatenlieder aus dem Ersten und Zweiten Weltkrieg Verwendung, teils in Versionen des YouTube-Kanals „Karl Sternau“, der sich als Soldat verkleidet und jene Lieder im Wald performt.
Die aktuelle Inszenierung vom „Deutschen Wald“ und damit anknüpfender Naturverbundenheit in rechtsextremen TikTok und Telegram-Kanälen ist kein neues Phänomen sondern die direkte Fortsetzung einer fast zweihundertjährigen ideologischen Tradition – mit klarer Kontinuität zur nationalsozialistischen Propaganda. Der „Deutsche Wald” fungierte als Projektionsfläche für Heimat, Ordnung und vermeintlich „ursprüngliche“ deutsche Werte – abgesetzt von Globalisierung, Urbanisierung und Migration.
Bereits in der Romantik wurde der Wald zur Projektionsfläche für Sehnsucht, Ursprünglichkeit und nationale Identität. Mit dem Ersten Weltkrieg intensivierte sich die Symbolik. 1923 wurde der „Deutsche Wald“ e.V. gegründet, ein Verein zur „Wehr und Weihe des Waldes“, der unter anderem von Paul von Hindenburg unterstützt wurde. Dabei stand weniger der Naturschutz als vielmehr die nationale Identität im Vordergrund. Hermann Göring bezeichnete die Deutschen als „dem Waldlande entsprossen“. Ab 1936 ließ Heinrich Himmler im Rahmen der SS-Forschungseinrichtung „Das Ahnenerbe“ ein eigenes Projekt mit dem Titel „Wald und Baum in der arisch-germanischen Geistes- und Kulturgeschichte“ durchführen. Ziel des Projekts war es, eine angeblich „urgermanische Waldreligion“ zu rekonstruieren, um „wissenschaftlich“ zu belegen, dass der Wald der natürliche Kult- und Lebensraum der „arischen Rasse“ sei. Das Vorhaben war ein ideologisch motiviertes Fantasie-Konstrukt und zentraler Baustein der nationalsozialistischen Blut-und-Boden-Ideologie. Die Vorstellung, dass die Germanen die Vorfahren der heutigen Deutschen seien, ist bis heute ein Mythos, der insbesondere in rechtsextremen Kreisen Anklang findet. Dort geht man von der Überlegenheit einer „nordischen“ oder „germanischen Rasse“ aus, die als „unberührt“ und „rein“ imaginiert wird. Die rechtsextreme, geschichtsrevisionistische Zeitschrift Compact will zum Beispiel in ihrer „Geschichte“-Ausgabe von 2024 belegen, dass der kämpferische Geist „der Germanen“ den Grundstein für das deutsche Volk und die Nation gelegt habe, und bezeichnet die Germanen als „unsere Ahnen".
Die Vorstellung eines „blutsmäßigen Bandes“ zwischen dem deutschen Volk und dem Wald führte zur expliziten Forderung, diesen Wald als „deutsch zu erhalten“ – also vor jeder Art von „Fremdeinwirkung“ oder „Verunreinigung“ zu bewahren. Als Gegenbild wurden insbesondere Jüdinnen und Juden in der nationalsozialistischen Propaganda als „Wüstensprösslinge“ oder „heimatloses Nomadenvolk“ diffamiert, als Menschen ohne jede echte Bindung an Boden, Natur oder ehrliche Arbeit – angeblich parasitisch, entwurzelt und zerstörerisch. Der „ideale Deutsche“ dagegen wurde als tief im Boden verwurzelt und mit dem deutschen Urwald verbunden glorifiziert, gestählt durch körperliche Arbeit, Jagd und Wanderschaft. Diese künstliche Polarität war eines der zentralen Motive der Blut-und-Boden-Ideologie. Sie machte Antisemitismus für viele emotional greifbar und legitimierte ihn als „natürliche“ Abwehrreaktion zum Schutz des „deutschen Waldes“ und damit des deutschen Volkes selbst. Der „deutsche Wald“ wurde in der nationalsozialistischen Ideologie zum zentralen Identitätsmerkmal. Er stand für alles vermeintlich „Germanische“ und „Deutsche“ von der Urzeit bis zur Gegenwart und wurde als Inbegriff von Reinheit, Kraft und Ewigkeit verherrlicht. Er fungierte als ideologische Chiffre für ein modernitätsfeindliches, rassistisches und nationalistisches Denkmuster.
Auch jenseits der sozialen Medien ist der „deutsche Wald“ ein zentrales Thema der rechten Szene. Der Lesekreis „Aktion 451“, der nach dem dystopischen Roman „Fahrenheit 451“ von Ray Bradbury benannt ist und dem Umfeld der Identitären Bewegung zuzuordnen ist, richtet sich gezielt an Studierende. Hier wird besonders häufig Der Waldgänger von Ernst Jünger thematisiert, ein Werk, das auch über den rechtsextremen Verlag Antaios vertrieben wird. Auf dem Telegram-Kanal der Gruppe wird der Wald als ein Ort „der geistigen Reinheit und auch der Freiheit, selbst wenn die Außenwelt diese nur noch simuliert“ stilisiert. Diese ideologisch aufgeladene Vorstellung von Natur als einem Raum der Reinheit wird auch auf TikTok reproduziert. In Videos mit Titeln wie „Orte ohne Talahons“, „Wandern statt saufen und feiern“ oder „Schafft euch keine asozialen Ideale – werdet aktiv für Natur, Tradition und Leben!“ wird der „deutsche Wald“ als ein Ort inszeniert, der von sogenannten „Talahons“ (einem abwertenden und rassistisch verwendeten Begriff für junge Männer mit Migrationshintergrund) unberührt geblieben sei. Der Wald wird als ein Raum imaginiert, in dem „traditionelle“ Werte und Ideale weiterhin intakt seien, abgeschottet von „nicht-deutschen“ Einflüssen.
Die Instrumentalisierung der Natur durch den Nationalsozialismus wird von rechtsextremen und neonazistischen Gruppierungen aufgegriffen und fortgeführt. Die Rückbesinnung auf die Natur und die Naturverbundenheit werden als genuin „deutsche“ Eigenschaften stilisiert, über die sich eine Abgrenzung gegenüber einer pluralen Gesellschaft, insbesondere gegenüber Menschen mit Migrationshintergrund oder Vertreter*innen moderner Werte, vollzieht. Das Narrativ der „Verteidigung der Heimat“ lässt sich besonders wirkungsvoll anhand des Waldes inszenieren, der als symbolischer Ort dieser Heimat gilt und durch physische Präsenz in ihm bestätigt wird.