Nebenklage beginnt mit Schlussvorträgen

Die Schlussvorträge der Nebenklage beginnen. Neun Nebenklagevertreter*innen halten ihre Plädoyers. İsmet Tekin, der den Angriff auf den “Kiez Döner” überlebte, ergreift selbst das Wort.

Am 1. Dezember 2020, dem 22. Verhandlungstag im Halle-Prozess, hielten neun Vertreter*innen der Nebenklage ihre Schlussvorträge. Sie schlossen sich weitestgehend den Forderungen der Bundesanwaltschaft an, kritisierten aber teils scharf dessen unzureichende Bemühungen, alle Mordversuche, die im Rahmen der Tat stattgefunden hätten, aufzuklären. Ein Überlebendes des Anschlags, İsmet Tekin, ergriff selbst das Wort.  

Die Mutter des getöteten Kevin S. habe es an diesem Tag zum ersten Mal geschafft, der Verhandlung beizuwohnen, sagte der Nebenklagevertreter Christian Eifler zu Beginn des Verhandlungstages. Zu stark seien die Folgen des Anschlags und die Belastung durch die Hauptverhandlung. Aus Rücksicht auf seine Mandantin habe er sich für einen kurzen Schlussvortrag entscheiden, so Eifler. Mit zitternder Stimme und sichtlich ergriffen sprach er den Angeklagten direkt an. Dieser habe “einer Mutter auf ekligste, perverseste Art und Weise ihr Kind genommen”. Abschließend bat RA Eifler das Gericht, die gesetzlichen Möglichkeiten auszuschöpfen, um den Angeklagten “für den Rest seines Lebens ins Gefängnis zu stecken”. 

Mit den letzten Worten des Sohnes seines Mandanten “Nein, bitte nicht. Bitte nicht. Nein. Bitte, bitte nicht. Nein, bitte nicht.” beendete Rechtsanwalt Erkan Görgülü sein Plädoyer, das sich an Eiflers anschloss. RA Görgülü, der den Vater von Kevin S. vertritt, hielt sich ebenfalls kurz, stellte keinen konkreten Antrag und schloss sich “zum Großteil” den Forderungen des Generalbundesanwalts (GBA) an. Das Gericht bat er, dass der Angeklagte “nie wieder auf freien Fuß” komme. Für unzutreffend hielt RA Görgülü die Einschätzung des GBA, dass es sich bei den Taten gegen İsmet Tekin und Aftax Ibrahim nicht um versuchte Morde gehandelt habe. In die Richtung von Tekin hatte der Angeklagte in der Nähe des Kiez-Döners geschossen und Ibrahim auf der Flucht mit seinem Auto angefahren und verletzt. Beide Taten hatte die Generalbundesanwaltschaft in der Anklage nicht als versuchten Mord gewertet und diese Einschätzung auch im Schlussvortrag aufrechterhalten.

RA Onur Özata, Nebenklagevertreter der Brüder İsmet und Rıfat Tekin, schloss sich der Kritik Görgülüs daran an. Er sagte, die Bundesanwaltschaft habe “alles getan,” um seinen Mandanten İsmet Tekin “aus dem Verfahren rauszuhalten” und kritisierte, dass sie weiterhin an der “falschen Einschätzung” festhalte. Der Angeklagte habe zumindest bedingt vorsätzlich gehandelt und die Tat sei als Mordversuch zu werten. RA Özata warf der Bundesanwaltschaft vor, “dem Terroranschlag zugrundeliegenden Feindbilder” vernachlässigt zu haben und dem Angeklagten “auf den Leim gegangen” zu sein, indem sie die Anklage im Wesentlichen auf dessen Aussagen gestützt habe und weder vor noch während des Hauptverfahrens den Willen gezeigt habe, weitere Aspekte der Taten aufzuklären. 

Der Angeklagte habe die Tat zwar alleine durchgeführt, sei aber “kein Ausgegrenzter, sondern aus unserem Schoße hervorgegangen”, sagte RA Özata und verwies auf Aussagen des ehemaligen SPD-Politikers Thilo Sarrazin, des Polizei-Gewerkschafters Rainer Wendt sowie von Politikern der AfD. Darüber hinaus hätten jüngste Ergebnisse der Leipziger Autoritarismus-Studie gezeigt, dass rechtsextreme Einstellungen in der deutschen Bevölkerung weiterhin sehr verbreitet seien.

Im Namen seiner Mandanten bedankte sich RA Özata für die Unterstützung durch die Mobile Opferberatung, die Jüdischen Studierendenunion (JSUD) sowie bei all denen, die sich solidarisch gezeigt hätten.

Abschließend zitierte RA Özata den Juristen Fritz Bauer: “Ich glaube, Deutschland würde aufatmen, und die gesamte Welt und die Hinterbliebenen derer, die in Auschwitz gefallen sind. Und die Luft würde gereinigt werden, wenn endlich mal ein menschliches Wort fiele.” Er glaube, Bauer wäre mit diesem Verfahren zufrieden gewesen, sagte Özata, „denn dieses Verfahren war auch ein menschliches.“

In einer kurzen Stellungnahme bedankte sich İsmet Tekin beim Gericht und sagte, dass er nicht respektiere, was der Bundesanwalt über die Schüsse auf ihn gesagt habe. Wenn “der Feigling”, wie Tekin den Angeklagten nannte, ihn nicht habe töten wollen, wisse er nicht, warum er unter massiven Alpträumen und Schmerzen leide.

Scharfe Kritik am GBA übte auch Ilil Friedman, Nebenklagevertreterin von Aftax Ibrahim: Sie widersprach in ihrem Plädoyer der “völlig abwegigen Annahme”, dass es sich bei dem Angriff auf Ibrahim lediglich um einen Verkehrsunfall gehandelt habe. Der Angeklagte habe Juden, Muslime sowie Schwarze töten wollen und die Tat gegen ihren Schwarzen Mandanten sei eine Fortsetzung des Anschlags gewesen. Bei der Beurteilung des Sachverhalts würde sich ein Vergleich mit verschiedenen Raser-Urteilen der letzten Jahre, bei denen Fahrer wegen Mordes verurteilt worden waren, geradezu aufdrängen. Es sei, so RAin Friedman, nicht nachvollziehbar, warum bei diesen ein bedingter Vorsatz angenommen werde – bei der Tat eines bekennenden rassistischen Terroristen und Mörders die Tötungsabsicht jedoch verneint werde. Es sei “zweifelhaft, ob jemals ein ernstes Interesse bestand,” diese Tat als Mordversuch aufzuklären.

Im Gegensatz zum BKA sei die Sachverständige Karolin Schwarz am 19. Verhandlungstag in der Lage gewesen, Einblicke in anonyme Onlineforen und Imageboards zu geben, welche eine “herausragende Rolle” für den Angeklagten gespielt hätten, sagte RAin Kristin Pietrzyk in ihrem Schlussvortrag. Man habe zwar keine Verbindungen des Angeklagten zu rechtsextremen Kameradschaften finden können –  von einem „isolierten Einzeltäter“ könne trotzdem nicht die Rede sein. Noch während der Tat habe der Angeklagte durch Anspielungen mit “seinen Leuten” kommuniziert, die er im Prozessverlauf nicht habe verraten wollen, um weiterhin Teil “seiner peer group voller Rassisten, Antisemiten und Antifeministen” bleiben zu können. Der Angeklagte habe die Tat allein verübt, sich aber nicht allein radikalisiert. Ebenso hätten Familie und Freunde ihm nicht widersprochen, sagte RAin Pietrzyk und erinnerte an den unverhohlenen Antisemitismus im Abschiedsbrief der Mutter des Angeklagten.

Daran dass eine Gruppe von Betroffenen aus unterschiedlichen Gründen nicht persönlich vor Gericht erschienen sei, erinnerte RA Mark Lupschitz in seinem Schlussvortrag. Diesen wolle er zum Ende des Prozesses eine Stimme geben. Im Namen seiner Mandant*innen zitierte Lupschitz den Ausspruch “Mir záynen do” (dt. “Wir sind da”) aus dem jiddischen Partisanenlied “Zog nit keynmol”, das 1943 im Ghetto Vilnius entstand. “Wir lassen uns unsere Lebensweise nicht nehmen,” so RA Lupschitz. “Wir” – das seien die Nebenkläger*innen, “die sich entschlossen haben, nicht zu erscheinen, aber auch alle Betroffenen des Terroranschlags” und die Menschen “draußen vor dem Gerichtsgebäude”.

Es habe zum Plan des Angeklagten gehört habe, die Hauptverhandlung gegen ihn zu seiner Bühne zu machen, sagte RAin Dr. Kati Lang in ihrem Schlussvortrag. Dies sei durch das vehemente Auftreten vieler Nebenkläger*innen verhindert worden. Lang hob hervor, dass der Anschlag nicht nur antisemitisch und rassistisch, sondern auch misogyn motiviert gewesen sei und der Angeklagte Jana L. aus frauenfeindlichen Motiven heraus erschossen habe. Sie warnte davor, die Hauptverhandlung in das Narrativ eines “guten Deutschlands” einzupflegen. Statt Heldenerzählungen, etwa über die juristische Aufarbeitung oder auch über die Synagogentür aus “deutscher Eiche” zu pflegen, müsse immer wieder darauf geschaut werden, an wie vielen Stellen der Staat versagt habe. Staat und Gesellschaft hätten die Betroffenen nicht vor der Tat schützen können und auch im Nachgang sei im Umgang mit dem Anschlag vieles verheerend falsch gemacht worden. Erst die engagierten Nebenkläger*innen und Sachverständigen hätten im Prozess den gesamtgesellschaftlichen Kontext der Tat erhellt.

Auf die Traditionslinie rechten Terrors, in der die Tat von Halle stünde, verwies RA Gerrit Onken. Rassistischer Hetze, wie sie an vielen Stellen der Gesellschaft betrieben würde, seien hier Taten gefolgt. Tat und Täter hätten gezeigt, “was passiert, wenn sich jemand aufmacht, um die weiße Mehrheitsgesellschaft zu verteidigen.” Am Ende seines Schlussvortrages zitierte RA Onken die an den Angeklagten gerichteten Worte der Nebenklägerin Mollie S.: “Du wirst mir keine Qualen mehr bereiten. Es endet hier und heute.” Onken verneigte sich vor den anwesenden Nebenkläger*innen.

Das Schlusswort einer Überlebende aus der Synagoge, die nicht namentlich genannt werden wolle, verlas RAin Antonia von der Behrens. Darin hieß es: “Das Schweigen zu Antisemitismus und Rechtsextremismus muss gebrochen werden.” Dies liege insbesondere auch in der Verantwortung der Mehrheitsgesellschaft. 

Seit dem Anschlag, trage er fast überall eine Kippa, hieß es in einer von RAin von der Behrens verlesenen Erklärung des Nebenklägers Jeremy Borovitz. Mehrmals im Monat sei er mit Antisemitismus konfrontiert, so Borovitz. Es lasse ihm “keine Ruhe”, dass ihm erst ein Mal jemand zur Hilfe gekommen sei. Er habe oft das Gefühl, dass Umstehende “sowas nicht wahrnehmen wollen”. Schuldig in diesem Prozess sei “mindestens ein Mensch” – Verantwortung trage jedoch die gesamte Gesellschaft. “Jeden Tag, jede Minute müssen wir unsere Stimme erheben. Wann immer wir etwas sehen, müssen wir etwa tun, um ein weiteres Halle nicht noch einmal geschehen lassen”, so Borovitz.

Auf das Verhalten der Polizei gegenüber Betroffenen ging RAin von der Behrens in ihrem Plädoyer ausführlich ein. Im Verlauf des Prozesses hatten Überlebende in zahlreichen Aussagen teils harsche Kritik am Handeln der Polizei und staatlichen Behörden geäußert. RAin von der Behrens merkte an, dass keine der geschilderten Vorfälle “in irgendeiner Form aktenkundig gemacht worden” sei.

Die Anwältin schloss sich im Namen aller drei Mandant*innen den Anträgen der Generalbundesanwaltschaft an und beendete ihr Plädoyer mit einem Zitat ihrer Mandantin Rebecca Blady: “Der Angeklagte wird niemals erfolgreich sein. […] Ich bin der lebende Beweis dafür. Leute wie er, werden keinen Erfolg haben.” Sie werde sich nicht von ihrer Arbeit in der jüdischen Gemeinde in Deutschland abbringen lassen.

Nach einzelnen Schlussvorträgen der Nebenklage erhoben sich Zuschauer*innen und Nebenkläger*innen als Zeichen der Anerkennung. Nach dem letzten Plädoyer an diesem Prozesstag versuchte der Angeklagte zu provozieren, indem er grinsend auch aufstand.

Die Verhandlung wird am 2. Dezember fortgesetzt. Weitere Schlussvorträge sind für den 8. Dezember angesetzt. Ein Urteil soll noch in diesem Jahr fallen.