Halle-ProzessSchlusswort von I. B.

„Wer von denen, mit denen ich aufgewachsen bin, wäre auch zu so einer Tat im Stande?“

Ich habe mich der Nebenklage angeschlossen, weil ich verstehen wollte, wie es zu so einer Tat kommen konnte. Ich wollte verstehen, wie so ein durchschnittlicher Dorfjunge zu einem hasserfüllten Mörder werden konnte.

Als die Richterin mich bei der Zeugenvernehmung gefragt hat, ob ich mit dem Angeklagten verwandt oder verschwägert bin, habe ich geantwortet: „Nicht, dass ich wüsste“.

Denn die Wahrheit ist, unmöglich wäre das nicht. Die Familie von meinem Vater kommt aus dem Osten, viele leben noch da. Ein paar meiner glücklichsten Kindheitserinnerung sind bei Familienbesuchen in Wallendorf bei Merseburg entstanden. Oft habe ich mich während des Prozesses gefragt, ob wir uns vielleicht als Kinder über den Weg gelaufen sind. Die Welt ist ja bekanntlich oft kleiner als man denkt.

Ab meinem 12. Lebensjahr bin ich selber auf dem Land aufgewachsen, in Niedersachsen. Viele der Beschreibungen von dem Umfeld, in dem der Angeklagte aufgewachsen ist, kamen mir extrem bekannt vor.

In einem ähnlichen Umfeld bin auch ich aufgewachsen.

So oft während des Prozesses habe ich mich an meine eigene Jugend erinnert, an die ausgrenzenden Kommentare und Witze, die so alltäglich und normal waren, dass sie einem noch nicht mal mehr aufgefallen sind. Dieser sogenannte Alltagsrassismus hat sich durch alle Gesellschaftsgruppen gezogen, ob Punks, überzeugte Antifa oder bekennende NPD-Wähler: in ihrer Sprache haben sie sich alle nicht sonderlich unterschieden.

Und so habe ich mich während des Prozesses auch oft gefragt, wer von meinen Bekannten und früheren Freunden von damals wohl letztes Jahr vielleicht den Angeklagten unterstützt hat? Hätte einer von ihnen auch hier auf der Anklagebank sitzen können? Wer von denen, mit denen ich aufgewachsen bin, wäre auch zu so einer Tat im Stande? Kenne ich vielleicht den nächsten Attentäter schon? Und folglich: was hätte ich damals besser machen können, um es zu verhindern? Wann habe ich geschwiegen, wenn ich meine Stimme hätte erheben müssen? Habe auch ich stumm schweigend daneben gestanden, während der Nährboden für solche Taten kreiert wurde?

Hätte es überhaupt einen Unterschied gemacht, wenn ich öfters widersprochen hätte? Ich weiß es nicht.

Nach dem Abitur bin ich nach Israel gezogen. Nicht überraschend hat das zum Kontaktabbruch mit vielen geführt und auch Schwierigkeiten für meine Mutter bereitet, die sich plötzlich so vielen antisemitischen Kommentaren ausgesetzt sah, dass sie bestimmte Nachbarn nicht mehr besuchen konnte.

Wenn ich nach Hause fahre, habe ich kaum Kontakt zu jemanden außer meiner Mutter.

Das ist einfach die Realität heutzutage in Deutschland.

Vielleicht ist das ein Fehler, vielleicht sollte ich mich bewusst dem aussetzten und auch entgegensetzten, anstatt mich aus Selbstschutz diesem Umfeld zu entziehen? So oft während diesem Prozess habe ich mich gefragt, was das Umfeld des Angeklagten hätte besser machen können, um diese Tat zu verhindern. Ich fragte mich auch, was hätte ich damals besser machen können? Was kann ich jetzt besser machen?

Ich wünschte, ich könnte jetzt hier mit Antworten vor Ihnen stehen. Ich wünschte, ich könnte sagen, dass ich nach diesem langen Prozess verstehen könnte, wie sich der Angeklagte so entwickeln konnte. Ich wünschte, wir hätten seinen point-of-no-return gefunden: den Zeitpunkt, ab dem der Angeklagte soweit seiner Ideologie verfallen war, dass es kein Zurück mehr für ihn gab.

Und seinetwegen hoffe ich, dass er den noch nicht erreicht hat. Seinetwegen hoffe ich, dass er irgendwann fühlen wird, was er getan hat. Viele werden es naiv finden, aber ich hoffe aufrichtig seinetwegen, dass er Reue finden wird, das wünsche ich mir von ganzem Herzen für ihn.

Warum stehe ich dann vor Ihnen, wenn ich doch nur Fragen habe? Weil ich weiß, dass wir nur alle gemeinsam eine Antwort finden können – oder zumindest hoffe ich das.

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