Halle-ProzessSchlusswort von Christina Feist

„Deutschland hat ein Antisemitismus- und Rassismusproblem.“

Hoher Senat,
liebe Nebenkläger und Nebenklägerinnen, sehr geehrte Damen und Herren, 

Erlauben Sie mir einen kleinen Rückblick:
Ich habe in den letzten fünf Monaten seit Prozessbeginn immer wieder Nachrichten über Social Media erhalten. Am Anfang und über den Sommer hin, waren das Nachrichten, die die Ereignisse des 9. Oktober 2019 verharmlosten, meine Wahrnehmung und Einschätzung der aktuellen politischen Situation in Deutschland in Frage stellten.
Es waren aber auch ehrlich erstaunte Nachfragen von Menschen, die in Deutschland leben und einfach nicht glauben können, dass es um die Demokratie und die offene Gesellschaft in diesem Land wirklich so schlimm bestellt ist. Das sind Menschen, die nicht wahrhaben wollen, dass rechte Ideologien in Deutschland nach wie vor Verbreitung finden, dass Antisemitismus und Rassismus auch nach der Shoah noch immer tief in dieser Gesellschaft verwurzelt sind.
Vor wenigen Wochen dann, erhielt ich die erste offen antisemitische und frauenfeindliche Hassnachricht. Aus „Was wollt ihr eigentlich, euch Juden ist doch eh nichts passiert?“ wurde ganz schnell „Fick dich, scheiß Jüdin“.
Im Juli, nach dem ersten Verhandlungstag, hatte mir eine Userin auf Facebook die Frage gestellt, ob es denn in Deutschland wirklich so schlimm sei? Diese Frage möchte ich heute noch einmal beantworten: „Ja, ist es.“ 

Deutschland hat ein Antisemitismus- und Rassismusproblem. Das ist eine Realität, die wir nicht länger verweigern können. Das ist eine Erkenntnis, die spätestens dieser Prozess gebracht hat. Obwohl es diese rechten Ideologien nun schon lange gibt, wird deren Existenz dennoch immer wieder in Frage gestellt und deren Gefahr und Ausmaß verharmlost. 

Auch das immer wiederkehrende Narrativ vom sogenannten armen irren Einzeltäter wurde in diesem Prozess ein für alle mal widerlegt. Allerdings nicht durch die Aussagen der Beamten und Beamtinnen des Bundeskriminalamts (BKA) und der Polizei, sondern durch die geladenen Sachverständigen Karolin Schwarze, Journalistin; Benjamin Steinitz, Vorsitzender der Recherche- und Informationsstelle für Antisemitismus; und Matthias Quent, Gründungsdirektor des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft in Jena. 

Anfang September hatte ich in meiner Zeugenaussage darüber gesprochen, dass ich wegen des Umgangs der Polizei mit uns Betroffenen am Tag des Attentats selbst, jegliches Vertrauen in Deutschland und den Rechtsstaat verloren habe. Daran hat sich im Verlauf dieses Prozesses bisher auch nichts geändert. 

Der unglaubliche Unwille, mit dem die meisten der geladenen PolizeibeamtInnen sowie MitarbeiterInnen des BKA hier in den Zeugenstand getreten sind; und deren erschreckendes Unwissen hinsichtlich online Radikalisierung, das hier zu Tage getreten ist, haben mir die Hoffnung genommen, dass es auch besser oder zumindest anders geht. 

Ich habe in den letzten Monaten sowohl hier im Gerichtssaal als auch davor immer wieder über Verantwortung gesprochen.
Der Anspruch, dass Sie, hohes Gericht, wie auch Sie alle, die Sie in diesem Saal sitzen, stellvertretend für Deutschland – und zwar für PolitikerInnen und Gesellschaft – Verantwortung übernehmen, ist fast schon unverhältnismäßig. Aber eben nur fast. 

Denn genau so wie wir, sind auch Sie ein Teil Deutschlands. Wir, die Betroffenen, die Nebenkläger und Nebenklägerinnen in diesem Prozess, haben es auf uns genommen, trotz Trauma, trotz Müdigkeit und Erschöpfung, auszusprechen, was die Mehrheit da draußen nicht wahrhaben will: Der Angeklagte ist kein Einzeltäter. 

Das Attentat vom 9. Oktober 2019 war kein Einzelfall.
Antisemitismus, Rassismus und Frauenfeindlichkeit sind keine neuen Erscheinungen und erst recht keine Missverständnisse, sondern Teil einer rechtsradikalen Ideologie, die die Demokratie fortwährend gefährdet. 

Wer sich diesen Realitäten nicht stellt, bagatellisiert Gefahr und Ausmaß rechter Ideologie.
Wer diese Realitäten weiterhin stur verneint, verharmlost die Niederträchtigkeit eines Attentats, wie dem in Halle, und verhöhnt damit in letzter Konsequenz auch die Betroffenen und Hinterbliebenen. So kann es nicht weiter gehen. 

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