„Ich habe ein Leben vor dem 9. Oktober und eines danach.“

Sechs Zeug*innen sagen zu den Taten des Angeklagten in Wiedersdorf aus. Er hatte dort auf zwei Menschen geschossen und ein Fluchtauto erpresst. Die Betroffenen kritisieren die Polizei für das Verhalten am Tattag und schildern, wie sie als Opfer des Anschlags oftmals vergessen würden.

Am 23. September 2020 sagten am 15. Verhandlungstag des Halle-Prozesses insgesamt sechs Zeug*innen aus. Primär ging es dabei um den Zeitraum, in dem der Angeklagte während seiner Flucht versuchte, sich ein neues Auto zu beschaffen. Mehrere der Zeug*innen kritisierten die Arbeit der Polizei und aufdringlicher Journalisten sowie die ausbleibende Unterstützung nach der Tat. Ein der Nähe von Landsberg angeschossenes Paar wurde ebenso befragt wie ein Kfz-Meister, ein Taxiunternehmer sowie dessen Bruder, von denen der Angeklagte einen Fluchtwagen erpresst hatte. Der Tag endete mit der Inaugenscheinnahme von Asservaten vom Tatort sowie aus dem Auto des Attentäters, die ein Berliner LKA-Beamter vorstellte. 

Jens Z. berichte als erster Zeuge des Tages, dass er am 9. Oktober 2019 von seiner Frau abgeholt worden sei und sich dann mit Gartenarbeiten im Hof seines Elternhauses beschäftigt habe. Von den Geschehnissen in Halle habe er nichts mitbekommen. Er habe während der Gartenarbeit ein Klopfen an der Hoftür vernommen, woraufhin er das Hoftor geöffnet und direkt in den Lauf der Waffe des Attentäters geblickt habe. Dieser habe ihn aufgefordert, ihm den Schlüssel für sein vor der Tür parkendes Auto auszuhändigen. Jens Z. habe erwidert, dass er diesen nicht bei sich trüge. Daraufhin habe der Attentäter ihn noch einmal nach dem Schlüssel gefragt. Als er wieder verneinte, habe dieser begonnen, an seiner Waffe „zu spielen“. Herr Z. habe versucht sich wegzudrehen und zu entkommen. Dabei habe er gemerkt, dass Blut aus seinem Nacken ströme, da der Attentäter ihn angeschossen habe. Er habe versucht zum Haus zu gelangen, um seiner Frau zu sagen, dass sie drinnen bleiben solle, allerdings sei diese in diesem Moment zur Tür herausgekommen, woraufhin der Attentäter ihr in die Hüfte geschossen habe. Dagmar M., die Lebensgefährtin von Jens Z., sei sofort zu Boden gefallen. Der Attentäter habe sie angesprochen und nach dem Autoschlüssel gefragt. Als auch sie verneinte, habe der Angeklagte an seiner Waffe hantiert und sei wiederum auf Jens Z. zugelaufen. Der Angeklagte habe etwas in seinen Taschen gesucht, es scheinbar nicht gefunden und habe dann den Hof verlassen.

Jens Z. habe dann alle Türen verschlossen und versucht die starke Blutung seiner Wunde zu stillen. Seine Frau habe versucht, die Polizei zu rufen. Diese habe seiner Frau am Telefon nicht geglaubt, was passiert sei und dass sie Hilfe bräuchten. Erst als der Nachbar zu Hilfe gekommen sei und der Notrufzentrale am Telefon verdeutlicht habe, was geschehen sei, habe die Polizei Hilfe zugesagt. Es sei daraufhin ein Polizist in einem Streifenwagen zum Grundstück gekommen. Dieser habe dann die starken Verletzungen von Jens Z. mit „Ach, du Scheiße!“ kommentiert und weitere Hilfe angefordert. Erst dann habe er Dagmar M. wahrgenommen und nochmals weitere Hilfe angefordert. Jens Z. sei mit dem Rettungshubschrauber abgeholt und am gleichen Tag notoperiert worden. Daran habe sich ein 10-tägiger Krankenhausaufenthalt angeschlossen.
Bis heute leide er physisch und psychisch sehr unter der Tat, berichtete Jens Z. Therapeutische Hilfe konnte nur sehr schleppend durch die Betroffenen selbst organisiert werden, da es wohl immer wieder zu Auseinandersetzungen um die Zuständigkeit gekommen sei. Erst seit Sommer 2020 hätten er und seine Frau derartige Hilfe in Anspruch nehmen können. Auch bei der Bewältigung des Alltags stehe ihnen der Staat nicht mit Hilfe zur Seite, sie würden diese allein im familiären Kreis organisieren.

Dagmar M.s Aussage deckte sich mit der ihres Mannes. Sie habe am 9. Oktober plötzlich ein lautes Geräusch vernommen und habe daran gedacht, dass die Motorsäge, mit welcher ihr Mann im Hof gearbeitet habe, explodiert oder die Kette der Säge gerissen sei. Daraufhin sei sie runter zu ihrem Mann geeilt. Dieser sei ihr blutüberströmt entgegen gelaufen gekommen. Kurz darauf sei sie selbst zu Boden gegangen und habe nicht sofort gemerkt, warum das passiert sei. Dann erst habe sie den Angeklagten mit seiner Waffe auf sie zulaufen sehen. Der Attentäter habe ihr in die Hüfte geschossen. Er sei sehr nah zu ihr gekommen und habe mit „weinerlicher Stimme“ nach dem Autoschlüssel gefragt sowie auf seine Verwundung verwiesen: “wie so ein Muttersöhnchen, wie so ein Weichei.” 

Als sie in der Notrufzentrale anrief, habe man ihr nicht gleich geglaubt. Sogar ein BILD-Reporter sei später vor der Polizei und dem Krankenwagen bei ihnen gewesen. “Da fühlt man sich schon ganz schön verarscht.“, gibt Dagmar M. an. Als sie endlich im Krankentransport gesessen habe, habe ein Polizeibeamter die Tür aufgerissen und sie unhöflich nach dem Autoschlüssel gefragt. Sie schilderte den Eindruck, dass, wenn sie ihn nicht dabeigehabt hätte, der Polizist sie „auch noch aus dem Krankentransport gezottelt hätte“. Auch Dagmar M. habe notoperiert werden müssen, die Schusswunde sei nur sehr langsam geheilt. Seit dem Attentat gehe es ihr körperlich und psychisch sehr schlecht. Ihren Alltag könne sie nicht mehr normal leben: “Ich habe ein Leben vor dem 9. Oktober und eines danach.” Von staatlicher Seite habe sie keinerlei Unterstützung bekommen. Lediglich der “Weisse Ring“ sowie einzelne Synagogen-Besucher hätten ihnen Hilfen zukommen lassen. Sie habe das Gefühl, von der Öffentlichkeit vergessen worden zu sein. Auch die geplante öffentliche Gedenkveranstaltung am 9. Oktober 2020 in Halle habe Landsberg nicht als Tatort angegeben. Es sei lediglich von zwei Tatorten die Rede gewesen. Aufgrund des Engagements des “Weissen Rings” sei dies nun nachträglich geändert worden.

Auch der Angeklagte meldete sich am 15. Verhandlungstag zu Wort. Er habe nicht den Plan gehabt, das Paar zu erschießen. Ihm sei es nur um das Auto gegangen. Geschossen habe er, um ernst genommen zu werden. Er hätte genügend Munition dabeigehabt, um noch einmal zu schießen. Aber nachdem er den Eindruck gewonnen habe, dass die beiden wirklich keinen Schlüssel für das Auto bei sich trügen, habe er abgelassen und das Grundstück mit geladener Waffe verlassen.

Im Anschluss an Dagmar W. sagte der Kfz-Meister Kai H. aus. Er habe am Tattag zwei Reifenwechsel an zwei Taxen vorgenommen, als er plötzlich zwei Knalle gehört habe. Er habe die Entfernung auf 200 bis 250 Meter geschätzt. Daraufhin sei er zur Straße gucken gegangen und habe den Tatverdächtigen auf den Hof gehen sehen. Kai H. habe gedacht, dass jemand von der Leiter gefallen sei und dieser helfen wollen würde. Das habe ihn beruhigt und veranlasst, seiner Tätigkeit weiter nachzugehen. Dann sei Christian W. zu ihm gerannt gekommen und hätte gerufen: „Kai, Kai – da ist jemand“. Vor dem offenstehenden Tor der Werkstatt habe der Attentäter gestanden. Kai H. habe gedacht, dieser bräuchte Hilfe und die die Verletzung sowie das Gewehr gesehen. Aber auch hier habe er nicht an ein Verbrechen gedacht. Er habe gedacht, der Angeklagte hätte sich mit der Pistole verletzt und bräuchte nun Hilfe. Auf das Hilfsangebot habe dieser dann aber geantwortet: „Ich bin ein gesuchter Schwerverbrecher und habe da drüben zwei Menschen erschossen. Das möchte ich mit euch nicht machen. Ich brauche ein Auto.“ Der Attentäter habe auf das Taxi gedeutet, woraufhin Kai H. den Besitzer Daniel W. aufgefordert habe, den Schlüssel auszuhändigen. W. habe diese getan. Der Angeklagte habe zwei 50 Euro Scheine auf den Boden geworfen und darum gebeten, die Polizei erst in zehn Minuten zu verständigen. Zu keinem Zeitpunkt habe er mit der Waffe auf Kai H. gezielt, aber er habe ihm zu verstehen gegeben, dass er es tun würde, würde er nicht kooperieren.

Daniel W. habe im Anschluss gesagt, er könne sein Taxi mit Hilfe einer GPS-Software orten und würde dieses nun mit dem anderen Taxi verfolgen. Kai H. hingegen sei zum Nachbargrundstück gerannt, um zu sehen, ob er dort helfen könne. Es habe ihn sehr erleichtert, dass Jens Z. und Dagmar M. noch am Leben waren. Er habe einen Krankenwagen gerufen sowie Erste Hilfe geleistet. 

Nach der Tat habe ihn seine Familie emotional auffangen können. Trotzdem seien Ängste geblieben. Er habe einen Schwarzen Gesellen, der an diesem Tag krank geschrieben gewesen sei. Kai H. wolle sich nicht ausmalen, was passiert wäre, wäre dieser an dem Tag vor Ort gewesen. Er habe eine Zeitlang nach der Tat nicht arbeiten gehen können. Einerseits wäre er emotional nicht imstande gewesen, andererseits habe sein Handy pausenlos geklingelt. Der Name der Werkstatt sei öffentlich geworden und seine Handynummer sei im Internet zu finden, sodass die Presse immer wieder Interviews mit ihm habe führen wollen.

Als nächstes sagte der Taxiunternehmer Daniel W. aus. Nach der Schilderung der Geschehnisse an der Autowerkstatt berichtete er, wie der den Angeklagten mit dem Auto verfolgt hatte. Der mutmaßliche Attentäter sei ganz normal, ruhig und nicht aggressiv gefahren. Als Daniel W. eine Polizeistreife am benachbarten Ortseingang antraf, habe er dort gehalten, um die Verfolgung an sie zu übergeben. Die Polizisten erwiderten jedoch, dass sie Wachposten wegen der Vorfälle in Halle seien und den Ort nicht verlassen können. Daniel W. drängte noch einmal und habe deutlich gemacht, dass das Taxi geklaut sei und der Fahrer zwei Menschen erschossen habe. Von den Vorfällen in Halle habe Daniel W. bis zu diesem Zeitpunkt noch nichts gewusst. Er habe den Wagen mittels eines Telefonates mit dem Autohersteller orten lassen. Dabei sei er sei sehr aufgeregt gewesen und habe versehentlich das Telefonat vorschnell beendet. Dies habe die Polizisten sehr verärgert, die ihn daraufhin angeschrieben hätten, dass er sich nicht in ihre Angelegenheiten zu mischen habe. 

Bis heute habe er keine Anerkennung durch die Polizei oder ermittelnden Behörden für seine Anstrengung bei der Festsetzung des Täters erhalten. Er habe zwar einen Brief vom Bundesopferbeauftragten mit dem Angebot einer Beratung in Berlin oder Halle erhalten, aber auf die Bitte nach Halle zu kommen, habe Daniel W. keinerlei Antwort mehr bekommen. Auch um einen Verdienstausfall für das bis Dezember 2019 beschlagnahmte Taxi müsse er bis heute gerichtlich streiten.

Neben Daniel W. war auch dessen Bruder Christian W. am Tattag in der Werkstatt anwesend. Vor Gericht schilderte er, wie der Angeklagte seine Waffe direkt auf seinen Kopf gerichtet habe. Er, W., habe zu diesem Zeitpunkt noch gedacht, alles sei ein Scherz und würde sich jeden Moment auflösen. Der Attentäter habe dann aber darauf verwiesen, dass er ein Schwerverbrecher sei, der gerade zwei Menschen getötet habe. Christian W. habe die ganze Situation wie in einem Art Tunnel wahrgenommen. Besonders furchtbar sei gewesen, dass er lange nicht gewusst habe, wie es seinem Bruder gehe und ob bei diesem alles in Ordnung sei. 

Am Ende des Verhandlungstages berichtete ein Berliner LKA-Beamte, der die Ermittlungen in Sachsen-Anhalt unterstützt hatte, von Spuren an dem Tatort bei Landsberg und im Fluchtwagen. Auch der Angeklagte äußerte sich noch einmal zu diesen.

Die Verhandlung wird am Mittwoch, 30. September, fortgesetzt.