Halle-ProzessSchlusswort von Jeremy Borovitz

„Mindestens ein Mensch ist hier schuldig. Aber Verantwortung trägt die ganze deutsche Gesellschaft.“

Der berühmte amerikanische Rabbiner Abraham Joshua Heschel schrieb im 20. Jahrhundert einmal über seine Arbeit für die Bürgerrechtsbewegung in den Vereinigten Staaten: „In einer freien Gesellschaft sind einige schuldig – aber alle tragen Verantwortung.“ Während dieses Prozesses habe ich zunehmend ein Verständnis dafür entwickelt, was das bedeutet. 

Vor dem Anschlag in Halle hatte ich Sorge, auf der Straße die Kippah zu tragen. Seit dem Anschlag in Halle trage ich die Kippah fast überall. Und ich werde jeden Monat mehrfach mit Antisemitismus konfrontiert: meist in Form hasserfüllter Kommentare unter Bezugnahme auf Stereotypen oder Israel oder – am häufigsten – den Widerhall des Nationalsozialismus, gelegentlich auch in Form von offen gezeigter Aggression.

Dabei muss ich sagen – es sind gar nicht diese Bemerkungen, die mir am meisten zu schaffen machen. Ja, es zermürbt mich. Manchmal zehrt es an den Kräften. Aber was mir wirklich keine Ruhe lässt, ist die Tatsache, dass mir nur ein Mal nach einer solchen Bemerkung jemand zu Hilfe gekommen ist.  

Ja, natürlich, manchmal ist niemand in der Nähe, der solche Äußerungen hören kann. Aber in den meisten Fällen habe ich doch das Gefühl, dass die Umstehenden so etwas gar nicht wahrnehmen wollen. Sie wollen nicht hineingezogen werden, schließlich ist es nicht ihr Problem. Außerdem ist ja gar nichts passiert. Denn es waren ja nur Worte – niemand wurde körperlich verletzt. 

In seinem Schlussvortrag stellte der Staatsanwalt die Frage: Was ist in der Erziehung des Täters schiefgelaufen? Ich möchte das so beantworten: Hat ihm denn jemals jemand deutlich gemacht, dass die Dinge, die er sagte, falsch waren? Ist ihm irgendjemand aus seiner Familie oder seinem Freundeskreis jemals im Hinblick auf seinen Hass, seine menschenverachtenden Überzeugungen entgegengetreten? Gewalt entsteht nicht einfach so aus dem Nichts – sie schwelt im Inneren, baut sich auf. Je mehr dieser Täter mit seinen Bemerkungen durchkam, desto näher kam er der aktiven Umsetzung seiner schrecklichen Ideologie und abscheulichen Überzeugungen. 

In meiner Zeugenaussage habe ich mich zum Teil auf das Vorgehen der Polizei an jenem Tag in Halle konzentriert – und zwar deshalb, weil es genau diese ganz normalen Deutschen – Polizeibeamte, Fahrgäste in der U-Bahn oder Besucher in einem Café – sind, die die Verbreitung von Antisemitismus, Rassismus und Hass beenden müssen.

Als an jenem Tag die Polizei kam und uns eher als Verdächtige denn als Opfer behandelte, machte sie aus den Ereignissen dieses Tages einen außerhalb ihrer Vorstellungswelt liegenden Ausreißer. Es war eine Erweiterung einer klassischen deutschen Strategie: „So etwas kann hier nicht passieren.“ – Genau in dem Moment, als es tatsächlich hier passierte. Die bloße Vorstellung des Anschlags an Jom Kippur war für die deutsche Gesellschaft unvorstellbar – vor, während und nach Halle. Dies steht in Verbindung mit der Weigerung der deutschen Gesellschaft, IHRE Verantwortung zu übernehmen. 

Mindestens ein Mensch ist hier schuldig. So viel ist offenkundig. Aber Verantwortung trägt die ganze deutsche Gesellschaft. Die Rechtsanwälte, Richter, Polizeibeamten in diesem Gerichtssaal, die Politiker, ja sogar, die Nebenkläger – wir alle sind verantwortlich dafür, eine bessere, gerechtere Gesellschaft aufzubauen. Eine Gesellschaft, die Antisemitismus, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Islamfeindlichkeit und Hass nicht nur politisch, sondern jederzeit bekämpft. Jeden Tag, jede Minute müssen wir unsere Stimme erheben: Wann immer wir etwas sehen, wann immer wir etwas hören, müssen wir uns äußern, müssen wir handeln. 

Ein weiteres Halle, ein weiteres Hanau können wir nur verhindern, wenn die guten und anständigen Menschen der deutschen Gesellschaft so etwas nicht noch einmal geschehen lassen. 

(Übersetzung aus dem Englischen)

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