Halle-Prozess: Schlusswort von Naomi Henkel-Guembel
„Was aus dem Elend jenes Tages erwuchs, ist Solidarität.“
„Es gibt eine Bedeutung jenseits der Absurdität“ – ich wünschte, diese Worte wären meine – aber es sind die von Rabbiner Abraham Joshua Heschel, einem der vielen großen jüdischen Denker und Rabbiner, die aus Deutschland fliehen mussten, um der Shoah zu entkommen. Jemand, der zu einem vehementen Kämpfer für die Menschenrechte wurde. Diese Worte – sie wurden schließlich zu meinen.
Was an diesem Tag, am 9. Oktober 2019 geschah, ist unverständlich. Es ist nicht verständlich, nicht für Sie, Senat. Nicht für uns die Betroffenen. Und nicht für die Familien der Verstorbenen. Nicht einmal für den Typen dort drüben. Oder um es anders zu sagen: Was an jenem Tag geschah, ist absurd – es widerspricht jeglicher Vernunft oder dem gesunden Menschenverstand.
Niemand, aber auch wirklich niemand, sollte um sein Leben fürchten – weder aufgrund von Hautfarbe, Herkunft, Identität, Glaubens oder wen diese Person liebt. Und in der Phantasie der Angeklagten wären wir alle ohnehin tot – und doch sind wir noch am Leben.
Wir. Wir sind am Leben. Und wir trauern um die verlorenen Leben von Kevin Schwarze und Jana Karin Lange. Diese verlorenen Leben – sie sind Teil der Narben, die wir von diesem Tag mit uns tragen.
Aber was tun wenn die Absurdität weitergeht? Wie eine Spirale windet sich die Absurdität immer tiefer und tiefer und die Zahl der Fragen wird immer größer und größer. Die Ereignisse von jenem Tag – sie prägen nun unseren Blick auf die Welt von jetzt an. Wie wir in den Zeugenaussagen gehört haben, hat jeder von uns diesen Tag anders erlebt – und doch haben wir alle gemeinsam, dass dieser Tag uns geprägt hat. Er hat uns gekennzeichnet. Und das tut er bis heute.
„Wie konnte es nur zu diesem Angriff kommen?
Wie konnte es überhaupt einen Zweifel daran geben, dass ich Opfer eines Mordversuchs war?
Wie kann ich von hier aus weitermachen?
Kann ich diesen Ort wirklich „mein Zuhause“ nennen?
Wie kann weniger als fünf Monate später ein weiterer Anschlag stattfinden, der neun Menschen das Leben kostete – ist die Kontinuität des Hasses und Rassismus nicht offensichtlich?
Wie kommt es, dass mein Schmerz nicht gesehen wird?“
Diese Fragen. Das sind nur einige wenige ausgewählte Fragen. Einigen von Ihnen werden sie vielleicht bekannt vorkommen. Wir sollten nicht nur danach streben, Antworten auf diese Fragen allein zu finden, sondern darüber hinaus nach Bedeutung suchen. Nach einem Sinn.
Aber wie macht man das?
רַ֡ק הִשָּׁ֣מֶר לְךָ֩ וּשְׁמֹ֨ר נַפְשְׁךָ֜ מְאֹ֗ד פֶּן-תִּשְׁכַּּ֨ח אֶת-הַדְּבָרִ֜ים אֲשֶׁר-רָא֣וּ עֵינֶ֗יךָ וּפֶן-יָס֙וּרוּ֙ מִלְּבָ֣בְךָ֔ כֹּ֖ל יְמֵ֣י חַיֶּ֑יךָ וְהוֹדַעְתָָּ֥ם לְבָנֶ֖יךָ וְלִבְנֵ֥י בָנֶֽיךָ׃
„(…) Hüte Dich und pass gut auf Dich auf, damit Du die Dinge, die deine Augen gesehen haben, nicht vergisst und sie Dir nicht aus deinem Herzen Zeit Deines Lebens; vielmehr teile sie mit deinen Kindern und deinen Kindeskindern.
(Deuteronomium 4,9)“.
Ich zitiere hier diesen Vers aus der Torah, weil ich der Meinung bin, dass er allgemein wahr ist – unabhängig davon, woran Sie glauben, woher Sie kommen und wirklich unabhängig von jeglichen biographischen Merkmalen. Wir alle tragen die Verantwortung, nicht zu vergessen.
Nicht zu vergessen, was in diesem Gerichtssaal im Zuge unseres Strebens nach Gerechtigkeit geschehen ist. Und für diejenigen, die diesen Tag miterlebt haben sind es die Ereignisse, die uns hier in diesem Saal haben versammeln lassen.
Jedoch muss man, um nicht zu vergessen, ihnen eine Bedeutung geben. Man muss einen Sinn finden.
Dieser Vers. Er zeigt im Wesentlichen, warum ich mich entschlossen habe, Nebenklägerin zu werden: Aus einem Gefühl der Verantwortung heraus – gegenüber der Marginalisierten der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft. Gegenüber meinen Großeltern, die zu eingeschüchtert waren, um ihr Recht einzufordern. Gegenüber den Menschen in meinen Communities und außerhalb von ihnen: Ich möchte, dass sie es wagen, Gerechtigkeit ein zu fordern, wo es Gerechtigkeit bedarf.
Es war zunächst nicht klar, ob die 50 Personen, die an diesem Tag mit mir in der Synagoge waren, ob wir, als Opfer eines Mordversuchs betrachtet werden würden. Über Monate waren wir in der Schwebe und in dieser Ungewissheit. Jetzt sind es Ismet Tekin und Aftax I., die sich in dieser Ungewissheit befinden – auch wenn die Beweise offensichtlich sind. Es zu bezweifeln, erscheint absurd, jenseits aller Vernunft, wie Illil Friedman, Onur Özata und Ismet Tekin selbst während des Prozesses und in ihren Schlusserklärungen immer wieder dargelegt haben.
Ich bin jedoch auch aus einem Gefühl der Verantwortung mir selbst gegenüber der Nebenklage beigetreten – ich möchte nicht, dass die Ereignisse des 9. Oktober 2019 über mich herrschen. Und mein Leben diktieren. Vielmehr wollte ich alle Facetten des Angriffs verstehen und wissen, was ihn ermöglicht hat – all das, um zu heilen. Ich möchte meinen Teil dazu beitragen, das Narrativ dessen, was an diesem Tag geschah, mitzugestalten.
Ich habe deshalb an fast allen Verhandlungsterminen teilgenommen. Ich habe dadurch gesehen, wie Rassismus, Xenophobie und Antisemitismus sich hier, in diesem Gerichtssaal, abgespielt haben. All diese unverblümten und offensichtlichen Äußerungen, aber auch die kleinen Handlungen, Interaktionen und Wortwechsel.
Diese Momente. Sie waren schmerzhaft, qualvoll und Kräfte zerrend. Nicht selten hinterließen sie ein Gefühl der Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. Sie weckten Erinnerungen an diesen Tag. Und die Frage, ob sich die ganze Mühe überhaupt lohnt. An solchen Tagen konnte man mich sehen, wie ich dem Verfahren zuhörte, während ich meine Seele mit den Worten des Buches Esh Kodesh, das heilige Feuer, von Rabbi Kalonymus Kalman Shapira beruhigte, der versuchte, in Zeiten großen Elends im Warschauer Ghetto bei seinen Anhängern Hoffnung zu wecken.
„Im Angesicht von Tod und Trauer habe ich die Kraft gefunden, Glückseligkeit zu finden und habe auch andere zur Freude inspiriert. Als andere meine Fassung und Seligkeit trotz so großer Schwierigkeiten beobachteten, fanden auch sie durch mein Beispiel innere Stärke angesichts ihrer eigenen Schwierigkeiten. Diese innere Stärkung wird selbst die Wirkung haben, Böses in Gutes zu verwandeln“.
– R‘ Kalonymus Kalman Shapira, Esh Kodesh, Predigt vom 21. September 1940.
Auch wenn wir unterschiedlichen Umständen befanden, so komme ich doch immer wieder auf diese Worte zurück. Diese Worte – sie treffen nicht nur auf mich zu, sondern sie spiegeln vielmehr die Stärke, die Entfaltung und die Solidarität wider, die viele der Mitkläger in den vergangenen Monaten an den Tag gelegt haben. Allen Widrigkeiten zum Trotz.
Wir haben einander zugehört und sind näher zusammengerückt. Wir haben Allianzen gebildet und stehen füreinander ein.
Was aus dem Elend jenes Tages erwuchs, ist Solidarität.
Wir lernen immer noch, wie wir mit diesen Narben leben können – an manchen Tagen gelingt es uns besser als an anderen.
Dieser Lern- und Heilungsprozess – er wird mit diesem Gerichtsprozess nicht zu Ende sein. Ich möchte bei dieser Gelegenheit meinen guten Freundin und Mitklägerin, Talya Feldman, zitieren:
„Einige von uns hatten die Chance, unserem Angreifer vor Gericht gegenüberzutreten, andere nicht. Einige von uns haben sich dafür entschieden, direkt mit diesem Übel zu sprechen, und einige haben sich dafür entschieden, auf unterschiedliche Weise zu sprechen – durch Familie, durch Musik, durch Schreiben, durch Kunst. (…) Einige von uns haben Gerechtigkeit in ihren verschiedenen Facetten gefunden, und einige von uns kämpfen immer noch für diese Facetten.
Die Gewalt, deren Zeuge wir geworden sind, sie lastet auf unseren Herzen, aber auch auf unseren Gemeinschaften und auf unserem Land.
Aber wir sind hier, wir bleiben hier, und wir werden weitermachen“.
Ich möchte da enden, wo ich begonnen habe:
„Es gibt einen Sinn jenseits der Absurdität. Seid Euch sicher, dass jede kleine Tat zählt, dass jedes Wort Kraft hat und dass wir alle unseren Teil dazu beitragen können, die Welt zu verbessern, trotz aller Absurditäten, aller Frustrationen und aller Enttäuschungen. Und vor allem denkt daran, dass der Sinn des Lebens darin besteht, das Leben so zu leben, als wäre es ein Kunstwerk“.
Diese Worte waren einst Heschels, doch nun wurden sie zu meinen.
Und ich hoffe aufrichtig, dass sie auch zu Ihren werden.
Dass sie zu Ihren werden – während wir versuchen dieses Böse in etwas Gutes zu wandeln und uns weiterhin für eine gerechtere und offene Gesellschaft einsetzen.