Fehlende Kompetenz bei Online-Ermittlungen

Nach der ehemaligen Vorgesetzten der Mutter des Angeklagten erscheinen fünf ZeugInnen vom BKA, die mit dem Online-Verhalten des Angeklagten befasst waren. Dabei offenbaren sich eklatante Wissensmängel und Versäumnisse der ErmittlerInnen.

Am 26. August 2020 wurden während des siebten Verhandlungstages des Halle-Prozesses mehrere BKA-Ermittler befragt, die sich mit dem Online-Verhalten des Angeklagten beschäftigt hatten. Dabei wurden offenkundige Versäumnisse bei den Ermittlungen deutlich.

Der Verhandlungstag begann mit der Befragung der Leiterin der Grundschule, an der die Mutter des Angeklagten, Claudia B., arbeitete. Diese sollte darstellen, wie sie Claudia B. und deren Sohn wahrgenommen habe. Die 58-Jährige berichtete, dass sie zu der Ethiklehrerin ein ausschließlich professionelles Verhältnis gehabt habe. Claudia B. sei immer eine verlässliche und gute Lehrerin gewesen. Allerdings habe sie Verhaltensveränderungen im Sommer vor der Tat bemerkt: Claudia B. sei dünnhäutig und empfindsam gewesen und habe gegenüber einer Kollegin geäußert, sie habe die Ahnung, dass bald etwas Schlimmes passiere. Seit der Tat beschäftige die Grundschullehrerin der Gedanke, ob diese Äußerung bereits etwas mit der späteren Tat zu tun gehabt habe. Ebenso erscheine ihr der Bericht der Mutter in einer Kaffeepause, dass ihr Sohn endlich ein neues Hobby gefunden habe und sich von seinem Schwager Schweißen beibringen lasse, nun in einem anderen Licht.

Im weiteren Verlauf des Prozesstages wurden fünf ZeugInnen angehört, die alle beim BKA mit Ermittlungen zum Online-Verhalten des Angeklagten betraut waren. Es entstanden dabei Zweifel an der Kompetenz der Polizeikräfte in diesem Bereich und an der Sinnhaftigkeit der Ermittlungsstrukturen. Mehrfach legten Fragen der Nebenklage-Vertreterinnen offen, dass vermeintliche Ermittlungsergebnisse, etwa über die Funktionsweise von Imageboards oder die dort geteilte Inhalte, lediglich aus anderen Berichten oder offen zugänglichen Artikel abgeschrieben wurden. Obwohl die Berichte etwa suggerierten, dass die Verfasser sich selbst auf Imageboards bewegt und dort recherchiert hätten, räumten diese später ein, dass dies nicht oder nur sehr oberflächlich der Fall gewesen sei. Versuche, herauszufinden, woher die Informationen denn ursprünglich stammten, liefen dann ins Leere. Die ZeugInnen konnten sich an die zuständigen KollegInnen, auf deren Erkenntnisse sie sich bezogen, teils nicht erinnern oder gaben an, sie bräuchten möglicherweise eine explizite Aussagegenehmigung, um diese zu benennen. 

Thematisiert wurde das Agieren des Angeklagten auf der Spiele-Plattform Steam, seine Vernetzung auf Imageboards und die dortige Rezeption seiner Taten sowie die Dokumente, die er selbst online stellte und in denen er seine Waffen und seine Ideologie darstellte, um Nachahmer zu motivieren. Auf Steam verbrachte der Angeklagte in den zurückliegenden Jahren viele hundert Stunden mit unterschiedlichen Ego Shootern und Rollenspielen. Wie er dort vernetzt war und mit wem er chattete und kommunizierte, konnte nicht ermittelt werden. Nach einer ersten Anfrage an den Betreiber der Plattform, die beantwortet wurde, aber derzufolge viele relevante Daten gar nicht erst erhoben würden oder bereits gelöscht worden seien, seien keine weiteren Nachforschungen angestellt worden.

Auch den Betreiber des Imageboards “Meguca”, auf dem der Angeklagte den Link zu seinem Livestream der Tat veröffentlicht hatte, fragte man lediglich per E-Mail an, nachdem ihn JournalistInnen ausfindig gemacht hatten, und gab sich mit dessen Antwort, dass keine Daten zum Angeklagten mehr vorhanden seien, zufrieden.

Ein junger BKA-Beamter stellte dar, wie lange der Angeklagte an seinen Propagandamaterialien gefeilt habe: Im Rahmen der Ermittlungen habe man herausgefunden, dass erste Versionen der Pamphlete schon Ende März 2019 verfasst wurden. Dies passt zur Aussage des Angeklagten, derzufolge das Attentat von Christchurch am 15. März endgültig zu seinem Tatentschluss geführt habe.

Zur Verbindung der beiden Anschläge äußerte sich ein weiterer Ermittler: Er hatte die Schriften beider Attentäter ausgewertet und wenig Übereinstimmungen gefunden. Deutlich wurden eklatante Kompetenzmängel: Er sei vor seinen Arbeiten weder mit dem Begriff des Imageboards noch mit rechtsextremen Ideen wie der vom “Großen Austausch” vertraut gewesen, räumte er ein. Er gelangte so zu der fehlerhaften Einschätzung, dass sich zwischen den Schriften der Rechtsterroristen wenig Übereinstimmungen fänden und der Attentäter von Christchurch nur latent antisemitisch gewesen sei. 

Verlesen wurde an diesem Verhandlungstag auch ein Bericht zu möglichen Bitcoin-Spenden und finanziellen Unterstützern der Tat: Der Angeklagte hatte in einem Dokument einen “Mark” bezichtigt, ihm 0,1 Bitcoin gespendet zu haben, die er für einen Anschlag nutzen solle. Den Ermittlungen des BKA zufolge konnte auf zwei Bitcoin-Adressen, die dem Angeklagten zugeordnet wurden, keine entsprechenden Transaktionen ausgemacht werden. “Mark” identifizierten sie mit Unterstützung des FBI als den 28-jährigen Mark M. aus Brooklyn, der als Moderator mehrerer Imageboards agiert habe. Hinweise auf einen Kontakt zwischen ihm und dem Angeklagten habe es nicht gegeben, sodass die Darstellung des Angeklagten weder bewiesen noch widerlegt werden könne.

Der Verhandlungstag endete mit einem Disput der Nebenklage-VertreterInnen: Als Rechtsanwältin Kristin Pietrzyk einen Zeugen eingehender zu dessen fehlerhafter Einschätzung eines Textes als nicht antisemitisch befragte, wurde sie zunächst von Anwältin Assia Lewin und dann von Anwalt Jan Siebenhüner unterbrochen: Siebenhüner holte zu einer Belehrung aus, dass es im deutschen Strafrecht um die Bewertung der individuellen Schuld eines Angeklagten gehe. Er bat darum, man möge Fragen, die damit nichts zu tun haben, einstellen. Unterstützung bekam er dabei auch von der Vorsitzenden Mertens: Den ideologischen Hintergründen der Tat solle man nicht zu viel Raum geben. Mit den Ideen des Angeklagten oder anderer Rechtsterroristen könne man sich ohnehin nicht sinnvoll befassen. Dem widersprach Anwältin Dr. Kati Lang entschieden: Die Beschäftigung mit diesem Denken sei unerlässlich, nicht zuletzt, da es in Deutschland zu sechs Millionen Toten geführt habe. Wenn das BKA Fehler gemacht habe oder Ermittler sich mit Dingen befassten, zu denen ihre Kompetenz fraglich ist, müsse das thematisiert werden. 

Rechtsanwalt Alexander Hoffmann widersprach auch den Ausführungen Siebenhüners, denen zufolge den gesellschaftlichen Hintergründen der Tat keine tiefergehende Aufmerksamkeit geschenkt werden müsse: Gerade weil es um die Bewertung der Schuld des Angeklagten ginge, sei es unerlässlich, dessen Motivation, Vorbilder und die beabsichtige Wirkung der Tat aufzudecken.