AntisemitismusChristina Feist über den #HalleProzess und Reaktionen in Sozialen Medien

Christina Feist, Nebenklägerin im Prozess gegen den Halle-Attentäter, erzählt im Gespräch mit dem Bundesverband RIAS und RIAS Berlin in Kooperation mit democ. wie sie die vergangenen Monate und den Prozess erlebt hat. Sie berichtet von den Reaktionen, die sie als Jüdin und Frau, die sich öffentlich äußert, speziell in den sozialen Netzwerken erfahren musste und wie sie damit umgeht.

In den vergangenen Monaten fand in Magdeburg der Prozess zum mörderischen, antisemitisch, rassistisch und misogyn motivierten Attentat statt, in dem der Attentäter Jana L. und Kevin S. ermordete. Nach einem über fünf Monate langen Prozess wurde der Attentäter von Halle am 21. Dezember 2020 zu lebenslanger Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt. Nach 26 Prozesstagen, an denen über 80 Zeug_innen und Sachverständige zu hören und über 40 Nebenkläger_innen beteiligt waren, endete damit das Hauptverfahren gegen den Attentäter von Halle. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig und mehrere Nebenkläger*innen und die Verteidigung kündigten an, die Möglichkeit einer Revision zu prüfen.

Dora: Ich bin Dora Streibl vom Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus. Wir sind eine Meldestelle für Antisemitismus auch unterhalb der Strafbarkeitsgrenzen. Unsere Aufgabe unter anderem ist es, Antisemitismus auch als Alltagsphänomen sichtbar zu machen.

Julia: Mein Name ist Julia Kopp. Ich bin bei der Recherche und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) hier in Berlin. Ich freue mich heute Christina Feist begrüßen zu dürfen, die in Paris lebt, ihre Promotionsarbeit dort schreibt und Nebenklägerin im Prozess war. [...] Wenn du zurückdenkst, wie geht es dir aktuell?

Christina: Ja, erst einmal danke, dass ihr euch Zeit nehmt für mich. Ich freue mich sehr, dass wir nochmal sprechen können. Ich finde es ganz krass, dass schon über einen Monat vergangen ist, seit der Prozess zu Ende gegangen ist.
Und mir gehts auch ganz gemischt. Also im Grunde gehts mir eigentlich ganz gut, denke ich. Gleichzeitig ist es natürlich irgendwie auch eine Art von Balanceakt zwischen meinem Alltag oder dem Versuch, wieder in den Alltag zurückzufinden. In Paris, wo es mir eigentlich ganz gut geht, abgesehen von der Pandemie und den Einschränkungen. Und dann kommen immer wieder die Erinnerungen an den Prozess dazu und da wird es dann sehr, sehr unschön. Da gehts mir dann nicht mehr gut, da bin ich ja... Das belastet mich sehr und das führt auch dazu, dass ich eigentlich seit ich wieder zurück bin in Paris (nach Prozessende); Ich bin am 24. Dezember wieder nach Paris zurückgeflogen und ich habe seither eigentlich Schlafstörungen, Alpträume und so weiter, weil ich einfach jetzt erst tatsächlich diese letzten Wochen und Monate verarbeite. Dafür war einfach bisher nicht wirklich Zeit und das ist natürlich enorm belastend.
Und dazu kommt dann natürlich auch noch diese Urteilsbegründung, mit der ich alles andere als zufrieden bin, die mich schon verletzt hat, allein aus Solidarität zu den beiden Nebenklägern, die es tatsächlich ja auch persönlich trifft. Das führt dann irgendwie auch zu so einer ganz seltsamen Mischung an Gefühlen. Dann gibt es Tage, an denen geht es mir gut und Tage, an denen geht es mir dann weniger gut.
Ja, es ist schwierig und es ist irgendwie kaum vorstellbar, dass es schon so lange her ist, wenn man so möchte.

Julia: Kannst du was zu der Urteilsbegründung sagen und was du damit genau meinst.

Christina: Ja, also grundsätzlich ist es ja so, dass der Angeklagte, “Täter” mittlerweile, schuldig gesprochen wurde und eine lebenslange Freiheitsstrafe bekommen hat. Das ist wenig überraschend, sag ich mal vorsichtig. Das war in irgendeiner Form ja abzusehen. Was mich an der Urteilsbegründung massiv stört – wobei das auch schon zu schwach ist, dass es mich nur stört – was mich verletzt und was mich trifft und was mich wütend macht, ist, dass zwei Nebenkläger, und zwar Aftax und İsmet beide eigentlich in diesen Prozess hineingegangen sind mit dem Hauptanliegen, dass sie beide die juristische Anerkennung dafür bekommen, dass sie Betroffene versuchten Mordes aus rassistischen Motiven sind. Beide waren immer wieder beim Prozess. İsmet war jeden einzelnen Tag da; beide haben ihre Zeugenaussagen gemacht; beide haben geschildert, wie sehr sie dieses Attentat und das Trauma, das sie davon mitgenommen haben bzw. bekommen haben, nach wie vor belastet und einschränkt; wie sehr das ihr Leben einschränkt. Es ist auch vollkommen klar, wie diese Verletzungen zustande gekommen ist bei den beiden. Und trotzdem in der Urteilsbegründung hat die Richterbank bzw. die Vorsitzende Richterin, die das Urteil vorgetragen hat, ihnen diese juristische Anerkennung nicht gegeben. İsmet hat überhaupt keine Anerkennung bekommen, soweit ich mich erinnere. Und bei Aftax wurde es, wenn ich mich nicht irre, auf schwere Körperverletzung “heruntergestuft” sozusagen. Das Ergebnis ist und das finde ich ja fast schon dreist... Das Ergebnis ist, dass dem Täter die Fahrerlaubnis entzogen wird.
Insgesamt finde ich das ganz katastrophal – einfach auf menschlicher Ebene. Und dann kommt da natürlich auch dazu, dass wir in diesen letzten Monaten innerhalb der Nebenklage zwangsläufig – wir kennen einander, wir mögen einander; es hat sich eine Solidarität und ein Gefühl der Unterstützung und der Gemeinsamkeit gebildet. Und ich saß zum Zeitpunkt der Urteilsverkündung auch im Gerichtssaal neben İsmet. Ich kenne İsmet mittlerweile sehr gut. Wir verstehen uns auch sehr gut und wir sind uns in vielen Dingen recht ähnlich. İsmet saß neben mir, als die Richterin diese Urteilsbegründung verlesen hat und als klargeworden ist, dass sie ihm diese Anerkennung nicht gibt und auch mit welcher Begründung dahinter. Ich hatte den Eindruck, dass İsmet neben mir, wie ein Turm in sich zusammengestürzt ist. Er ist einfach eingestürzt und eingeknickt – vollkommen zu Recht auch. Ich hatte ihm angeboten “Komm İsmet, lass mal rausgehen, lass mal drüber reden.” Er hat aber tatsächlich gesagt “Nein, er bleibt hier jetzt sitzen. Das Wichtigste ist, dass der Angeklagte, der Täter für den Rest seines Lebens ins Gefängnis kommt.”
Das hat mich krass getroffen, weil ich den Eindruck hatte, İsmet kann in dem Moment gar nicht so richtig zulassen, wie sehr ihn das trifft. Ich bin sehr erleichtert, dass er es dann am Ende dieses Gerichtstages bei der Kundgebung gegenüber des Gerichtsgebäudes doch noch geschafft hat das rauszulassen. Mittlerweile wissen wir ja auch, dass sowohl Aftax als auch İsmet Revision eingelegt haben und ich hoffe, dass es klappt. Ich stehe natürlich hinter den beiden, so wie die anderen auch.

Julia: Du hast auch schon erzählt, wie sehr dich die Erfahrungen in deinem Alltag gerade prägen, in Paris. Gibt es bestimmte Dinge, die dir helfen, damit umzugehen?

Christina: Ich habe zum Glück sowohl in meiner Gemeinde hier sehr viel Unterstützung als auch in meinem Freundeskreis in Paris. Ich gehe viel spazieren und ich versuche es tatsächlich einfach langsam anzugehen. Ich habe – so komisch das auch klingt – das Glück in den letzten Monaten gehabt, mich selbst quasi im konstanten Krisenzustand kennengelernt zu haben. Ich weiß mittlerweile in etwa, was ich brauche und was ich wann brauche. Was mir enorm hilft, ist einfach Zeit zum Hirn abschalten, Zeit zum mit meinen Gedanken alleine sein und Bewegung an der frischen Luft. Ich gehe viel spazieren.
Mein Boxclub hat leider immer noch geschlossen aufgrund der Pandemie, aber ich glaube wir fangen demnächst an mit dem Training im Freien. Ein bisschen was dürfen wir mittlerweile und darauf freue ich mich schon sehr. Ich glaube, es ist tatsächlich Zeit, meine Energie und meine Wut auch an einem Boxsack auslassen zu können.

Dora: Um nochmal zurückzukommen auf die letzten Monate, auf die Zeit des Prozesses: Du bist regelmäßig aus Paris angereist, nach Magdeburg und warst auch bei fast jeder Sitzung anwesend. Wie würdest du deine Erfahrungen dort beschreiben im Gericht?

Christina: Ja, es war insgesamt einfach enorm anstrengend. Wie du richtig sagst, ich bin fast jede Woche hin und her gependelt. Zum Glück habe ich tatsächlich, diese körperliche Belastung, ist einfach anstrengend, erst relativ spät gemerkt. Es hat sich dann auch, was mir enorm geholfen hat – ich bin ein Routinetier; es hat sich ab einem gewissen Zeitpunkt eine Routine eingestellt, weil ich den immer gleichen Flug hatte, im immer gleichen Hotel übernachtet habe, mit dem immer gleichen Zug gefahren bin. Das hilft mir enorm. Das gibt mir einen Rahmen und das stabilisiert mich in irgendeiner Form.
In Magdeburg selbst… Ich habe eine eigenartige Beziehung zu dieser Stadt. Ich kannte Magdeburg davor eigentlich so gut wie nicht. Ich war zweimal dort und kannte eigentlich nur den Bahnhof vom Umsteigen. Das ist ganz interessant, weil ich habe zu Magdeburg gar keinen Bezug außer diesen Prozess und es hat sich bei mir aber durch dieses – wie soll ich sagen; ich habe so viel Empowerment mitgenommen aus diesem Prozess und aus der Möglichkeit, dass wir als Nebenkläger*innen so eine starke Stimme haben durften. Uns wurde enorm viel Platz gegeben im Gerichtsgebäude und auch draußen. Das hat mir enorm viel Kraft gegeben, Motivation gegeben und auch ein gewisses Selbstbewusstsein. Was ich an mir beobachtet habe, ist auch, dass ich mich in Magdeburg ganz anders bewege als an wahrscheinlich allen anderen Orten auf dieser Welt. Ich bewege mich mit sehr viel mehr Selbstbewusstsein und habe tatsächlich überhaupt kein Problem, ganz deutlich zu sagen, was für mich geht und was nicht und was ich jetzt brauche. Das ist etwas, womit ich sonst im Alltag immer wieder mal Schwierigkeiten habe, dass ich mich nicht traue, Dinge direkt auszusprechen, direkt zu formulieren. In Magdeburg ist das tatsächlich ganz anders. Dort bin ich nicht unbedingt ein völlig anderer Mensch, aber sehr viel selbstbewusster und hab tatsächlich sehr viel weniger Angst.

Dora: Wie war das für dich im Verlauf des Prozesses? Gab es verschiedene Entwicklungen, gab es Brüche für dich, die du da wahrgenommen hast? Also im Gericht selber, im Prozess, in der Begleitung durch die Richterin?

Christina: Lass es mich so formulieren: Ich denke, alle, die in diesem Gerichtssaal auch nur einen halben Tag verbracht haben, egal in welcher Funktion... Ich glaube, wir haben da alle irgendetwas davon mitgenommen. Ich glaube, das hat niemanden völlig unberührt und kalt gelassen.
Wenn ich so zurückdenke, ich habe mit meiner Kritik an der Vorsitzenden Richterin nie wirklich hinter den Berg gehalten; ich habe daraus keinen Hehl gemacht. Ich stehe nach wie vor dazu. Was mich besonders trifft und besonders ärgert – zu einem guten Teil auch an mir selbst – dass ich gerade am Prozessanfang bemerkt habe, dass die Richterin, die Staatsanwaltschaft und auch die Anwälte der Verteidigung sprachlich enorm unsensibel sind. Ich hatte den Eindruck, dass die sich überhaupt nicht darum bemüht haben, vorab sich in irgendeiner Form zu sensibilisieren oder zu überlegen “Wie kann ich in so einen Prozess, in Deutschland, im Jahr 2020 sprechen? Was kann ich sagen, was kann ich nicht sagen? Wie kann ich mich ausdrücken?” Ich glaube, dass sich da viele damit überhaupt nicht auseinandergesetzt haben vorher. Das war ganz deutlich zu bemerken. Ich fand es besonders schlimm, dass die Richterin das nicht geschafft hat. Ich war da nicht alleine mit meiner Kritik und ich hatte aber trotzdem den Eindruck, gerade so gegen Prozessende hin, dass sich doch eine – “Kritikfähigkeit” finde ich ein unpassendes Wort… Ich glaube, da hat sich doch eine Art von Entwicklung eingestellt, wo ich den Eindruck hatte: Okay, sie hört uns, sie hört uns, sie hört, was wir sagen und es dauert vielleicht einfach, weil sprachliche Sensibilisierung auch nicht von heute auf morgen passieren kann, aber sie nimmt diese Dinge mit und sie hört uns zu. Ich hatte den Eindruck, dass da tatsächlich etwas in Bewegung kommt und habe mich gefreut und dachte mir “Hey, wow, wir werden gehört! Cool, da passiert was…”
Dann – und das war für mich wirklich wie ein Schlag ins Gesicht – kam dieser Tag der Urteilsverkündung… Diese Urteilsbegründung war sprachlich so unsensibel und so rückschrittlich. Ich fand das viel krasser als den Prozessanfang. Das entsetzt mich und ärgert mich dann auch an mir selbst, weil ich das Gefühl habe, ich bin dazwischen irgendwie leeren Versprechungen oder leeren Worten in Richtung “Ich bemühe mich zu Sensibilisierung” usw. auf den Leim gegangen. Das ärgert mich, weil ich hab mich dann auch bemüht, in meiner Kritik ein bisschen vorsichtiger zu sein und einen größeren Toleranzbereich zu haben. Das ärgert mich jetzt und ich werfe mir das auch ein bisschen selber vor.
Das kann ich so aus meiner Prozessbeobachtung berichten, was sich für mich selbst eingestellt hat, auf ganz persönlicher Ebene: Ich war bei den ersten beiden Prozesstagen im Juli dabei, in der Woche danach dann nicht – was auch sehr, sehr gut so war, weil die ersten beiden Prozesstage haben mich tatsächlich umgeschmissen. Das war emotional sehr viel belastender als ich dachte. Sehr viel krasser, als ich schon dachte, dass es wird. Es ging ja an diesen ersten beiden Prozesstagen auch tatsächlich um den Angeklagten. Er wurde ja befragt; es war ein Frage-Antwort-Hin-und-Her zwischen ihm und der Richterin. Es war einfach enorm viel. Das hat für mich alles wieder zurückgebracht: Die Erinnerung an das Attentat... alles wieder ganz, ganz nah zurückgebracht. Es war enorm belastend für mich und ich habe dann tatsächlich auch in der Woche danach einfach eine Pause gebraucht. Ich war, wenn man so möchte, nicht ansprechbar. Ich war völlig raus und habe mich eine Woche lang nur ausgeruht. Ich bin sehr froh, dass ich das geschafft habe und mich nicht irgendwie dann doch noch dazu hinreißen lassen, in der zweiten Woche nochmal nach Magdeburg zu fahren. Ich glaube, das hätte ich nicht geschafft.
Ich kann mich noch gut erinnern. Ich habe meine Zeugenaussage im Prozess dann am 2. September gemacht. Wenn ich so zurückdenke: Meine Vorbereitung auf diese Zeugenaussage – ich musste das natürlich irgendwie vorbereiten, überlegen, “Was ist mir wichtig, was will ich sagen?” Ich wollte vermeiden, dass ich dann irgendwie unorganisiert, unstrukturiert spreche. Ich habe das tatsächlich ganz, ganz lange vor mir hergeschoben, weil ich mich wirklich nicht damit beschäftigen wollte, weil ich wusste, es wird emotional schwierig. Am Abend vor meiner Zeugenaussage war ich immer noch nicht dabei, mich vorzubereiten. Ich kann mich noch sehr, sehr gut erinnern, wie unglaublich viel Angst ich einfach vor diesem Moment hatte, wo ich mich hinsetze, mich konzentriere und mir ein paar Notizen mache.
Gerade in Magdeburg habe ich immer körperlichen Ausgleich gebraucht. Ich bin immer joggen gegangen und habe manchmal shadow boxing gemacht oder Bäume geboxt, einfach um mich abzureagieren und mich ein bisschen auszugleichen. Ich kann mich erinnern, ich bin an dem Abend vor meiner Zeugenaussage auch joggen gegangen, habe auch an einen Baum geboxt, bin dann zurückgekommen ins Hotel und bin tatsächlich irgendwie eingebrochen. Ich saß dann, ich glaube eine gute halbe Stunde heulend in der Dusche. Das hab ich gebraucht und das war der erste Angstknoten, der sich dann gelöst hat und dann hab ich mich hingesetzt und habe das alles einfach mal aufgeschrieben und wirklich rausgelassen. Meine Erinnerungen an diesen Tag des Attentats und das war dann auch nicht richtig zusammenhängend, sondern das waren so Erinnerungsfetzen, einzelne Einzelaufnahmen sozusagen. Es war aber sehr wichtig, das zu machen. Und was sich dann für mich damit eingestellt hat, war, dass sich der Fokus komplett verschoben hat.
Anfang September haben alle Zeugen und Zeuginnen bzw. Betroffenen ihre Aussagen gemacht. Das heißt, wir haben jede Woche neue Aussagen gehört und das war für mich enorm wichtig. Für mich einerseits wichtig, von den anderen nochmal zu hören, wie sie diesen Tag erlebt haben, weil darüber hatten wir nie irgendwie gesprochen. Das hat mir auch nochmal eine andere Perspektive gegeben und einige Puzzle-Teile zusammengefügt. Das war für mich aber auch enorm wichtig zu hören, wie es den Menschen danach gegangen ist. Ich wusste von einigen schon, dass wir ähnliche Symptome hatten und mit ähnlichen Problemen gekämpft haben. Aber es hat einfach gutgetan, nochmal zu merken, dass ich mit meinem Schmerz in dem Moment auch nicht alleine war. Was für mich dann auch ganz, ganz wichtig war, ist, dass der Fokus vom Angeklagten komplett sich verschoben hat auf die Nebenkläger und Nebenklägerinnen. Das habe ich persönlich gebraucht. Ich glaube, ich wäre sonst nicht durch die anderen, die weiteren Prozessmonate bis Dezember gekommen. Der Angeklagte hat mich dann nicht mehr wirklich interessiert. Er war halt da und er hat ja weiterhin versucht, irgendwie in irgendeiner Form seine Ideologien auszubreiten oder zumindest uns zu stören, zu verwirren, einzuschüchtern. Das hat mich überhaupt nicht mehr interessiert. Ich glaube, das war auch für die Außenperspektive, für die Öffentlichkeit auch wichtig, für das Narrativ.
Es war wichtig, dass es hier nicht um diesen Angeklagten geht, sondern es geht um uns. Es geht um die Betroffenen und es geht um das größere Ganze.

Dora: Das war ja auch immer eine Forderung von euch als Nebenklage, dass es genau um euch geht und nicht um den Attentäter an sich, sondern dass er nur stellvertretend sozusagen steht für die Ideologie, die gesamtgesellschaftlich verbreitet ist und die er nicht alleine entwickelt, hat und um gegen die Einzeltäterthese vorzugehen. Wie hast du die öffentliche Debatte zum Prozess erlebt? Hattest du das Gefühl, dass ihr gehört werdet?

Christina: Das ist eine spannende Frage. Ich habe am Anfang, also im Juli und ich glaube so die ersten zwei Septemberwochen die Medienberichte ein bisschen verfolgt und danach eigentlich nicht mehr. Ich habe selbst zwar sehr viel mit Medien gesprochen, aber tatsächlich nie wirklich geguckt, was daraus wurde, weil das einfach zu viel war dann in dem Moment.
Ich kann es so formulieren: Ich weiß, dass gerade unser – ich formuliere das jetzt relativ allgemein... Ich glaube, die Nebenklage hat insgesamt einfach als Anliegen gehabt: “Reproduzieren Sie die Ideologie des Täters nicht, zeigen Sie sein Gesicht nicht und nennen Sie seinen Namen nicht”, weil er diese Bühne wollte und wir sie ihm nicht geben wollten. Wir haben die Medien auch immer wieder darum gebeten, sich daranzuhalten. Ich war sehr überrascht, dass es bei manchen tatsächlich funktioniert hat.
Ich habe das gemerkt – gerade die Medienvertreter und Medienvertreterinnen, die wirklich oft und regelmäßig beim Prozess waren – Irgendwann kennt man einander auch schon... Ich habe gemerkt: da hat sich was verändert, da hat sich was getan. Da gab es welche, die sind dann auf mich oder auf uns zugekommen und gesagt “Hey, wir haben euch gehört. Wir haben dieses und jenes Foto offline genommen. Hey, wir haben euch gehört. Wir nennen jetzt nur noch den Vornamen und den Nachnamen abgekürzt oder so.” Und das ist total schön. Damit hab ich ehrlich gestanden nicht gerechnet. Gleichzeitig stellt sich damit natürlich auch die Frage “Woran scheitert das bei den anderen?” Warum schaffen es andere Medien dann nicht, diesen Wunsch auch zu respektieren? Ich finde das sehr verwirrend und vor allem noch seltsamer, weil ich auch weiß, wer diese Entscheidungen letztlich fällt. Das sind ja nicht die einzelnen Redakteure und Redakteurinnen, die für den Artikel oder das Videointerview zuständig sind, sondern das ist die Chefredaktion. Ich habe mit einigen Journalist*innen gesprochen, die mir gesagt haben “Hey, ich hab das weitergetragen, aber die Chefredaktion hat gesagt: Nein.” Das finde ich ganz, ganz, ganz krass und das finde ich auch enorm schockierend, dass gerade anscheinend diese Entscheidung von Menschen gefällt wird, die ja nicht mal da sind; die nicht beim Prozess sind; die uns nicht kennen; die uns auch nicht live vor Ort hören. Das finde ich enorm irritierend.
Was ich sonst zum öffentlichen Diskurs – wenn man so möchte sagen kann – ist, dass es in Magdeburg vor dem Gerichtsgebäude jede Woche eine Solidaritätskundgebung gab. Das hat mich enorm beeindruckt. Da waren immer Menschen, je nach Pandemie, mal mehr, mal weniger. Aber die waren immer da. Und das hat mir so viel gegeben. Also es gab tatsächlich Momente, wo ich mir nicht mehr sicher war: “Will ich jetzt wirklich noch an diesem Prozess teilnehmen? Will ich da wirklich noch hinfahren?” Weil ich einfach nicht mehr konnte teilweise und dann ja gerade morgens, wenn ich da schon angekommen bin und gesehen hab: es regnet, ist es kalt, ist es neblig und da stehen trotzdem die Menschen der Solidaritätskundgebung. Das hat mir enorm viel Kraft gegeben und ich wusste auch, die sind da, egal was passiert. An ein paar Tagen waren ja dann auch mal mehr Menschen da. Und einige von uns Nebenklägern, Nebenklägerinnen haben auch gesprochen auf der Kundgebung.
Und was mich enorm beeindruckt hat, ist, dass dort Menschen auf mich zugekommen sind und gesagt haben “Hey, ich hör dich; ich sehe dich; Danke, dass du das machst.” Und mehr braucht es auch nicht. Es gab auch Menschen, die sind einfach an mir vorbeigelaufen und gesagt “Danke” und sind weitergelaufen. Das klingt nicht nach viel, aber das ist wirklich alles, was ich gebraucht habe, wenn man so möchte. Ich weiß leider, dass das definitiv nicht die Mehrheitsgesellschaft ist. Das ist nicht die Mehrheit, aber das sind zumindest Menschen, die da sind und das war in dieser Momentaufnahme das Allerwichtigste für mich.

Julia: Auch aus der Außenwahrnehmung haben wir die Nebenklage so wahrgenommen, dass ihr als eine Art von Korrektiv während des Prozesses gewirkt habt und diese starke Solidaritätsbindung, die dann auch darauf gewirkt hat, dass das ganze Narrativ um diesen Prozess sehr stark mitgeprägt wird und das auch für die weitere Bearbeitung und Aufarbeitung dieses Prozesses einfach enorm wichtige Impulse gesetzt habt.

Dora: Ja, die Nebenklage im Halle-Prozess gilt auch als die aktivste jemals in so einem Prozess in Deutschland, das ist ja auch, was geschichtsträchtig ist in gewisserweise.

Christina: Ja, absolut. [...] Aber ich glaube, wir verdanken das zu einem guten Teil vor allem unseren Anwälten und Anwältinnen, die ja so einen Prozess nicht zum ersten Mal machen. Da sind viele dabei, die haben das NSU-Verfahren gemacht, Gruppe Freital usw. Die wissen schon, was eine Nebenklage machen kann.
Ich kann es nur von mir und meiner Anwältin sagen... Dr. Kati Lang hat mir von Anfang an gesagt: “Christina, was du machen möchtest – Ich helfe dir dabei, dass du das machen kannst, wenn du sprechen willst; wenn du dich ausdrücken willst und was du nicht machen kannst, weil du es nicht schaffst, das mach ich für dich, wenn du willst.“ Das war enorm wichtig für mich. Ich glaube, das hat sich auch durch die gesamte Nebenklage gezogen. Das ist bei allen quasi gleich gelaufen und das war auch tatsächlich so. Die, die wollten, haben nicht nur ihre Zeugenaussagen gemacht, sondern auch mit Medien gesprochen, auf der Kundgebung gesprochen; haben sich auch mit den Betroffenen und den Hinterbliebenen des Anschlags in Hanau solidarisiert. Es gab da enorm viel Vernetzung und Verknüpfung und das war alles möglich, weil uns der Raum gegeben wurde und weil wir aber auch von unseren Anwälten und Anwältinnen wirklich bestärkt wurden. Die haben von Anfang an gesagt: “Mach was du kannst und was du nicht kannst, mach ich für dich.”
Und was aber auch dazu kommt, gerade wenn es um diesen Gerichtssaal geht, dass der Nebenklage so viel Platz gegeben wurde, dass alle, die sprechen wollten, gehört wurden. Das ist, soweit ich das weiß, tatsächlich einzigartig und neu und das finde ich sehr großartig. Das finde ich toll und dafür bin ich dankbar, dass das funktioniert hat. Ich glaube, das hat einen sehr entscheidenden Unterschied gemacht. Allein persönlich, aus meiner Perspektive; Es hat mir enorm viel gegeben, da vorne zu sitzen oder auch beim Schlussplädoyer zu stehen, zu sprechen – auch wenn alle Masken aufhaben und man nicht genau einschätzen kann, wie die Menschen gerade reagieren – man merkt dann doch: Es gibt Zuspruch. Da gibt es Menschen in diesem Gerichtssaal und auch wenn es nur vielleicht wenige sind, aber die sind da und die hören zu und die wissen, was hier passiert und das hat mir persönlich enorm viel gegeben, weil ich wusste “Hey, ich mache das hier nicht umsonst. Ich streng mich hier nicht umsonst an, sondern es gibt zumindest eine Person in diesem Gerichtssaal, die hört mir zu und die nimmt das mit und denkt darüber nach.”

Julia: Wir haben gerade schon ein wenig über die öffentlichen Reaktionen auf das Verfahren gesprochen. Wenn du jetzt nochmal zurückdenkst an diese Zeit: Welche Reaktionen hast du auch ganz persönlich erfahren? Vielleicht auch außerhalb des Prozesses oder darüber hinaus?

Christina: Ja, das ist tatsächlich interessant, wenn ich so zurückdenke. Ich habe direkt am Tag nach dem Attentat damals Interviews gegeben, vor Ort noch – relativ lang auch. Ich glaub, ich hab zwei Stunden lang immer wieder mit den Medien gesprochen, die damals da waren. Das hat dazu geführt, dass mein Gesicht quasi von Tag eins in den Medien war. Das war auch der Anfang der Nachrichten von Personen, die ich nicht kenne per Social Media. Das ist insofern ganz interessant, weil mein Gesicht und mein Name waren in den Medien; Man kann mich auf Facebook und so weiter auch relativ einfach finden…
Da sind enorm viele Nachrichten reingekommen, geradezu so um den Zeitpunkt des Attentats herum und dann auch Anfang Dezember nochmal – damals war ich bei Günther Jauch. Dann ist es abgeebbt und ging mit Prozessbeginn wieder los. Auch da lässt sich das festmachen: zu Prozessbeginn und dann um den 9. Oktober 2020 herum und dann nochmal zum Prozessende. Das waren die Hotspots, wo die meisten Nachrichten reingekommen sind.
Was ich ganz interessant finde, ist die Entwicklung, die da passiert ist: Ich habe immer wieder Nachrichten bekommen, vor allem von Frauen tatsächlich, die mir schreiben “Hey, ich hab gehört, was du sagst. Ich finde das super, was du machst.” Das waren aber primär Frauen, die mir dann auch gesagt haben “Toll, dass du so eine starke Stimme hast. Es tut mir gut zu hören, dass eine Frau sich nicht unterkriegen lässt und eine starke und laute Stimme hat.” Das hat mir enorm viel gegeben einerseits – das bestärkt mich. Andererseits stellt sich dann natürlich auch die Frage… Es ist sehr auffällig, dass das hauptsächlich Frauen sind und ich finde das sehr schön. Gleichzeitig ist es natürlich auch ein Armutszeugnis für die Gesellschaft, wenn hauptsächlich Frauen dann sagen, wie sehr sie das bestärkt, eine andere Frau zu sehen, weil das so selten ist. Das ist schon krass.
Was sich auch dazu gemischt hat, sind sehr viele Nachrichten von Männern, wo tatsächlich nur drinsteht “Hey, hab dich im Fernsehen gesehen, du bist so schön. Wollen wir mal auf ein Gläschen gehen?” Das ist jetzt nicht wirklich dramatisch, aber doch irritierend, weil es wirklich viele sind und weil ich es einfach auch krass finde. Also in diesem Zusammenhang solche Nachrichten zu schicken. Ja. Das sind auch tatsächlich die Nachrichten, die ich nicht beantworte. Alle anderen Nachrichten beantworte ich normalerweise.
Es hat sich dann auch gerade im Dezember 2019… Und auch tatsächlich dieses Jahr wieder im Dezember gab's viele Nachrichten, die nicht unbedingt antisemitische Hassnachrichten sind, aber doch ein bisschen schwierig zu lesen sind, weil sie unsensibel sind und weil sie auch einfach aufzeigen, wie wenig Wissen es über Judentum und über jüdische Religion in der Mehrheitsgesellschaft gibt. Da hab ich auch eine ganz seltsame Mischung erhalten. Es gab Nachrichten, in denen steht drin “Hey, hab dich im Fernsehen gesehen, finde toll, was du sagst. Frohe Weihnachten!” Ich nehme das erstmal nicht als Beleidigung. Das ist auch nicht dramatisch. Ich antworte immer. Ich hab dann meistens zurückgeschrieben “Hey, vielen Dank, das ist ja nett, aber ich feiere kein Weihnachten – ich feiere Chanukka.“ Das war dann immer der entscheidende Moment, weil dann gab es Menschen, die antworten dann mit “Ja, wie jetzt? Ihr feiert kein Weihnachten? Was macht ihr denn dann am 24. Dezember?” Was mich so ein bisschen zum Schmunzeln bringt, aber auch gleichzeitig zeigt, wie gar kein Wissen vorhanden ist über Judentum und offensichtlich auch Christentum. Dann gab's Menschen, die auf meine Nachricht “Hey, danke, aber ich feier Chanukka und nicht Weihnachten” tatsächlich antworten mit “Ja, ich weiß, aber am Ende des Tages sind wir doch alle Kinder Gottes.” Da wird es für mich dann unangenehm, weil das heißt dann bewusste Ignoranz und das heißt: Ich zwinge dir meine Religion auf. Da wird es für mich dann unangenehm und das mag ich nicht. Da antworte ich dann meistens nicht mehr.
Es gibt dann sozusagen… Man kann das so ein bisschen graduell sehen. Es gibt die ja, nennen wir es mal “Belästigung”. Die, die mir schreiben “Hey, du bist zu schön, lass mal auf ein Gläschen gehen”, dann gibt's die Variante “ignorant und unsensibel” – das ist schon die Steigerungsstufe und dann die nächste Steigerungsstufe sind Nachrichten, die ich als antisemitisch werte – das deutsche Strafgesetz aber nicht. Man muss da relativ viel aushalten, wie ich mittlerweile gelernt habe. Man muss viel aushalten können, bis die Grenze der Strafbarkeit erreicht ist. [...] Ich glaube, das sind die meisten, die ich bekommen habe, fallen in diese Kategorie.
Das sind Nachrichten und Kommentare, in denen Sachen drinstehen wie “Ich weiß nicht, was ihr euch jetzt alle so aufregt hier. Euch Juden ist doch eh nichts passiert.” Das sind Nachrichten, die meine Wahrnehmung infrage stellen, dass es in Deutschland ein massives Problem mit Antisemitismus und Rassismus gibt. Das sind auch Nachrichten, die mein Trauma verharmlosen und bagatellisieren und mir vorwerfen, ich sei hysterisch, paranoid. Das liegt definitiv auch daran, dass ich eine Frau bin. Ich frage mich dann immer wieder, was würde ich für Reaktionen bekommen – gerade auf mein Trauma – wäre ich ein Mann.

Julia: Das wäre auch meine Frage. Inwiefern bist du da auch als Frau mitgetroffen?

Christina: Ich merke das auch ganz, ganz stark daran, wie Nachrichten formuliert werden. Es wird mir dann tatsächlich einfach unterstellt, ich würde übertreiben, ich sei hysterisch. Ich merke das aber auch ganz krass an den Reaktionen auf meine Redebeiträge. Es gibt davon ja Videos. Manche Menschen sehen das auch vor Ort und da haben wir dann im Nachhinein per Twitter oder so geschrieben und die werfen mir meine Wut vor. Das ist total interessant: Die werfen mir vor, dass ich wütend bin und sprechen mir gleichzeitig das Recht ab, wütend zu sein.
Das sind immer Cis-Männer – immer – die mir den Vorwurf machen, ich solle mich doch jetzt nicht so aufregen und ich soll doch nicht immer so laut sein und diese Wut steht mir nicht und so weiter. Und da ist für mich einfach vollkommen klar: da geht es um mich als Frau. Da ist das Problem, dass ich eine Frau bin und mich nicht mundtot machen lasse, dass ich trotzdem eine starke und laute Stimme habe, wenn man so will; und, dass ich mich auch von solchen Kommentaren und von solchen Männern nicht unterkriegen lasse.
Ich glaube, was da auch mit reinspielt, ist die Tatsache, dass ich blond und blauäugig bin und damit tatsächlich irgendwie auch so dem klischeehaften Püppchen-Schema vielleicht entspreche oder vielleicht von mir noch mehr erwartet wird in irgendeiner Form, dass ich lieb und brav bin und klein beigeben – und das mache ich aber nicht. Ich merke ganz, ganz deutlich, wie viele Menschen da draußen sich echt einfach davon – und da geht es gar nicht darum, was ich sage, sondern nur wie ich es sage – auf den Schlips getreten fühlen. Da geht es ganz offensichtlich um mich als Frau mit Stimme.

Julia: Du reagierst dann auf solche Nachrichten und entwickeln sich dann daraus Diskussionen oder endet damit das Gespräch oder eskaliert es dann zunehmend? Was sind deine Erfahrungen, wenn du dann darauf reagierst und da dann Stellung beziehst?

Christina: Was ich zum einen gemerkt habe, ist, dass es natürlich ein gravierender Unterschied ist, ob das Privatnachrichten sind oder Kommentare. Was ich auch gemerkt habe ist, dass es ein Unterschied ist zwischen Facebook und Twitter. Das ist sehr spannend.
Grundsätzlich ist es so, wenn es Kommentare sind – öffentlich lesbar auf Facebook oder auf Twitter – hab ich festgestellt; es schalten sich mehr oder minder sofort immer Freund*innen von mir ein; Menschen, die mich kenne, die sich solidarisieren und mir sofort beispringen, was ich total schön finde. Da ist es dann tatsächlich auch eigentlich immer so, dass der User, die Userin, die mit ihren, sagen wir mal Hasskommentaren begonnen haben, einfach irgendwann aufhören und still sind.
In den privaten Nachrichten sieht es anders aus. Da sind mit ein paar Usern auch schon tatsächlich – “Diskussion” kann man nichts sagen – längere Gesprächsverläufe entstanden. Es gab z. B. einen User, der mir geschrieben hat in relativ aggressivem Tonfall, unächst: „Ja, er weiß jetzt gar nicht, warum wir uns aufregen. Also einerseits ist uns Juden, Jüdinnen in der Synagoge ja eh nichts passiert und andererseits: Ich soll mich jetzt gar nicht beschweren über Deutschland und die Mehrheitsgesellschaft, weil in meinem Land (das er natürlich als Israel annimmt) ist es ja auch nicht so toll und ich soll mal gucken, was die da machen.“ Das ist natürlich auf vielen Ebenen sehr problematisch. Das relativiert mein Trauma. Das ist antisemitisch und das ist aber auch antizionistisch.
Ich hab mir damals tatsächlich die Zeit genommen und hab dann zurückgeschrieben. Ich versuche da immer sehr ruhig zu bleiben. Ich mache einen Schritt zurück, atme erst mal tief durch und schreibt dann möglichst sachlich: “Vielen Dank für Ihre Nachricht” und versuche dann die Punkte anzusprechen, die für mich nicht funktionieren und die auch einzuordnen und zu sagen “Hey! Informieren Sie sich doch mal über Antisemitismus oder Antizionismus usw.” Daraus entstand ein Gespräch. Und das Verrückte daran war, das Gespräch endete in irgendeiner Form damit, dass dieser User festgestellt hat, so wie er mit mir kommuniziert, das funktioniert für mich nicht. Ich fühle mich angegriffen. Ich fühle mich beleidigt und verletzt und dachte dann aber aus irgendeinem Grund, dass es mich jetzt beschwichtigt oder beruhigt, wenn er mir sagt, er steht ja ohnehin auf meiner Seite. Und dann hat er mir geschrieben; “Ja, ich stehe… Aber sie brauchen jetzt keine Angst haben vor mir. Ich stehe auf Ihrer Seite. Ich bin ja politisch Ihrer Meinung.” Das fand ich ganz krass, weil auch da wieder ganz deutlich hervorgeht, wie viel Unwissen es gibt.
Es gibt Antisemitismus von rechtsradikalen Politikern und Politikerinnen, aber es gibt auch Probleme mit Antisemitismus in der linken Szene. Und jemand, der sich – auch wenn nur online und über soziale Medien – hinstellt und sagt “Hey, bin politisch auf deiner Seite, habe nichts gegen Juden, aber Israel finde ich scheiße.” Das funktioniert halt auch nicht. Das macht es einfach nicht besser. Und das dürfte den Menschen aber nicht klar sein. Das finde ich auch enorm problematisch.

Julia: Gibt es Sachen, bei denen du gemerkt hast, das funktioniert gut in Reaktion auf solche Nachrichten? Du hast gerade schon gesagt, wenn Freunde, Freundinnen, Bekannte solidarisch beispringen, dass das einen Effekt hat. Fällt dir sonst noch irgendwas ein, bei dem du sagst, das hat irgendwie erfahrungsgemäß gut funktioniert? Oder gibt es halt User, da gibt es überhaupt keine Möglichkeit, weil der Drang, sich zu äußern, so stark darauf gerichtet ist, sich antisemitisch oder misogyn zu äußern, dass man da gar keine Möglichkeit hat, darauf zu reagieren?

Christina: Ja… Bisher ist es mir noch nicht passiert, dass daraus in irgendeiner Form ein konstruktiver Diskurs entstanden ist. Das erwarte ich mir auch nicht. Mit dieser Erwartungshaltung geh ich da auch nicht rein. Ich beantworte diese Nachrichten deshalb, weil es mir einfach wichtig ist. So bin ich als Person, so funktioniere ich als Mensch. Mir ist es wichtig, solche Angriffe Beleidigungen nicht unkommentiert stehen zu lassen. Ich möchte nicht, dass auf der anderen Seite der Eindruck entsteht, ich hätte mich jetzt davon in die Flucht schlagen lassen.
Was für mich persönlich sehr gut funktioniert, ist tatsächlich erstmal Handy weglegen, tief durchatmen, ein Schritt zurück machen und ich nehme dann die Zeit. Ich nehme mir die Zeit, die ich brauche, um das emotional einzuordnen und um auch zu überlegen, wie kann ich darauf jetzt reagieren und was für mich sehr gut funktioniert und was glaube ich auch so ein bisschen die Daumenregel ist, ist, dass ich ganz ruhig bleibe, sachlich und höflich. Ich bin immer höflich und ich bleibe immer auf einer reinen Sachebene.
Alle diese Nachrichten, nichts davon ist sachlich. Alles geht in irgendeiner Form auf die emotionale Ebene. Die meisten Nachrichten davon soll mich provozieren und ich lasse mich nicht provozieren. Ich merke auch, dass das in irgendeiner Form funktioniert, wenn man so möchte, weil ich schon das Gefühl habe, dass diese User, diese Userinnen irgendwann auch keine Lust mehr haben.
Was ich auch merke, das ist ja mein subjektiv persönliches Amüsement. Ich lege grundsätzlich enorm viel Wert auf Höflichkeit. Immer egal wo, egal warum. Es gibt viele, die mich anschreiben und mich erst einmal duzen. Und wenn mich jemand duzt, den ich nicht kenne und der mich dann auch noch beleidigt, und zwar massiv – das funktioniert für mich nicht und das lasse ich auch nicht zu. Ich schreibe dann auch sehr gerne einfach zurück: “Ich würde Sie bitten, die Höflichkeitsform zu warnen. Wir kennen einander schließlich nicht.” Das Lustige daran ist, das funktioniert dann meistens. Also diese Menschen beschimpfen mich dann trotzdem, aber sie siezen mich dabei. Das sind Kleinigkeiten... Aber in irgendeiner Form freut mich das, weil ich mir dann denke “Hey, du hörst mir ja auch noch zu. Du liest ja, was ich sage.” Irgendetwas davon kommt schon an.
Aber ja – konstruktive Diskurse entstehen daraus nicht. Und ich bezweifle auch stark, dass ich jetzt auf diese Menschen wahnsinnig viel Einfluss habe oder dass sie sich tatsächlich zu den Begriffen und Themen informieren, die ich ihnen vorschlage.

Dora: Es ist ja auch super spannend, dass Leute deine Rede tatsächlich hören in Person und dir dann hinterher online schreiben. Das zeugt ja auch schon davon, dass da wenig Bereitschaft ist, tatsächlich irgendwie ins Gespräch zu kommen, sondern dass es da nur darum geht, dir ihre Meinung zu sagen und irgendetwas auf dich zu projizieren.

Christina: Ja, ganz genau. Es gab im Herbst September/Oktober einen Twitter-User. Mit dem habe ich mich jeden Dienstag, aber vor allem Mittwoch (die Prozess-Verhandlungstage) auf Twitter gestritten. Ich wusste glaube ich erst ab zwei oder drei Wochen, dass der tatsächlich auch beim Prozess vor Ort ist. Ich wusste das bis dahin nicht. Ich dachte, das ist einfach irgendein User und ich wurde dann darauf hingewiesen. Er war, glaube ich, an fast jedem Prozesstag da und er hat meine Zeugenaussage gehört und er hat meine Reden gehört. Er ist trotzdem nicht müde geworden – zumindest mittwochs dann immer, das war immer der zweite Prozesstag – auf Twitter dann irgendwo drunter zu kommentieren und mich zu markieren und mein Trauma zu verharmlosen, meine Wahrnehmung infrage zu stellen, mir zu widersprechen, was ja grundsätzlich nicht schlimm ist, aber auf eine Art zu widersprechen, die offensichtlich dazu gedacht ist, zu provozieren und nichts mit einem konstruktiven Diskurs zu tun hat. Auch da hat mir ein Freund von gesagt: “Christina, wozu denn? Lass es doch das ist es nicht wert.” Aber ich finde das trotzdem wichtig, dass das nicht stehen bleibt für mich, dass das nicht unkommentiert stehen bleibt. Und ich hab mich mit dem immer wieder gestritten auf Twitter und da tatsächlich auch für mich entdeckt, was manchmal einfach ganz gut klappt, ist dann, dass ich das Gespräch beende.
Gerade bei solchen Menschen, die geben oft vor, dass sie mit dem Wunsch nach einem konstruktiven Diskurs in so eine Debatte, in so einen Austausch hineingehen und wenn ich dann aber merke, wir drehen uns im Kreis und da kommt jetzt immer das Gleiche wieder und die lesen ja nicht einmal, was ich sage, dann schreibe ich meistens einfach: “Sie sind ja offensichtlich einem konstruktiven Austausch nicht interessiert und hiermit beende ich das Gespräch dann auch.” Das Spannende daran ist, das funktioniert. Da ist dann auch tatsächlich Ende. Dieser Twitter-User hat dann einfach irgendwann aufgegeben oder keine Lust mehr gehabt. Ich habe jedenfalls schon lange nichts mehr von ihm gehört – ist wahrscheinlich auch ganz gut so.

Julia: Gibt es weitere Erfahrungen im letzten Jahr, bei denen du sagen würdest, dass die dich besonders geprägt haben oder die dir noch besonders im Kopf sind?

Christina: Ja, was ich insgesamt sagen kann ist, dass die meisten der Hassnachrichten – es sind ja nicht alle so schlimm, aber die meisten der Nachrichten, die mich verletzen, beleidigen, von denen ich mich angegriffen fühle, sei es aus misogynen und/oder antisemitischen Gründen – diese Nachrichten bestätigen mich ja. Die bestätigen meine Einschätzungen, die bestätigen meine Wahrnehmung, dass es in Deutschland nicht nur ein massives Antisemitismus- und Rassismusproblem gibt, sondern, das zeigt doch alles ein sehr schönes Stimmungsbild an den tatsächlichen Problemen - von Unwissen und Unbildung über jüdisches Leben angefangen bis hin zu der Reaktion auf Kritik an der Mehrheitsgesellschaft und auch Kritik, die von einer Frau kommt und so weiter. Mit jeder einzelnen Nachricht fühle ich mich in meiner Wahrnehmung bestätigt, dass diese Täter kein Einzeltäter ist und offensichtlich ein Symptom eines wesentlich größeren Netzwerks oder wesentlich größeren Problems.
Das war von Anfang an irgendwie klar. Es gab dann auch Nachrichten, die für mich wirklich eine Art Zäsur dargestellt haben, wo ich gemerkt habe “Okay, das ist definitiv jenseits der Grenze der Strafbarkeit und das ist ein ganz anderes Level. Das ist ein anderes Niveau.” Also es gab, bis zum Gedenktag oder Jahrestag – wenn man so möchte – dem 9. Oktober 2020, immer wieder antisemitische Nachrichten, die aber noch nicht strafbar sind. Dann kam die Zäsur. Dann kam der Moment, wo ich meine erste echte Hassnachricht bekommen hab und die war misogyn, die war frauenfeindlich und antisemitisch und die war sehr explizit. Das war keine Relativierung meines Traumas mehr. Das waren explizite Beschimpfungen. Die gingen zunächst gegen mich, glaube ich als Konzept, als jüdische Frau. Das war sehr deutlich. Das waren explizite Beschimpfungen und das waren auch ja Hassnachrichten, wo auch Drohungen mitgespielt haben. Das war nochmal ein ganz anderes Level.
Ich kann mich erinnern, als ich die erste Nachricht bekommen habe, die kamen, ich glaube, über Instagram. Ich hab das gelesen und mir ist erst einmal das Herz kurz stehen geblieben. Ich hatte ja so einen kurzen Schockmoment, wo ich Angst hatte und nicht wusste, was ich damit machen soll. Ich hab das Handy weggelegt, tief durchgeatmet und dann festgestellt, dass mich das doch sehr viel mehr mitnimmt als die „üblichen Hassnachrichten“. Ich hab dann auch tatsächlich darauf geantwortet mit dem gleichen Grundgedanken wie immer – ich möchte das nicht stehen lassen. Und daraus entstand – ein Gespräch kann man das nicht nennen – aber ein Hin und Her zwischen diesem User-Profil und mir, wo dieses User-Profil mich immer weiter beleidigt hat, immer weiter beschimpft hat. Es wurde immer hässlicher und das war dann tatsächlich auch der Moment… Ich hatte bis dahin die Hassnachrichten und Hasskommentare, die ich bekommen habe, zwar zur Kenntnis genommen, natürlich, aber ich hatte mich nie wirklich damit auseinandergesetzt – im Sinne von “was kann ich in so einem Fall machen?”
Diese Drohungen und diese Beschimpfungen, die ich dann um den 9. Oktober 2020 bekommen habe – das war das erste Mal, dass ich mich diesbezüglich auch mit RIAS in Verbindung gesetzt hab; mit Julia auch unglaublich oft und viel gesprochen habe. Du hast ja tatsächlich alles angehört. Ich habe diese Nachrichten dann einerseits bei RIAS gemeldet und gleichzeitig haben wir geguckt, was man da machen kann. Das war tatsächlich leider auch nicht das letzte Mal, dass ich so eine Nachricht bekommen habe. Das ging dann noch weiter – gerade auch mit der Urteilsverkündung. Da hat sich das dann nochmal ein bisschen geändert.
Also wo es um den 9. Oktober 2020 noch um mich als Konzept ging, glaube ich, um das, was ich verkörpere – sozusagen die Frau, die Jüdin und so weiter – ging es dann mit der Urteilsverkündung definitiv um mich als Person. Es hat dann das gleiche User-Profil auf Instagram nochmal geschrieben und ein anderes User-Profil auf Facebook. Da ging es dezidiert um mich als Person. Was mich dann nochmal wirklich schockiert hat und was mich wirklich mitgenommen hat, das ist das User-Profil auf Facebook auch zumindest für sich eine persönliche Beziehung zum Täter hergestellt hat. Da stand tatsächlich drin... Dieses Profil nennt seinen Vornamen und meint, er hätte dich ja doch mal erschießen sollen. Auch da ist mir tatsächlich kurz das Herz stehen geblieben.
Ich bin enorm dankbar dafür, dass meine erste Reaktion danach war: „Okay, ich rufe Julia an von RIAS“. Das war enorm wichtig für mich zu wissen, dass ich das machen kann. Und das hat mir auch gleich mal geholfen, das einzuordnen und darüber zu sprechen. Das beruhigt mich. Dieses User-Profil hatte mich auch sofort blockiert. Das heißt, ich konnte gar nicht antworten. Und da war aber dann auch tatsächlich in den Wochen danach das erste Mal, dass mich diese Nachrichten wirklich nachhaltig belastet haben. Mit allen anderen Nachrichten... Ich lass das gar nicht so an mich heran. Ich reagiere darauf, aber ich merke, da geht es mehr um die Person, die dahinter steht, also mich mit diesen Hassnachrichten und sehr konkreten Drohungen. Da ging es auch um Gewaltdrohungen und um Morddrohungen. Da geht's um mich ganz konkret. Und da stellt sich dann natürlich auch die Frage: “Wer ist diese Person, die dahinter steht? Und vor allem was können die alles? Wissen die, wo ich wohne? Haben die die Mittel, mich aufzuspüren? Wie weit gehen die wirklich?”
Gerade, wenn dann noch mehr Hassnachrichten hinterherkommen und das sozusagen immer schlimmer wird und auch klar wird, dass es gegen mich als Person wird – irgendwann wird es gruselig. Das ist dann enorm schwierig für mich. Wie soll ich sagen, einerseits das emotional für mich einzuordnen und natürlich ernst zu nehmen und andererseits aber auch nicht mein Leben davon bestimmen zu lassen. Das ist ein schwieriger Balanceakt – aber ja, das ist sozusagen die Spitze, die Steigerungsstufe auf dieser graduellen Hassnachrichtenskala, die ich so in den vergangenen 18 Monaten erlebt habe.

Julia: Ja… Ich habe die Nachrichten gelesen und gerade auch diese situativen Momente, die nochmal diese Einzeltäterthese konterkarieren, was man sehr stark merkt.

Christina: Es ist mir jetzt gerade nochmal eingefallen. Ich hatte ja diese ersten wirklichen Hassnachrichten per Instagram, die kamen ja um den 9. Oktober 2020. Ich hatte einen Teil davon in meinem Schlussplädoyer bei Gericht verarbeitet. Genau deshalb nämlich, weil mir das enorm wichtig ist. Mir war schon klar, dass das den Täter in irgendeiner Form freuen wird – wenn ich das da wiedergebe. Das war mir aber vollkommen egal…
Wenn man sich diese Nachricht und Kommentare durchliest, die ich erhalten habe, stellt sich die Frage gar nicht mehr, ob das ein sogenannter Einzeltäter ist und ein sogenannter Einzelfall. Und ich habe das in meinem Schlussplädoyer ganz zu Beginn auch angesprochen und habe über die Nachrichten gesprochen, die ich so bekommen habe ganz kurz und habe dann auch tatsächlich diese ersten Nachrichten zitiert. Ich weiß nicht, wie viel ich bei euch fluchen darf, aber eine davon war: “Fick dich, du scheiß Schlampe,” wo es offensichtlich gegen mich als Frau ging und dann gab's auch “Fick dich, du scheiß Jüdin,” wo es gegen mich als jüdische Frau ging. Das sind User-Profile, die ich nicht kenne. Das sind aber offensichtlich Menschen, die sich mit diesem Prozess in irgendeiner Form auseinandergesetzt haben, die offensichtlich irgendeinen Bezug dazu haben und damit ist vollkommen klar: dieser Täter ist nicht alleine. Das wusste ich zwar vorher schon, aber ich finde, das zeigt sich so am aller konkretesten.

Julia: Ist es für dich auch Teil der Auseinandersetzung mit dem Prozess und mit der Tat?

Christina: Ja, absolut. Ich zweifele zwar nicht an meiner eigenen Wahrnehmung, aber je öfter ich höre, meine Wahrnehmung stimmt nicht und je öfter mir das abgesprochen wird, desto öfter muss ich mich versichern, dass meine Wahrnehmung stimmt. Jede Nachricht, die reinkommt und meine Wahrnehmung bestätigt, hilft mir in irgendeiner Form und hat mir aber auch gleichzeitig ein bisschen die Augen für diesen Prozess geöffnet.
Die Frage des sogenannten Einzeltäternarrativs hat sich für mich nie gestellt. Das war schon klar, dass das kein Einzeltäter ist. Aber ich finde es auch, fast schon aus wissenschaftlicher Perspektive doch enorm wichtig, das ich das nicht nur auf abstrakter Ebene argumentieren kann, sondern ich kann es sehr konkret zeigen. Ich habe Screenshots von diesen Nachrichten und ich kann das ja konkret nachweisen.
Und andererseits und das spielt auch so ein bisschen hinein in diese Frage “Bleiben wir, also die Nebenkläger*innen, im Raum, wenn der Täter spricht?” Das hatten wir immer wieder in verschiedenen Momenten im Prozess. Und für mich war so ein bisschen das Problem: „Nein, ich will ihm die Bühne nicht geben. Eigentlich möchte ich gerne draußen sein, um ihm diesen Raum zu nehmen.“ Andererseits – und das war dann letztlich der Anspruch, der bei mir überwogen hat, ich bin im Raum geblieben – finde ich es enorm wichtig, das zu hören. Ich finde es wichtig zu hören, was er sagt. Erstens, weil ich, wie es dann auch bestätigt wurde, nicht glaube, dass mir irgendetwas besonders Überraschendes erzählen wird. Wir wussten ja, welche Ideologien der vertritt. Da war schon klar, was da herauskommt, dass das unangenehm und schrecklich wird. Aber ich finde es trotzdem wichtig, das zu hören, um einfach zu wissen, womit wir konfrontiert sind.
Und genauso geht's mir mit diesen Nachrichten, die ich bekomme. Es bestätigt sich nicht nur meine Wahrnehmung, sondern es zeigt mir auch tatsächlich: wo sind die einzelnen Probleme? Damit kann ich mir dann sehr konkret überlegen: Wo kann man anknüpfen, was sind mögliche Lösungen? Wenn es um Unwissen über Judentum und jüdische Feiertage geht, dann kann ich das als Privatperson auch ganz gut machen. Dann kann ich zurückschreiben “Hey, hier ist der Link für Chanukka.” Und dass wir Weihnachten nicht feiern, ist ein bisschen selbsterklärend. Das kann man dann schon machen. Wenn es dann aber um Problemfelder geht, wie “Ich habe nichts gegen Juden, aber Israel finde ich doof,” dann ist das ein anderer Punkt, an dem man anknüpfen muss. Das hilft mir privat natürlich; das hilft mir aber auch für den Gesamtdiskurs, weil ich dann viel, viel besser einordnen und kategorisieren kann. Womit bin ich konfrontiert? Wie kann ich darauf reagieren?

Julia: Hast du einen Rat an Betroffene von solchen Nachrichten? Wir bekommen sehr häufig Meldungen von solchen Nachrichten – als private Nachrichten oder als öffentliche Kommentare. Aus deiner Erfahrung, was wäre dein Rat wie damit umzugehen?

Christina: Also ich glaube mein größter Rat, das Wichtigste was ich was ich Leuten raten kann, ist tatsächlich sich anzugewöhnen eine Art Instinktreaktion zu haben und die Person anzurufen, die tatsächlich helfen kann in dem Moment.
In meinem Fall bist das du, Julia. Du bist sozusagen die erste Person, die ich anrufe, weil mir das hilft. Einerseits weil ich weiß, dass du weißt, wovon ich spreche: Du kannst das einordnen. Du bist tagtäglich mit diesen Dingen konfrontiert und du kannst mich aber sozusagen nicht nur emotional auffangen, sondern hast auch noch den Bonus, dass du das auch noch weiterverarbeiten kannst.
Ich verstehe mittlerweile die Wichtigkeit, die Notwendigkeit von Statistiken. Ich verstehe, wie wichtig das ist, solche Angriffe und Übergriffe bei Stellen wie RIAS zu melden, weil sich dadurch das Gesamtbild ergibt und ich glaube, die Dunkelziffer muss enorm hoch sein. Ich habe auch gerade in meinem Freundeskreis einen Freund von mir, auf den ich seit Jahren einrede, der immer wieder auf der Straße angegriffen wird, meistens verbal, immer wieder beschimpft wird... Das ist echt Teil seines täglichen Lebens. Ich rede jetzt seit Jahren auf ihn ein: “Melde das, melde das, melde das, melde das!” Wir sind zum Glück mittlerweile an einem Punkt, wo er auch sagt “Ja, okay.” Selbst, wenn daraus keine Strafverfolgung entsteht. Es ist einfach wichtig, das zu melden und festzuhalten. Ich glaube, das ist das Wichtigste, was man machen kann als Betroffener, als Betroffene.
Und danach ist es, glaube ich individuell sehr verschieden. Ich glaube, was im Vordergrund steht, ist natürlich, sich selbst zu schützen – vor allem emotional. Ich schaffe es mittlerweile, tief durchzuatmen, einen Schritt zurück zu machen. Wenn das zwei Tage dauert, ist es okay und wenn es drei Monate dauert, ist es auch okay. Und dann zu antworten – ganz ruhig und sachlich. Ich lasse mich nicht provozieren. Ich finde das auch ganz, ganz wichtig, auf der Sachebene zu bleiben und nicht einzugehen auf Beleidigungen und auch nicht mit Beleidigungen zu antworten. Was ich bei öffentlich lesbaren Kommentaren auch sehr wichtig finde – ich beobachte das auch auf Twitter manchmal: Man kann absolut – das ist total in Ordnung – den Outreach zu anderen User*innen zu machen, zu Freund*innen und zu sagen “Hey, das und das wurde hier gerade kommentiert. Bitte hilf mir!” Das ist enorm wichtig. Das zeigt auch den Hassnachrichten-, Hasskommentarschreibenden, “Hey du redest hier nicht nur mit einer Einzelperson, sondern hinter dieser Person stehen mehrere. Es gibt hier Solidarität und wir mögen dich alle nicht.” Das hilft enorm. Ich glaube, gegen solche Menschen und gleichzeitig auch als Betroffene, weil man weiß, man ist nicht alleine.
Und sonst? Was wichtig ist, ist einfach zu gucken, dass man da emotional gut durchkommt. Es gibt Menschen, an die kommt das viel näher ran. Ich glaube, da ist es wahrscheinlich am besten, einfach zu blockieren und zu sagen “Okay, tschüss.” Und es gibt Menschen, die schaffen, das ein bisschen weiter weg von sich zu halten und dann doch noch zu reagieren. Ich denke, was auch sehr wichtig ist, ist grundsätzlich immer Screenshots zu machen, auch wenn man nie wieder auf diesen Screenshot guckt und wenn man ihn nicht braucht und nicht verwendet. Ich glaube, das ist ganz wichtig. Weil Kommentare einfach gelöscht werden können und weil man dann nichts mehr nachweisen kann. Ich denke, das ist sehr wichtig. Ich habe selber ja auch die Erfahrung gemacht. Mir wurde von einem friendly user auf Twitter relativ knapp nach dem Attentat damals per Direktnachricht ein Screenshot zugeschickt von einer antisemitischen Verschwörungstheorie, in der ich auftauche. Diesen Screenshot gibt es. Aber es gibt nur noch diesen Screenshot und es gibt den eigentlichen Post nicht mehr und ich hab mich damals nicht darum gekümmert. Ich hab das erst kürzlich auch an euch weitergeleitet und das kann ich machen, weil ich diesen Screenshot habe. Also ich denke das Wichtigste ist, man muss lernen, zumindest eine Person instinktiv sofort anrufen zu können, von der man weiß, sie kann emotionale Auffangarbeit leisten und sie kann das einordnen. Und sie kann helfen und immer Screenshots machen. Immer, immer, immer. Alles andere ist individuell.

Dora: Vielleicht nochmal auf die gesamtgesellschaftliche Aufarbeitung, die nach dem Prozess jetzt ja eigentlich erst beginnen kann. Das war jetzt die juristische Aufarbeitung und jetzt muss natürlich die Gesellschaft an sich weiter damit umgehen, dass so ein Attentat passieren konnte und dass eben nicht dieser Einzeltäter war, sondern dass diese Ideologien weiterhin in unserer Gesellschaft bestehen.
Was sind Aspekte, die deiner Meinung nach für die öffentliche Auseinandersetzung jetzt nach dem Prozess besonders wichtig sind?

Christina: Eine Angst, die ich tatsächlich seit... oder eigentlich sogar die größte Angst, die ich seit Prozessbeginn oder eigentlich schon vorher habe, ist, dass diese Stimme der Nebenklage untergeht und nicht mehr gehört wird und vielleicht auch einfach ignoriert wird, weil der Prozess zu Ende ist. Wovor ich Angst habe ist, dass sich ein bisschen der Gedanke einstellt: “Prozess zu Ende – Antisemitismus zu Ende.” Das stimmt aber nicht, das ist vollkommen klar, dass das nicht stimmt. Das ist rein logisch schon nachvollziehbar. Das stimmt auch offensichtlich nicht, wenn man zurück guckt – Gruppe Freital, NSU usw. Das ist eine sehr lange Liste, die man da anführen kann. Nur weil ein Prozess zu Ende ist, ist das Problem nicht zu Ende. Das ist etwas, was wir uns ganz stark vor Augen halten müssen, woran wir uns erinnern müssen.
Ich seh das auch ein bisschen als meine Aufgabe zu einem guten Teil, dass für mich auch dieser Aktivismus, der sich da entwickelt hat über den Prozess für mich, der ist jetzt nicht mit Prozessende zu Ende. Da muss es weitergehen.
Ich glaube, da steht sehr viel gesellschaftspolitischer Wandel bevor, der notwendig ist tatsächlich. Ich hoffe, wir kommen da auch hin. Ich glaube aber, die Basis des Ganzen ist tatsächlich, dass die Politiker und Politikerinnen in erster Linie aber natürlich auch die Mehrheitsgesellschaft wirklich lernen müssen zuzuhören, und zwar auch, wenn es unangenehm wird. Und das ist der springende Punkt: Man muss zuhören, auch wenn es unbequem ist. Wenn ich von Hassnachrichten berichte, dann müssen sich andere das anhören, auch wenn es ihnen dabei nicht gut geht. Und genau darum geht's ja auch. Dieser persönliche Bezug ist enorm wichtig und ich glaube, der fehlt vielen Menschen.
Ich glaube, vielen Menschen ist nicht klar, wenn mir jemand eine Hassnachricht schreibt, weil ich eine Frau bin und weil ich eine jüdische Frau bin, dann geht das einerseits gegen mich persönlich, aber es ist nicht nur mein Problem. Es ist auch nicht nur ein Problem der Frauen und es ist auch nicht nur ein Problem der Juden und Jüdinnen. Es ist ein gesamtgesellschaftliches Problem. Wenn jemand so etwas macht, dann gibt es einerseits eine Motivation dahinter und andererseits offensichtlich auch die Erwartungshaltung, dass es in irgendeiner Form okay ist, dass man das machen kann. Und genau da müssen wir auch ansetzen.
Ja, ich denke, was auch sehr wichtig ist, ist, dass es ja nicht nur einzelne Stimmen gibt, sondern es gibt sehr viele. Es gibt ja in ganz Deutschland und auch auf der ganzen Welt unglaublich viele einzelne Stimmen, die sich stark machen für vieles und für natürlich Belange, die sie in erster Linie persönlich betreffen. Aber das heißt nicht, dass ich mich nicht solidarisieren kann. Also nur, weil ich sozusagen Aktivismus gegen Antisemitismus und gegen Rassismus mache, kann ich mich trotzdem solidarisieren, wenn es auch um andere demokratiefeindliche Hassideologien geht. Und ich finde auch das enorm wichtig. Wir müssen diese Allianzen bilden und uns wirklich ganz solidarisch nebeneinander stellen, weil ganz egal was es für eine Form von Hass ist, gegen wen sie geht. Hass ist keine Meinung. Hass ist Ausgrenzung und Diskriminierung und das schadet der Demokratie. Die steht europaweit und auch in Deutschland ohnehin schon auf wackligen Beinen. Es gibt einen Rechtsruck, den gibt es schon lange. Das kann man nicht mehr verneinen, das kann man nicht mehr nicht sehen und ich glaube, wir müssen da alle sehr aktiv werden – noch viel aktiver als wir es sind.
Und ich glaube, wir müssen da auch das eigene Ego und die eigenen Befindlichkeiten hinten anstellen. Was ich auch ein bisschen gemerkt habe im Prozess und auch vor allem an den Reaktionen der sogenannten Anderen aus meiner Perspektive... und ich glaube, da zählt die Vorsitzende Richterin zu einem gewissen Teil auch dazu. Ich habe das Gefühl, wenn ich sage, Deutschland hat ein Antisemitismus und Rassismusproblem, dann hören das viele Menschen als persönlichen Angriff auf sie selbst und daraus entsteht natürlich sofort so eine Art defensive Reaktion, ein Abblocken, ein “Aber ich bin doch kein Antisemit, deswegen muss Christina sich das alles nur einbilden.” Das ist eine Dynamik, die fatal ist; ganz, ganz schwierig, weil das ganz schnell ganz schief kann. Und mir ist aber auch gleichzeitig nicht ganz klar, wo es herkommt. Wenn ich sage, Deutschland hat ein Antisemitismus- und Rassismusproblem, dann stimmt das einerseits und andererseits benenne ich damit niemanden persönlich und ich sage auch nicht, dass jede einzelne Person in Deutschland antisemitisch und rassistisch ist. Aber ich benenne ein Problem, ein Problem, das wirklich wichtig ist und dem wir uns widmen müssen. Und ich glaube, da ist es auch enorm wichtig, dass wir lernen, dass es nicht um das eigene Ego geht, sondern um die Gesellschaft, um die Welt, in der wir leben und da muss das eigene Ego ein bisschen hinten anstellen und da muss jede Person an sich arbeiten, zu begreifen, worum es tatsächlich geht.

Julia: Christina, danke für deine sehr klaren Worte und dass du deine Perspektiven und deine Erfahrung so deutlich mit uns geteilt hast. Es war wie immer sehr spannend, mit dir zu reden. Zum Abschluss: was sind deine Pläne für das kommende Jahr?

Christina: Jetzt als allererstes gehe ich mal wandern. Das ist schon lange überfällig und ich brauche ein bisschen Auszeit, ein bisschen Hirnauslüftungspause wie ich das gerne nenne, ein bisschen Verarbeitungszeit und danach geht es weiter. Pandemie oder nicht Pandemie. Ja, ich promovierte ja nach wie vor, aber das ändert nichts daran, dass auch die Arbeit als Aktivistin oder der Aktivismus und das ganz aktive Einschreiten gegen Hass und Ausgrenzung weitergehen. Und das geht hoffentlich auch in irgendeiner Form auf einer öffentlichen Ebene weiter, aber ich bin seit dem Prozess auch noch sehr viel sensibler geworden, eigentlich für Aggressionen im Alltag und ich hab da mittlerweile so gut wie keine Hemmschwelle mehr, mich tatsächlich im Alltag auch sofort zu solidarisieren, sofort hinzustellen, sofort einzugreifen. Die einzige Hemmschwelle, die ich noch habe, wenn klar ist, dass ich mich damit in Gefahr begebe – das hilft niemandem. Aber sonst, solange ich weiß, dass ich okay sein werde und das ungefähr einschätzen kann, schreite ich sofort ein. Und das ist mir seither noch sehr viel wichtiger geworden und das nehme ich definitiv auch mit für die Zukunft. Das ist etwas, woran wir alle arbeiten können, woran wir alle arbeiten sollten und womit wir auch sehr einfach eigentlich, ohne großen Aufwand, ohne dass wir uns enorm viel in etwas hinein investieren müssen im Alltag gegen Rassismus, gegen Antisemitismus, Frauenfeindlichkeit und andere ausgrenzende Hassideologien einsetzen können.

Julia & Dora: Danke!

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Das Interview wurde Ende Januar 2021 aufgezeichnet.

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