Fortsetzung der Nebenklage-Plädoyers

Die Plädoyers der Nebenklage werden fortgesetzt. An einem kurzen Verhandlungstag halten vier AnwältInnen ihre Schlussvorträge und thematisieren u. a. die Verantwortung, die die Gesellschaft für die Tat trage. Ein Anwalt kritisiert die vermeintliche linke Instrumentalisierung des Anschlags.

Am 2. Dezember 2020 wurden während des kurzen 23. Verhandlungstages im Halle-Prozess die Plädoyers der Nebenklage fortgesetzt. Vier AnwältInnen hielten ihre Schlussvorträge und thematisierten u. a. die Verantwortung, die die Gesellschaft für die Tat trage. 

Zu Beginn ihres Plädoyers unterstrich die Rechtsanwältin Assia Lewin die besondere Bedeutung des Hauptverfahrens gegen den geständigen Attentäter von Halle: 75 Jahre nach den Nürnberger Prozessen schaue die Welt nach Magdeburg, um zu sehen, wie hier vor einem deutschen Gericht einem rassistischen und antisemitischen Mörder der Prozess gemacht werde.

Als einen wesentlichen Faktor, der zur Tat beigetragen habe, benannte RAin Lewin “das Schweigen, das Wegsehen, das Unter-den-Teppich-Kehren” und nahm insbesondere die Familie des Angeklagten in die Pflicht: Diese habe sich zwar nicht in einem strafrechtlichen Sinne mitschuldig gemacht, trage aber eine hohe moralische Verantwortung dafür, dass der Angeklagte zum “Massenmörder” geworden sei. Über Jahre hätten sie den Angeklagten in seiner Radikalisierung gewähren lassen und ihm u. a. die Möglichkeit zum ungestörten Waffen- und Munitionsbau in den heimischen Wänden geboten.

Lewin wandte sich auch direkt an den Angeklagten: Mit seinen verachtenswerten und feigen Taten habe er das genaue Gegenteil seiner Intention bewirkt. Nach dem Anschlag sei deutlich geworden, dass Juden, Muslime und People of Colour zusammenstünden. Viele der betroffenen Jüdinnen und Juden hätten die Solidarität nach der Tat zum Anlass genommen, sich für ein Leben in Deutschland zu entscheiden. Während sie eines Tages den Umgang mit der Tat lernen könnten, werde der Angeklagte im harten JVA-Alltag Tag für Tag daran denken müssen, dass er nicht nur zwei Menschen ermordet, sondern auch sein Leben und das seiner Familie zerstört habe. Erinnern werde sich die Welt einst nicht an seine Tat, sondern daran, dass ihm als antisemitischem und rassistischem Mörder ein gerechter Prozess gemacht worden sei. 

Wie schon RAin Lewin, schloss sich auch der Nebenklage-Vertreter Juri Goldstein im Wesentlichen dem Antrag des Generalbundesanwalts vom 21. Verhandlungstag an. Die Tat des Angeklagten sei an Abscheulichkeit nicht zu überbieten und habe das Problem des Antisemitismus in seiner hässlichsten Form gezeigt. RA Goldstein kritisierte, dass das Verfahren von links und rechts instrumentalisiert würde und dem Täter unnötigerweise eine Bühne geboten worden sei. Als er im Anschluss begann, den Tischler Thomas Thiele, der das Tor zur Synagoge von Halle gebaut hatte, ausführlich für seine gute Arbeit zu loben, verließen einige Nebenklägerinnen den Verhandlungssaal. Wiederholt war von ihnen im Hauptverfahren und gegenüber der Presse das Narrativ von der Tür aus “guter deutscher Eiche”, die die Besucher*innen der Hallenser Synagoge gerettet hätte, kritisiert worden, zuletzt am vorangegangen 22. Verhandlungstag. Auf das Bestreben dieser Gruppe von Nebenkläger*innen, im Verfahren auch die ideologischen Hintergründe der Tat und die Versäumnisse der Sicherheitsbehörden zu thematisieren, bezog sich mutmaßlich auch Goldsteins Kritik, dem Täter sei eine Bühne geboten und das Verfahren instrumentalisiert worden. Trotz seiner vorherigen Ausführungen bedankte sich Goldstein zum Schluss seines Vortrags bei allen Verfahrensbeteiligten, dass sie mit ihrem Agieren im Prozess zur Bekämpfung des Antisemitismus, der alle Menschen angehe, beigetragen hätten.

Rechtsanwalt Florian Feige stellte zu Beginn seines Plädoyers klar, warum es sich bei den Schüssen auf seine beiden Mandanten in Wiedersdorf um Mordversuche gehandelt habe. Der Angeklagte hatte versucht, von den beiden NebenklägerInnen ein Auto zu erpressen und sie mit Schüssen im Nacken und im Hüftbereich schwer verletzt. 

Nachdem er seine rechtliche Würdigung dieses Angriffs dargestellt hatte, richtete sich Feige direkt an den Angeklagten: Als namenloses Irrlicht werde er in Vergessenheit geraten, während die Dynamiken der Solidarisierung, die seine Vorredner angesprochen hätten, in Erinnerung bleiben würden. Früher, so Feige, hätte der Angeklagte vermutlich als “Dorfdepp” allein in seiner Stammkneipe herumgesessen, heute, in Zeiten des Internets, würde er sich mit zahlreichen anderen “Dorfdeppen” online austauschen. Seine wahnwitzigen Ideen würden aber nicht dadurch wahrer, dass er sie mit vielen anderen teile. Feige bat den Angeklagten darum, die Nebenkläger*innen mit seiner “Cerebralen Diarrhoe” zu verschonen und von seinem Recht auf das letzte Wort keinen Gebrauch zu machen.

Die Verhandlung wird am 8. Dezember fortgesetzt. Es sollen dann die übrigen Nebenklagevertreter*innen zu hören sein. Einige Nebenklägerinnen wollen auch selbst noch einmal ein Schlusswort halten. Für den 9. Dezember sind die Schlussvorträge der Verteidiger sowie ggf. das letzte Wort des Angeklagten vorgesehen. Das Urteil soll am 21. Dezember um 11 Uhr verkündet werden.

Hauptverhandlung gegen Stephan B. vor dem Staatsschutzsenat des Oberlandesgericht Naumburg

23. Verhandlungstag (2. Dezember 2020)

CN: Das nachfolgende Protokoll enthält explizit gewaltverherrlichende, rassistische, antisemitische und menschenverachtende Aussagen und Ausdrücke.

Wir protokollieren die vollständige Hauptverhandlung gegen den mutmaßlichen Attentäter von Halle. Wir versuchen dabei, so nah wie möglich am Wortlaut der Verhandlung zu bleiben, direkte Zitate sind durch Anführungszeichen gekennzeichnet. Da es nicht zulässig ist, die Verhandlung mitzuschneiden, entsteht unser Protokoll auf Basis unserer Mitschriften aus dem Gericht. 

Einige Passagen haben wir bewusst gekürzt. So werden etwa Inhalte, die die Persönlichkeitsrechte von Prozessbeteiligten oder Dritten verletzen könnten, nicht veröffentlicht. Zudem streichen wir in der öffentlich zugänglichen Fassung des Protokolls jene Passagen, die Details der Tat und Tatplanung beinhalten und deren Veröffentlichung eine Gefahr, etwa durch Nachahmer, darstellen könnte. Die entsprechenden Abschnitte werden mit “[XXX]” gekennzeichnet. In begründeten Ausnahmefällen können etwa Wissenschaftler*innen oder Journalist*innen die gestrichenen Passagen bei uns anfragen. 

Nachnamen werden ggf. abgekürzt. An Stellen, an denen uns unser Protokoll nicht präzise genug war, etwa weil Wortbeiträge unverständlich vorgetragen wurden, haben wir Auslassungen auf die gängige Weise “[…]” angegeben.

Die Vorsitzende Richterin Mertens setzt die Hauptverhandlung gegen Stephan B. um 9:45 Uhr fort. Sie stellt die Anwesenheit fest: RA Miroslav Duvnjak lasse sich von RA [unverständlich, Anm. democ.] vertreten. Auch RA Dr. Peer Stolle vertrete einen anderen Nebenklagevertreter erneut. RAin Ilil Friedman lasse sich durch Benjamin Derin vertreten. RA Christoph Günther sei nicht anwesend. RA David Herrmann, der am vorherigen Verhandlungstag nicht dagewesen sei, sei heute wieder dabei. B.s Verteidiger Thomas Rutkowski sei heute nicht anwesend, in Absprache mit RA Hans-Dieter Weber, werde RA Weber B. heute allein vertreten. Ansonsten seien, so Mertens, alle Verfahrensbeteiligten anwesend, die auch vor der Unterbrechung anwesend gewesen seien.

Schlussvortrag RAin Assia Lewin

Um 9:47 Uhr beginnt RAin Assia Lewin ihren Schlussvortrag. Sie sagt, gestern [am 22. Verhandlungstag, Anm. democ.] sei von ihren Vorrednern sehr viel Richtiges und Wichtiges gesagt worden, dem sie sich anschließen wolle. Außerdem wolle sie sich auch dem Schlusswort der Bundesanwaltschaft “voll und ganz” anschließen, insbesondere was die Würdigung des Angriffs auf die Synagoge am 9. Oktober 2019 angehe.

Normalerweise wäre ihr Plädoyer in einem Strafprozess damit beendet, so RAin Lewin, aber dies sei kein normaler Prozess. Er finde 75 Jahre nach den Nürnbergern Prozessen statt, bei denen einige wenige Nazis vor einem Alliiertengericht zur Verantwortung gezogen worden seien. Ein Alliertengericht habe es damals auch sein müssen, da es im Land nahezu nur Nazirichter gegeben habe.

75 Jahre nach den Nürnberger Prozessen stehe sie, Lewin, nun hier als Organ der Rechtspflege, als Nebenklagevertreterin von zwei Nebenklägern, nämlich von Herrn [Vladislav R., Anm. democ.] und Frau R. und beantrage eine gerechte und angemessene Strafe für die Tat vom 9. Oktober 2019. 

“Was macht diesen Prozess so besonders, dass er von der Weltöffentlichkeit so aufmerksam beobachtet wird?”, fragt RAin Lewin. Es liege wahrscheinlich daran, dass hier ein Anschlag auf eine Synagoge in Deutschland, also in dem Land, das für die Ermordung von 6 Millionen Jüdinnen und Juden verantwortlich war, geschehen sei.

Als einsichtiger und vernünftiger Mensch würde man sich fragen: “Wie konnte das passieren?” Wie sei es möglich, dass der damals 27-jährige Angeklagte einen solchen Hass entwickelt habe, dass er Jana L. und Kevin S. getötet, Dagmar M. und Jens Z. angeschossen und so viele weitere psychische Verletzungen hervorgerufen habe? Durch ihre Benennung von einzelnen Personen wolle sie niemanden ausschließen, so RAin Lewin.

Die Frage, die das habe passieren können, sei auch am Ende des Prozesses nicht geklärt. Dies liege u. a. daran, dass die Familie des Angeklagten von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch gemacht habe. Es bleibe ungeklärt, wie es dazu habe kommen können, dass der Angeklagte sein zutiefst rassistisches und menschenverachtendes Vorhaben in die Tat umgesetzt habe. Zur Tat beigetragen habe, wie schon oft in der Geschichte, das Schweigen, das Wegsehen, das Unter-den-Teppich-Kehren, insbesondere der Familie des Angeklagten. RAin Lewin wolle besonders darauf hinweisen, dass die Familie des Angeklagten nicht im strafrechtlichen Sinne schuldig sei, die Eltern aber eine große moralische Verantwortung dafür trügen, dass ihr Sohn ein rassistischer Massenmörder geworden sei.

Über Jahre habe Mutter ihrem Sohn immer denselben Fisch aufgetischt, während ihr Sohn den Tag damit verbracht habe, Munition und Waffen herzustellen. […] Über Jahre habe der Vater des Angeklagten dieselbe Werkstatt wie sein Sohn genutzt und nichts bemerkt. “Warum haben sie ihn nicht gestoppt?”, fragt RAin Lewin.

Der Angeklagte habe, wie es die Vorsitzende mehrfach richtig gesagt habe, zu viel Tagesfreizeit gehabt, um sich in Imageboards zu tummeln. 

“Sehen Sie der Wahrheit ins Gesicht, Herr Angeklagter”, richtet sich RAin Lewin direkt an B. Niemand wolle von ihm befreit oder verteidigt werden. Dagmar M. habe ihn so zutreffend als “weinerliches, quengeliges Kind” bezeichnet. “Sie benehmen sich wie ein Kind”, fährt Lewin fort, während sich der Angeklagte gleichzeitig eine Frau an seiner Seite wünsche, die sich ihm unterordne und ihm deutsche Spezialitäten zubereite. Dieser Traum sei nun aber zerplatzt: “Und das hat nichts mit attraktiven Ausländern zu tun. Das liegt ganz allein an Ihnen.” Er habe zu Beginn der Hauptverhandlung gesagt, Muslime und People of Color seien seine Feinde, hält RAin Lewin dem Angeklagten vor. Auf ihre damalige Frage, wie Juden in dieses Muster einzuordnen seien, habe er keine Antwort gehabt. Auf die Frage, “Wer sind denn nun diese Juden?”, könne er keine Antwort geben. […] Auch als Ezra Waxman ihn gefragt habe, was er gegen ihn, Waxman, speziell habe, habe der Angeklagte keine Antwort geben können. Nach dem Prinzip “Ich plappere einfach nach, dass der Holocaust nicht stattgefunden hat,” habe der Angeklagte seine Gedanken in schlechtem Deutsch und noch schlechterem Englisch ausgedrückt und habe im Anschluss zwei Menschen getötet. RAin Lewin sagt, ihrer Meinung nach dürfe man den Angeklagten nicht einmal in einem Atemzug mit seinen Vorgängern nennen: “Selbst das wäre zu viel der Ehre.” […] “Aber was haben Sie erreicht, Herr Angeklagter?”, fährt RAin Lewin fort. Genau das Gegenteil des von ihm Gewollten habe er erreicht. In diesem Prozess habe er Jüdinnen und Juden das erste Mal live gesehen. Er habe erreicht, dass eine Vielzahl von Jüdinnen und Juden vor Gericht ausführlich ihre Lebensgeschichten einer breiten Öffentlichkeit erzählt hätten. Ihr, Lewin, zittere heute noch die Stimme, wenn sie an diese Erzählungen denke.

Der Angeklagte habe mit ansehen dürfen, wie, entgegen seiner Annahme, den Holocaust hätte es nicht gegeben, das Leben und die Familien von Jüdinnen und Juden bis heute beeinflusse. 

Viele Nebenkläger hätten sich die große Solidarität, die sich am nächsten Schabbat-Gottesdienst nach dem Anschlag in Halle gezeigt habe, zum Anlass genommen, sich erst deshalb zu entscheiden, dauerhaft in Deutschland zu bleiben. Sie hätten sich entschieden, ihr jüdisches Leben in “unserer pluralistischen Gesellschaft” aufzubauen. Trotz der Tat des Angeklagten gedeihe das jüdische Leben in Deutschland und Juden würden hier nicht im Verborgenen leben. […]

Im Namen ihrer Mandanten und als deutsche und jüdische Rechtsanwältin wolle sie, Lewin, dem Angeklagten sagen: “Sie haben auf ganzer Linien versagt.” Er genieße die Vorzüge und Errungenschaften des Rechtsstaats, ohne auch nur irgendetwas zurückzugeben. Auch sein absurder Kommentar, er würde für sich selbst die Todesstrafe bevorzugen, werde ihm nicht helfen und nichts daran ändern, dass er künftig jeden Tag daran denken solle, dass er mit seiner Tat nicht nur zwei Leben ausgelöscht, sondern auch sein eigenes und das Leben seiner Familie zerstört habe.

Während sich ihre Mandanten möglicherweise eines Tages mit der Tat arrangieren würden, werde er damit leben müssen, dass er seinen Neffen nicht werde aufwachsen sehen, dass sich sein Neffe eines Tages für ihn schämen werde. Er werde damit leben müssen, niemals in den Genuss einer Beziehung mit einer Frau zu kommen, jedenfalls für einen so langen Zeitraum nicht, dass er danach keine Kinder mehr zeugen können werden. All diese Freuden des Lebens würden ihm versagt bleiben.  

Der misslungene Versuch des Angeklagten, in die Synagoge einzudringen, werde dazu beitragen, dass das Profil der Sicherheitsbehörden in Bezug auf Terror gegen Juden, Muslime oder People of Color geschärft würde. […]

Seine Taten seien weder mutig noch heroisch, sondern feige und verachtenswert gewesen. Niemand werde sich an sie erinnern. Erinnern würden sich die Leute künftig aber an dieses rechtsstaatliche Verfahren in Deutschland. Dieses gerechte Verfahren sei der zweite Grund, weshalb die Welt derzeit auf diesen Prozess schaue, so Lewin. Und dafür danke sie diesem Gericht.

Hier vor Gericht hätten sich Deutsche und Nichtdeutsche; Juden, Muslime, Christen und Nichtgläubige getroffen und miteinander gesprochen und nicht übereinander. “Jedenfalls die meisten”, meint Lewin. In einer Welt mit dem Klimawandel komme es nicht darauf an, welche Hautfarbe man habe.

Schließen wolle sie mit einem Appell an die Zuschauer und alle Menschen “da draußen”: Wenn ihnen Rassismus oder Antisemitismus begegnen, sollten sie sich zuständig fühlen. Sie sollten eingreifen, wenn Menschen andere Menschen anpöbeln, nur weil diese eine andere Sprache sprechen. […] Sie sollten wachsam sein und etwas sagen, sonst könnten möglicherweise Angehörige eines Tages spazieren gehen und über ihre Namen stolpern.

Sehr bald würden Juden auf der ganzen Welt das Wunder von Chanukka feiern, sagt Lewin. In Berlin würden, hoffentlich auch in diesem Jahr, vor dem Brandenburger Tor Kerzen angezündet werden. Ihre Mandanten würden dieses Jahr auch das Wunder von Halle feiern, sagt Lewin. Dies sei sicherlich auch dem Handeln ihres Mandanten, des Sicherheitsbeamten Herrn R., zu verdanken. 

RAin Lewin bedankt sich bei den Zuhörenden und sagt, sie wolle noch einige persönliche Worte anbringen: Auch sie habe am 9. Oktober 2019 Jom Kippur gefeiert und sei in einer Berliner Synagoge gewesen. […] Abends hätten sie zahlreiche Solidaritätsbekundungen aus dem gesamten Bundesgebiet erreicht. Sie selbst habe das Ausmaß der Tat von Halle da noch gar nicht erfasst gehabt. Sie hätte das Ausmaß also noch gar nicht erfasst, da sei ihr schon der Rücken gestärkt worden.

Mit Mollie S. [Nebenklägerin, Anm. democ.] wolle sie sagen: “Der Schrecken von Halle endet für mich hier und jetzt.” 

Ihr herzliches Beileid gelte den Angehörigen von Jana L. und Kevin S.

Die Vorsitzende Mertens unterbricht die Verhandlung für eine 20-minütige Lüftungspause.

Schlussvortrag RA Juri Goldstein

Um 10:24 Uhr beginnt RA Juri Goldstein seinen Schlussvortrag. […]

Er vertrete den Kantor Roman R. und Josef L., die sich beide am Tag des Anschlags in der Synagoge befanden. In dem aktuellen Verfahren gehe es um eines der schlimmsten antisemitischen Verbrechen der Nachkriegszeit. Es sei ein Verfahren, welches von allen Beteiligten viel Kraft und Aufmerksamkeit verlangt habe. Die Beteiligten hätten viele Betroffene gehört, Sachverständige seien zu Wort gekommen und es sei allen klar, dass der Prozess das Problem des Antisemitismus in seiner hässlichsten Form beleuchtet habe.

Hass auf Juden, Hass auf Muslime und der Hass auf viele andere seien der Grund für die Tat gewesen. […]

Es sei erforderlich, den Angeklagten wegen versuchten Mordes und wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe mit anschließender Sicherungsverwahrung zu verurteilen. RA Goldstein habe der Bundesanwaltschaft diesbezüglich nichts hinzuzufügen.

Die Tat sei an Abscheulichkeit nicht zu überbieten gewesen und es könne für sie eigentlich keine gerechte Strafe geben. […]

Der Angeklagte habe mit seiner Tat erreicht, dass das Thema des Antisemitismus erneut in den Mittelpunkt gerückt und gesellschaftlich diskutiert würde.

In der Hauptverhandlung würde Antisemitismus aber von linker und rechter Seite auch instrumentalisiert und missbraucht. Der Angeklagte habe erreicht, dass Menschen, statt miteinander zu sprechen, Antisemitismus verbreiten würden. 

Valentin L. habe gesagt, dass Reden gegen Antisemitismus helfe. Diese Antwort sei einem geladenen Experten nicht eingefallen oder, so RA Goldstein, habe diesem vielleicht nicht einfallen dürfen. Dem Angeklagten sei eine Bühne geboten worden, die es nicht habe geben dürfen. […, Ausführungen zu Arendts Überlegungen zum Eichmann-Prozess, Anm. democ.]

Die Ehre müsse auch denjenigen gebühren, die durch ihre Arbeit Schlimmeres verhindert hätten, zum Beispiel dem Tischler Thomas T. aus Dessau, sagt Goldstein. [Dieser hatte das Tor zum Gelände der Synagoge in Halle gebaut, Anm. democ.] Thomas T. habe gute Arbeit geleistet und Leben gerettet. Zwei Nebenklägerinnen verlassen kurz nach dieser Aussage Goldsteins den Saal. 

Sein Mandant, sagt RA Goldstein, habe gesagt, dass jeder Schuss wie ein Schuss ins Herz gewesen sei. Die Synagoge sei sein Zuhause gewesen. Von seinem Lebensziel, das jüdische Leben in Deutschland zu bereichern, werde sich sein Mandant nicht abbringen lassen. […]

Google man “Halle-Prozess”, so gebe es 160.000 News-Treffer und 2 Millionen Treffer insgesamt, sagt RA Goldstein. Das Interesse sei groß. 

Es gebe in der Debatte um den Anschlag aber auch falsche Vergleiche: Wer diesen Anschlag mit der Shoah oder mit den Taten der Vorbilder der Angeklagten gleichstelle, der fördere eine Instrumentalisierung des Anschlags, wie sie Extremisten von links und rechts anstreben würden, so RA Goldstein. Wer auf diese Art versuche, die Probleme der Gesellschaft in diesem Prozess zu verhandeln, bei dem es um einen konkreten Anschlag auf die Synagoge ginge, der habe nur eines im Blick und das sei der Aufklärung nicht dienlich. Wer so vorgehe, öffne Extremisten von links und rechts die Tür.

Professor Dr. H. [ein Betroffener des Anschlags, Anm. democ.] habe gesagt, dass es sich bei der Tat um ein verabscheuungswürdiges Verbrechen handele und dass dieses aus der Mitte der Gesellschaft komme. Wie sehr das zutreffe, habe die Zeugenaussage des ehemaligen Freundes der Schwester des Angeklagten gezeigt. Dieser habe gesagt, dass es in bestimmten Kreisen keinen Sinn mache, Antisemitismus zu widersprechen. Solchen Zeugen müsse man helfen, so Goldstein. Man dürfe sie nicht allein lassen. […]

Immer wieder habe sich RA Goldstein im Verfahren die Frage gestellt, wie man so werde; zu einem ausgewachsenen Antisemiten, zu jemandem, der beim Töten nicht zwischen Kindern und Erwachsenen unterscheide. Diese Frage sei unbeantwortet geblieben. […]

Es sei bedenklich, dass das Tragen einer Kippa einen Angriff auslösen könne. Ein noch größeres Problem sei es aber vielleicht, wenn die angegriffenen Menschen dann nicht richtig geschützt würden. Hoffnung gebe RA Goldstein indes, dass nicht wenige Betroffene den Willen hätten, weiterhin jüdisches Leben in Deutschland zu leben.

Antisemitismus müsse weiter bekämpft werden und dazu hätten alle beigetragen, die hier an diesem Prozess mitgewirkt hätten, sagt RA Goldstein. Er danke daher ausdrücklich jedem, der an diesem Verfahren mitgewirkt habe. […] Der Kampf gegen Antisemitismus gehe alle an.

Schlussvortrag RAin Katrin Kalweit

[…, Schlussvortrag von RAin Kalweit, Anm. democ.]

Die Vorsitzende unterbricht die Verhandlung von 11:15 Uhr bis 11:45 Uhr.

Schlussvortrag RA Florian Feige

RA Feige beginnt seinen Schlussvortrag und sagt, es seien bereits viele Details zum Anschlagsversuch und zum “Amoklauf” des Angeklagten thematisiert worden. Er wolle die chronologische Reihenfolge nun verlassen und lediglich etwas zu den Mordversuchen an seinen Mandanten Dagmar M. und Jens Z. ergänzen. Im Wesentlichen schließe er sich dabei der Bundesanwaltschaft in ihrer Bewertung an.

Der objektive Tatbestand des versuchten Mordes sei mit den Schüssen auf Herrn Z. zweifelsfrei verwirklicht gewesen. Der Angeklagte habe in Richtung des Kopfes des Betroffenen Z. geschossen und dabei eine Waffe genutzt, die geeignet gewesen sei, tödliche Verletzungen hervorzurufen. Das Ziel des Kopfes sei dabei nicht zufällig gewählt gewesen. Nicht umsonst werden in Computerspielen, wie der Angeklagte sie gespielt habe, ein “Headshot” besonders mit Punkten honoriert und führe besonders zuverlässig zum Tod der gegnerischen Figur. Dass die Schüsse nur eine Verletzung hervorgerufen hätten, habe nicht im Einflussbereich des Angeklagten gelegen. [XXX, Details zu verwendeten Waffen und Munition, Anm. democ.]

Auch der subjektive Tatbestand sei erfüllt. Die Aussage des Angeklagten, er habe Z. nicht töten wollen, betrachtet RA Feige als eine Schutzbehauptung und verweist auf die Motivation des Angeklagten. Dieser habe in der Situation von Z. dessen Fahrzeug gewollt, verhindern wollen, dass die Polizei gerufen wird und habe gewollt, dass er von Z. ernst genommen wird und dieser sich nicht widersetzt. 

Diese drei Prioritäten habe der Angeklagte gesetzt. Die Leben des Z. und der M. seien ihm dabei schlichtweg egal gewesen.

Auch die Aussage des Angeklagten, er sei davon ausgegangen, der Schuss würde nicht tödlich wirken, sei eine Schutzbehauptung: Der Angeklagte habe keine genauen Kenntnisse von der Wirkungsweise der Waffe und der Munition gehabt. Als ehemaligem Wehrdienstleistenden seien ihm nicht primär das Schießen, sondern vor allem die Sicherheitsmaßnahmen im Umgang mit einer Waffe gelehrt worden. Er habe also um die Gefahr gewusst.

Der Angeklagte könne außerdem nicht sagen, er habe Z. durch einen gezielten Schuss nur nicht-tödliche Verletzungen zufügen wollen. Ihm sei bewusst gewesen, dass er aufgrund seiner Verletzung beim Halten und Anvisieren beeinträchtigt gewesen sei und er deshalb nicht in der Lage gewesen sei, einen sicheren Schuss abgeben zu können. 

Dieses Inkaufnehmen des Todes Z.s zeige sich auch in der Nachbetrachtung der Tat durch den Angeklagten, sagt RA Feige. Der GBA habe bereits ausgeführt, wie erleichtert der Angeklagte gewesen sei, als er durch Polizeibeamte erfahren habe, dass Z. und M. überlebt hätten. Drei weiteren Zeugen in Wiedersdorf habe er außerdem gesagt, dass er zwei Menschen erschossen habe und dabei in Richtung des Grundstücks von Herrn Z. und Frau M. gezeigt. Er sei, so RA Feige, also davon ausgegangen, die beiden erschossen zu haben.

Er hat dabei auf das Grundstück von Herrn Z und Frau M. gezeigt. Er ging also davon aus, dass er die beiden erschossen habe. Auch sei der Angeklagte nicht von der Tat zurückgetreten. RA Feige schließt sich dem GBA an und bittet den Senat, das Strafmaß voll auszuschöpfen.

Abschließend wolle er ein paar Worte an den Angeklagten richten: Seine Tat werde unvergessen bleiben, aber nicht in einer Weise, wie er sich das gedacht habe. Das sei in den anderen Schlussworten deutlich geworden. “Sie werden nur als namenloses Irrlicht in Erinnerung bleiben.”, sagt RA Feige zum Angeklagten.

Vor der Zeit des Internets sei es so gewesen, dass der Trottel des Dorfes den Einzelplatz in der Stammkneipe gehabt habe und nur einmal im Monat den Mut zusammengenommen habe, an einen anderen Tisch zu gehen und seine Verschwörungstheorien zu erzählen.

Ihm sei dann ein Bier ausgegeben worden, man hätte ihm gesagt, wie toll er alles durchschaut habe und er sei zurück an seinen Tisch gegangen.

Im Zeitalter des Internets sei es so, führt RA Feige aus, dass all diese Dorfdeppen online zusammenkommen und sich ergänzen würden. Doch auch wenn viele Dorfdeppen zusammenfinden würden, blieben ihre Ideen immer noch der gleiche Unsinn. Nur weil so viel Unsinn von vielen Menschen erzählt werde, werde er nicht richtiger, so RA Feige. Das Problem sei die Masse der Dorfdeppen, die sich untereinander bestärken würden.

Er hätte sich lieber mit den historischen Wurzeln der Verschwörungsmythen beschäftigen sollen, die bis vor unsere Zeitrechnung zurückreichen würden, richtet sich RA Feige an den Angeklagten. […] Vielleicht könne der Angeklagte das ja nachholen. Er, Feige, wolle das Urteil nicht vorwegnehmen, aber denke, dass der Angeklagte dazu bald viel Zeit haben werde.

Fleißig sei er ja, das habe sich im Verfahren gezeigt, und vielleicht wolle er ja ein Buch über die Geschichte der Verschwörungsmythen schreiben, sich mit diesen beschäftigen und seine und die Taten seiner Vorgänger einordnen.

Er habe gesehen, dass der Angeklagte bei den Schlussvorträgen der Nebenkläger viel mitgeschrieben habe, sagt Feige. Er bitte ihn, nicht von der Möglichkeit seines letzten Wortes Gebrauch zu machen. Er habe das Recht dazu, aber er müsse dieses nicht nutzen und solle die Anwesenden mit seiner “Cerebralen Diarrhoe” verschonen.

RA Feige sagt, dass er gesehen habe, dass einige Nebenkläger heute den Saal bei Worten eines Kollegen verlassen hätten. Das verstehe er, Feige, nicht ganz. Er sei Atheist und für Kommunikation. Das Zusammenstehen gegen Antisemitismus werde mit solch einem Verhalten der Nebenkläger konterkariert und das fände er persönlich schade.

Die Vorsitzende Richterin Mertens sagt, dass in der nächsten Woche die Schlussworte und Statements von Nebenklägern anstünden und sie sich sicher sei, dass da eine Reihenfolge gefunden werden. Fehler in der Kommunikation könnten passieren, auch ihr, aber nächste Woche werde man das sicher regeln können. 

Der Dienstag [24. Verhandlungstag am 8. Dezember 2020, Anm. democ.] könnte unter Umständen lange dauern. Er sei sehr voll, da einige Nebenklagevertreter unvorhergesehen verhindert gewesen seien und es daher noch viele Schlussworte zu hören gäbe. Am Mittwoch [25. Verhandlungstag am 9. Dezember 2020, Anm. democ.] stünden dann die Schlussvorträge der Verteidiger und ggf. das letzte Wort von Herrn B. an.

Da der Senat Zeit für die Urteilsberatung brauche, werde die Urteilsverkündung zwei Wochen später, am Montag, dem 21. Dezember 2020 um 11 Uhr stattfinden.

Auch an diesem Tag werde schon ab 7 Uhr der Einlass zum Gericht möglich sein. Sie bitte daher also insbesondere die Presse, frühzeitig zu kommen. Auch könnten die Kontrollen länger dauern. Wenn alle erst um 10 Uhr kämen, würde es nicht möglich sein, alle bis 11 Uhr zu kontrollieren.

Der Verhandlungstag endet um 12 Uhr.

Veröffentlicht am 7. Dezember 2020.

Protokoll herunterladen: 23_Protokoll_HalleProzess_democ.pdf