Halle-Prozess: Schlusswort von Talya Feldman
„In diesem Gerichtssaal, werde ich beständig daran erinnert, dass Recht und Gerechtigkeit nicht dasselbe sind.“
Mittlerweile haben wir die Plädoyers der Bundesanwaltschaft und einiger Nebenklagevertreterinnen und -Vertreter gehört, von dem Kiez-Döner, aus Wiedersdorf, Kai’s Garage, von denen, die ins Visier genommen und auf der Straße angefahren wurden, aus der Synagoge. Wir alle sind hier, um Gerechtigkeit in ihren verschiedenen Formen zu finden, für diesen Tag, dieses Böse, das wir alle auf unterschiedliche Art erlebt haben.
Ich habe mich der Nebenklage zu diesem Fall angeschlossen, als mir klar wurde, dass die Bundesanwaltschaft nicht beabsichtigt hatte, die jüdischen Überlebenden aus der Synagoge, also die vorsätzlichen Ziele dieses Anschlags, als Opfer von versuchtem Mord in die Anklageschrift aufzunehmen. Zumindest anfangs nicht.
Und jetzt, nachdem dieser Mann monatelang rassistische und antisemitische Ideologien von sich gegeben hat, wurden Aftax I., Ibrahim und Ismet Tekin immer noch nicht als Opfer versuchten Mordes anerkannt – obwohl es offensichtlich ist, dass sie wegen ihrer Hautfarbe zum Ziel wurden, wegen ihrer Herkunft und wegen ihres Glaubens. Es ist unfassbar entmutigend und niederschmetternd, das zu sehen – zu sehen, dass diese Gerechtigkeit sich noch nicht eingestellt hat.
Hier, in diesem Gerichtssaal, werde ich beständig daran erinnert, dass Recht und Gerechtigkeit nicht dasselbe sind. Wir wissen, was dieser Mann getan hat, seine Motive waren von Anfang an klar. Ich hoffe und vertraue darauf, dass sie ihn für den Rest seines Lebens einsperren. Aber er ist das Symptom einer rechtsextremen, „white supremacist“ Ideologie, die unsere Gesellschaft mit rasanter Geschwindigkeit durchdringt, in die Worte unserer Politikerinnen und Politiker und die Mainstream-Medien sickert – nicht nur hier in Deutschland, sondern auf der ganzen Welt. Wie Conrad R., einer meiner Mit-Nebenkläger, gesagt hat: Dieser Mann hat vielleicht an diesem Tag in Halle alleine gehandelt, aber er hat nicht alleine gedacht. Und auch jetzt denkt er nicht allein.
Keine der hasserfüllten Verschwörungstheorien, die dieser Mann von sich gegeben hat, ist neu. Wir haben jede einzelne schon gehört. Und wir wissen, wohin sie führen. Wir wissen, was passiert, wenn diese Propaganda und diese Sprache sich ungehemmt ausbreiten kann. Deutschland weiß es. Ich weiß es.
Den 9. Oktober habe ich überlebt, weil die Gemeinde in Halle so gut reagiert hat, sie und niemand sonst. Im Moment des Anschlags wusste ich, dass wir tun würden, was getan werden muss, um uns gegenseitig Sicherheit zu bieten, und deswegen hatte ich keine Angst.
Aber seit ich diesem Prozess beiwohne, habe ich Angst bekommen. Und ich bin wütend geworden. Wütend über die vielen Zeuginnen und Zeugen, die völlig unbehelligt ihre beiläufigen Einstellungen zum Thema Rassismus von sich geben, wütend über ihre Weigerung, aufzubegehren, wenn herabwürdigende Begriffe gegen Minderheiten benutzt werden, wütend über ihre eigene Beteiligung in Hassgruppen und an der Verbreitung antisemitischen Gedankenguts.
Wütend auf das BKA – das behauptet, es sei nicht seine Aufgabe, den Kontext zu verstehen, die offensichtliche Verbindung zwischen diesem Anschlag und anderen Formen der online und offline stattfindenden Radikalisierung herzustellen und dass damit letztendlich sagt, es glaubt nicht daran, uns alle in Zukunft vor Gewalt dieser Art zu schützen. Dass sie nicht glauben, dass White-Supremacy-Extremisten, die rassistisch und ethnisch motiviert sind, eine tödliche und beständige Bedrohung in unseren Regierungen, unseren Vollzugsbehörden, unserer Zivilgesellschaft sind – weil das nicht zu ihrer Aufgabe gehört. Und ich bin wütend auf die Polizeibeamten, die in ihren Zeugenaussagen achtlos mit rassistischen Beleidigungen und Stereotypen um sich werfen – und unverschämterweise alles aufzählen, was wir, die Überlebenden, falsch gemacht haben, statt die Schuld einzugestehen, die sie selbst daran hatten, dass so etwas passieren konnte. Wir haben nicht darum gebeten, dass uns das passiert. Und diese Wut, diesen Schmerz, diese Trauer können oder sollten wir nicht alleine ertragen. Diesen Schmerz müssen wir und sie alle ertragen.
Jana Karin Lange. Kevin Schwarze. Sagt ihre Namen. Möge der Verlust und der Schmerz ihrer Familien schwer auf euren Herzen und eurem Gewissen lasten.
An dieser Stelle möchte ich mich direkt an die Presse und die Medien wenden. Dieser Mann nutzt den Prozess als Plattform, um Hass zu verbreiten und zu weiterer Gewalt gegen uns alle aufzurufen. Er wird seine letzten Worte hier als Gelegenheit nutzen, andere zu inspirieren, so wie auch er inspiriert wurde. Machen Sie sich nicht zu Komplizen. Zitieren Sie ihn nicht. Nennen Sie seinen Namen nicht. Zeigen Sie sein Gesicht nicht. Wenn Sie es dennoch tun, tragen Sie die Schuld zu einem Kreislauf der Brutalität beizutragen, der hier und jetzt zu Ende sein muss.
Genug ist genug.