Halle-ProzessSchlusswort von Anastassia Pletoukhina

„Bei dem Attentat hat es mich als Jüdin getroffen. Aber die vom Angeklagten repräsentierte Gesinnung trifft mich auch als Migrantin, als Frau und als Teil der deutschen Gesellschaft (…).“

Sehr geehrte Damen und Herren,
Verehrte Richterinnen und Richter,
Anwältinnen und Anwälte der Nebenklage
Betroffene
Sehr geehrte Vertreter _innen der Öffentlichkeit
Seit dem 9. Oktober 2019 habe ich verschiede Phasen des persönlichen Zustandes, öffentlichen Verhaltens und Vertrauens in unsere Demokratie und meiner Einstellung zu dem kollektivierenden Begriff „WIR“ durchlaufen.
Die erste Phase war durch das Überleben gekennzeichnet. Wir haben den Anschlag überlebt und haben noch Monate danach das Adrenalin in unseren Adern gespürt, das immer wieder mich persönlich dazu getrieben hat, lauthals zu schreien: „Uns zermürbst du nicht, verfluchter Antisemitismus“, „Uns kriegst du nicht klein“ „Wir gehen stärker daraus, als wir davor waren“, „und nein! Wir haben keine Angst“- haben wir und auch ich laut in jedes uns vorgehalte Mikrophon fast wie ein Mantra immer wieder gesagt. Dann im persönlichen Setting unter einander waren es die gängigen Fragen: „Und, wie sieht es aus mit den Panikattacken? Ist es immer noch schwer in engen Plätzen zu sein? Kannst du inzwischen wieder gut schlafen? Hast du schon eine gute Therapeutin oder Therapeuten gefunden? Passt du denn auf dich gut auf?“ Zusammen haben wir geschwiegen und gelegentlich zusammen schweigend geweint.
Doch dann traten andere Phasen ein. Ein emotionales Tief, Realisierung dessen, was mit uns geschehen ist, Wiedereingliederung in den Alltag, die immer noch schrittweise vorangeht, Reaktionen der Nächsten und der Öffentlichkeit.
Ich habe es beobachtet, wie für einige Betroffene und auch für mich es persönlich schwer wurde, mit Freund_innen und auch mit den Eltern über die Geschehnisse vom 9. Oktober zu reden. Alle haben so unterschiedliche Gefühle gehabt, mit denen wir dann doch jeweils alleine waren. Ich suche immer noch Worte für meine Gefühlslage und wie sie sich in meinem Alltag manifestiert.
Doch am meisten verstörend fand ich den Versuch vieler meiner Bekannten so zu tun, als ob der Anschlag sich nicht ereignet hätte oder er nicht etwas war, was Menschen mit echtem Leben, echten Plänen für die Zukunft betroffen hätte. Als ob er nicht Personen betroffen hätte, die sie persönlich kennen. Irgendwann wurde mir klar, dass es die Angst ist, die diese Menschen stumm macht. Angst zu fühlen, Angst zu fragen, Angst zu hinterfrage: sich, die eigene Familiengeschichte, die Gesellschaft und das berühmte „Nie wieder“. „Ist das „Nie Wieder“ doch zu einem „Schon Wieder“ mutiert, während wir geschlafen haben?
Auch ich habe Angst vor dieser und vor allem vor der letzten Frage. Ich bin aber schon geübt, um genau diese Angst zu artikulieren. Ich habe eine Sprache dafür und Erfahrung sie zu benutzen. Ich weiß diese Fragen an mein Umfeld und die Gesellschaft zu stellen. Nun ist es an der Zeit, dass auch anderen diese Sprache für sich finden, sich ihren Ängsten stellen und es lernen, diese zu artikulieren, bevor sie zu Verleugnung und Hass mutieren.
Die Gruppe der Überlebenden des Anschlags auf die Synagoge ist im vergangenen Jahr medial und gesellschaftlich sowohl in Deutschland, aber auch darüber hinaus sehr aktiv und präsent gewesen. Auch ich habe dieses Sprachrohr genutzt, um genau über die soeben erwähnten Ängste zu sprechen. Doch nicht nur zu reden ist mir wichtig, sondern nach Handlungsansätzen zu suchen und Vorschläge zu machen, wie wir das Schulsystem optimieren können, wie die Polizei sich noch bessern kann, was von der Politik zu erwarten wäre. Es waren uns allen unterschiedliche Themen wichtig, doch eines hatten wir gemeinsam: die Wahrnehmung des Unrechtes zu verstärken, das sowohl uns als Juden und Jüdinnen widerfahren ist, aber auch uns als Migrant_innen, Frauen, Personen, die von Rassismus betroffen sind und als Mitgliedern der Gesellschaft, in der es möglich war. Für mich persönlich reihte sich dieses Ereignis in bereits seit Jahren bestehende Muster des rechten Terrors, das in Wellen mal aggressiver mal subtiler doch immer in meiner Wahrnehmung präsent war. Sowohl für mich als Jüdin aber auch für eine Person mit einem unmissverständlich slawisch klingenden Namen.
Ja, wir sind leider Expert_innen in Fragen Benachteiligung und Ausgrenzung. Wir haben als Bürger_innen dieser Gesellschaft schon 1000 Mal überlegt, was sich ändern kann, doch wer hörte uns wirklich zu?
Und doch schien der Anschlag vom 9.Oktober ein Wendepunkt zu sein. Leider wurde die Brisanz des rechten Terrors erst durch den Anschlag in Hanau vom 19.2.2020 wirklich deutlich und konnte nicht mehr auf die Einzelfälle reduziert werden.
Ich bin zwar Sozialwissenschaftlerin, aber auch sehr praktisch orientierte Sozialpädagogin und die wichtigsten Fragen sind für mich immer: Und jetzt? Was machen wir damit? Wie wenden wir die Erfahrung an, welche Schlüsse ziehen wir daraus und machen unsere Gesellschaft zu einem gerechteren Miteinander?
Dieser Prozess ist für mich eine Möglichkeit, geschlossen gegen die Unmenschlichkeit aufzustehen; eine Gelegenheit, einige verantwortungstragenden Systeme des Staates zu Empathie aufzufordern, gegen die Objektivierung der Betroffenen entgegenzuwirken, Kontinuität der Gewalt, des Wegschauens und des Relativierens auf allen gesellschaftlichen Ebenen aufzuzeigen.
Mir als in Deutschland lebende Person ist es bei dem Prozess nicht nur die Verurteilung des Angeklagten wichtig, sondern auch die Aufdeckung von strukturellen Schieflagen und Schwachstellen, die Sensibilisierung der Öffentlichkeit für die Alltäglichkeit des Antisemitismus, Rassismus, Chauvinismus und vor allem für den leider allgegenwärtigen Mangel an Empathie für einander, Mangel an Kritikfähigkeit und Reflexionsvermögen über das eigene Handeln, und beständige Angst zu fühlen und mitzufühlen, die eigene Familiengeschichte zu reflektieren. Ein ständiger Versuch sich hinter politisch korrekten Aussagen zu verbarrikadieren und just im selben Moment sie zu verraten, indem nicht entsprechend gehandelt wird.
Ja, es ist schmerzhaft, aber da müssen wir als Gesellschaft durch, wenn wir unsere demokratischen Werte erhalten wollen.
Wir sprachen von Erinnerungskultur, Lippenbekenntnissen der Politik und Dominanz der Gehorsamkeit der Obrigkeit gegenüber, die häufig an Stelle des Mitgefühls dem Individuum tritt.
Diese Erscheinungen sind maximal entfernt von dem Menschen und vom „Sehen“ eines Menschen. Dabei haben wir im Laufen des Prozesses feststellen können, wie komplex die Biografie eines Menschen ist und wie viele Ereignisse, Personen und Umstände dazu führen, dass einer zur derartigen Handlung greift, die im Zentrum dieses Prozesses steht. Ich bin Biografieforscherin und betrachte die Biografien der Einzelnen als eine individuelle Entwicklung im Kontext der Gesellschaft in der die Biografieträger_in lebt, sich bewegt und handelt. Eine Biografie kann ein Lackmusstreifen für die gesellschaftlichen Entwicklungen sein und uns genau zeigen, woran wir in der Gesellschaft in der wir leben, sind. Jede Biografie ist wichtig und auch die vom Angeklagten hat Regelmäßigkeiten aufgezeigt, die seine Handlung, seine Entwicklung, aber auch Einflüsse von außen und die Rahmenbedingungen erklären, die letztendlich zum Attentat führten. Die Rahmenbedingungen und die strukturellen Einflüsse sind aus meiner Sicht genau die Stellen, an denen wir gesellschaftlich ansetzen können und müssen.
Ich werde regelmäßig gefragt, was es für mich als Person mit einer jüdischen Biografie bedeutet jüdisch zu sein. Es bedeutet für mich jeden Tag mich zu entscheiden nach dem jüdischen Gesetz zu leben und im öffentlichen Raum als Jüdin aufzutreten. Ich entscheide mich jeden Tag Jüdin zu sein, was schöne Traditionen und eine starke Gemeinschaft bedeutet, aber auch diversen Ausprägungen von Ressentiments und Hass entgegenzutreten.
Mehrfach wurden die Nebenkläger_innen nach ihren Aussagen im Gericht gefragt, ob sie denn auch weiterhin in Deutschland leben bleiben möchten. Die Frage richtete sich dabei in erster Linie an jüdische Nebenkläger_innen, so als ob es nur für die Juden und Jüdinnen eine Frage der Möglichkeit ist. Beinahe eine Erwartung, dass sie es sich noch einmal überlegen. Oder die Angst, dass sie es sich noch einmal überlegen? Die berühmten gepackten Koffer.
Ich habe von diesem Prozess erwartet, dass er berührt. Menschen, die ihn entweder eng verfolgen oder auch nur ab und zu etwas in den Nachrichten oder auf Social Media mitbekommen, zum Mitfühlen und Nachdenken bringt, in welcher Gesellschaft wir leben, und welche Verantwortung jede und jeder von uns in dieser und für diese trägt.
Bei dem Attentat hat es mich als Jüdin getroffen. Aber die vom Angeklagten repräsentierte Gesinnung trifft mich auch als Migrantin, als Frau und als Teil der deutschen Gesellschaft, die so vielfältig und divers ist, dass jede und jeder von uns irgend einer Minderheit gehören kann, die unter Umständen für Benachteiligung markiert werden kann. Fragen wir dann alle Angehörige der Gesellschaft: „Wollt ihr nach dem Attentat in Deutschland bleiben“?
Ich spreche für mich und sage: Ja, ich will hier in diesem Land bleiben. Ich stelle aber einige Bedingungen. Und sie lauten: Zuhören, Ernstnehmen, reflektieren, Fehler bekennen und im Sinne der Demokratie handeln. Doch in erster Linie den Menschen sehen und keine Angst vor dem Mitfühlen haben.

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