Aktuelles: Zwischen Bergpanorama und Bibelzitaten: Christfluencer und Antisemitismus
Auf TikTok und Instagram begegnen uns täglich Videos über Fitness, gesunde Ernährung oder Naturverbundenheit. Junge Männer filmen ihre Trainingsroutinen, präsentieren proteinreiche Mahlzeiten oder wandern mit der Kamera durch Wälder und Berge.
Viele dieser Inhalte orientieren sich an einem traditionell geprägten Bild von Männlichkeit und christlichen Familienwerten und erzielen damit enorme Reichweiten. In diesem Umfeld entsteht auch eine neue Szene christlich-konservativer Influencer, die ihre Lifestyle-Präsenz zunehmend mit politischen Botschaften verknüpfen. Was auf den ersten Blick nach spiritueller Orientierung und Selbstdisziplin aussieht, verschmilzt bei genauerem Hinsehen mit rechtsextremen Narrativen und antisemitischen Verschwörungserzählungen.
Auffällig ist, dass viele dieser sich als römisch-katholisch verstehenden Influencer ihre religiösen Botschaften häufig mit einem grundlegenden Misstrauen gegenüber Politik und Medien verbinden. Immer wieder taucht die Frage auf, wer eigentlich „hinter den Kulissen“ die Fäden ziehe oder die Bevölkerung manipuliere. Diese Form der Andeutung ist tief in der Tradition antisemitischer Weltverschwörungserzählungen verwurzelt. Sie arbeitet mit dem Bild einer unsichtbaren Macht, die angeblich Finanzsysteme, Regierungen oder internationale Konflikte steuere. In den Videos erscheinen dafür bekannte Codes wie der Hinweis auf „die Rothschilds“ oder „Bänker". In anderen Fällen wird der sogenannte „Early-Life-Check“ empfohlen, also ein Blick in den biografischen Abschnitt einer Wikipedia-Seite, um herauszufinden, ob eine Person jüdisch ist. Diese Praktiken sind klar antisemitisch und dienen dazu, Jüdinnen und Juden als manipulative Akteure zu markieren, die eine globale Machtposition innehätten.
Einige der Influencer verbinden diesen antisemitisch codierten Machtbegriff mit einem christlich aufgeladenen Selbstbild. Häufig lautet die Botschaft, ein wahrer Christ lasse sich nicht von „Finanzeliten“ oder „globalen Institutionen“ bedienen oder beherrschen. Es wird suggeriert, dass Glaubensstärke und Männlichkeit Immunität gegen eine angebliche Steuerung von außen verleihen. Einzelne Akteure gehen noch weiter und sprechen von satanischen Kräften, die die Welt unterjochten. Der Gedanke, Jüdinnen und Juden seien mit dem Teufel verbündet, gehört zu den ältesten antijudaistischen Erzählungen des Christentums und formte über Jahrhunderte religiös motivierte Feindbilder. Schon in den ersten Jahrhunderten des Christentums kursierten Darstellungen, die Jüdinnen und Juden als Verräter Jesu oder als vom göttlichen Heil ausgeschlossen bezeichneten. Im Mittelalter verfestigten sich zusätzlich Legenden über angebliche Ritualmorde oder andere grausame Praktiken. Solche Vorstellungen leben in modernen Verschwörungstheorien fort, oft, ohne dass diejenigen, die sie verbreiten, ihre historischen Wurzeln kennen.
In der deutschsprachigen Szene lassen sich verschiedene Profile beobachten, die sich gegenseitig verstärken. Häufig sind sie miteinander vernetzt, treten gemeinsam in Podcasts auf, zitieren einander oder beziehen sich in ihren Beiträgen aufeinander. Gemeinsam reproduzieren sie ein Weltbild, in dem christlicher Glaube, Nationalstolz und Selbstoptimierung mit einer Ablehnung des politischen Systems verschmelzen. Die Grenzen zwischen konservativem Lebensstil und extremistischer Ideologie verwischen dabei zunehmend. In den meisten Fällen geraten auch queerfeindliche Botschaften, rassistische Narrative über Migration oder Angriffe auf feministische Positionen in den Mittelpunkt. All diese Elemente verbinden sich zu einem ideologisch aufgeladenen Gesamtbild, das sich als vermeintliche Gegenkultur inszeniert und dabei immer wieder ein antisemitisches Weltbild vermittelt.
Neben den jungen katholischen Männern, die sich vor allem durch Disziplin und Stärke inszenieren, treten auch zunehmend evangelikale Influencer*innen zum Vorschein, welche insbesondere traditionelle Familienbilder verbreiten und hierbei vor CSDs, queeren Menschen und der “Gender-Ideologie” warnen. Viele davon sind mit bekannten rechten Akteuren vernetzt. Auch hier greifen einige antisemitische Motive auf, etwa die Warnung vor einem angeblich allgegenwärtigen „Satanismus“. Solche Deutungen dienen als religiöser Resonanzraum für Verschwörungsnarrative, die Jüdinnen und Juden historisch als Gegenkraft zu einer christlich begründeten Ordnung markiert haben. Wenn Akteure behaupten, sie würden mutig aussprechen, welche dunklen Mächte die Welt wirklich lenkten, knüpfen sie unbewusst oder bewusst an genau diese Traditionen an.
Warum dieser Content für junge Menschen so attraktiv ist, lässt sich zum Teil mit seiner Inszenierung erklären. Die Mischung aus Naturromantik, Disziplin und spiritueller Suche erzeugt eine vertraute und positive Atmosphäre. Politische und weltanschauliche Aussagen tauchen darin eher beiläufig auf und wirken dadurch weniger radikal. Die Influencer präsentieren sich als authentische Vorbilder, die Klarheit, Stärke und Entschlossenheit verkörpern. In diesem Umfeld geraten antisemitische Codes und rechtsextreme Deutungen schnell zu Randbemerkungen, die nicht wie Ideologie, sondern wie persönliche Einsichten erscheinen.
Doch hinter der ästhetischen Oberfläche steht ein klares Muster. Viele dieser Akteure knüpfen an jahrhundertealte christlich-antijudaistische Traditionen an und erneuern sie mit modernen Mitteln. Die Behauptung, Jüdinnen und Juden kontrollierten Finanzsysteme oder politische Entscheidungen, ist nicht neu, sondern folgt einer langen Linie religiöser und politischer Feindbilder. Die Kombination aus Social-Media-Präsenz, jugendlicher Ansprache und religiöser Aufladung macht diese älteren Motive jedoch für eine neue Zielgruppe zugänglich. Wer heute die Frage stellt, wer eigentlich „das System“ kontrolliere, und mit codierten Anspielungen auf „Eliten“ oder „Finanzmächte“ arbeitet, wiederholt im Kern dieselben Denkfiguren, die bereits vor Jahrhunderten zur Ausgrenzung und Verfolgung von Jüdinnen und Juden geführt haben.