„Kevin und Jana vergessen wir nicht.“
Am zwölften Verhandlungstag des Halle-Prozesses wurden am 15. September 2020 vier Überlebende des antisemitischen und rassistischen Anschlags vom 9. Oktober 2019 sowie der Vater des erschossenen Kevin S. als Zeugen angehört.
Zu Beginn skizzierte Karsten L. das Leben seines Sohnes Kevin S.: Dieser habe seit seiner Geburt mit körperlichen und geistigen Einschränkungen zu kämpfen gehabt, habe aber beharrlich darauf hin gearbeitet, auf eigenen Beinen zu stehen. Einen großen Schritt stellte dabei die Lehre als Maler dar, die er im Oktober 2019, nur wenige Tage vor der Tat, begann: Kevin S. habe sich geärgert, dass die Arbeitswoche nur fünf Tage habe, so begeistert war er von der Tätigkeit und dem Betrieb, den er von mehreren Praktika kannte. Besonders wichtig sei es ihm gewesen, seine Leidenschaft für Fußball und den Halleschen FC selbst finanzieren zu können. Beim HFC habe Kevin Freunde gefunden, die ihn so akzeptiert hätten, wie er sei und immer zu ihm gestanden hätten. Der Verein habe ihm Alles bedeutet. Stolz habe Kevin seinem Vater etwa Bilder von Spielen geschickt, wenn dieser sie nicht selbst besuchen konnte. Karsten L., Kevin und dessen Mutter hätten trotz der Trennung der beiden Eltern vor vielen Jahren eine große Nähe zueinander gehabt. Noch um kurz vor 12 Uhr hätten die drei am Tattag telefoniert. Kurz darauf habe Karsten L. Kevin dann nicht mehr erreicht und begonnen, sich Sorgen zu machen. Rund dreißigmal hätten die Eltern über Stunden versucht, Kevin zu erreichen, sein Handy zu orten und Bekannte zu kontaktieren. “Aber nichts, nichts”, schildert L. mit tränenerstickter Stimme. Kurz nachdem er dann eine Vermisstenanzeige bei Facebook online stellte, habe ein Freund ihm das Video von der Tat geschickt. Sofort habe er seinen Sohn erkannt, der im Video aus kurzer Nähe erschossen wird. Schluchzend berichtet L., wie er sofort Kevins Mutter angerufen und ihr den Tod des gemeinsamen Sohnes mitgeteilt habe. Heute seien beide auf umfangreiche professionelle Hilfe angewiesen.
Die Zeugin Karen E. verbrachte den 9. Oktober in der Synagoge der Jüdischen Gemeinde zu Halle. Gemeinsam mit FreundInnen habe die 60-Jährige die kleine Gemeinde unterstützen wollen und sich daher dazu entschieden, erstmals die Stadt zu besuchen, um dort Jom Kippur zu begehen. Wenn sie heute auf den Gottesdienst zurückschaue, bleibe trotz der schrecklichen Ereignisse eine positive Erinnerung an die Stimmung während des Gebets und die tollen Menschen, die sie kennengelernt habe.
Als sie die ersten Explosionsgeräusche gehört habe, habe sie gleich gewusst, dass etwas nicht stimme. Sie gehöre einer Generation amerikanischer Juden an, die unter deutschen und polnischen Juden aufgewachsen seien, die vor Nationalsozialismus und Shoa in die USA geflohen sind. Die Geschichte der Shoa kenne sie daher gut: “Eigentlich sind diese Bilder immer in schwarz-weiß. Aber hier waren diese Bilder in Farbe.”
Von der Polizei seien die Besucher*innen der Synagoge später wie Täter behandelt worden. Mehrfach hätten sie sich ausweisen müssen und seien ihre Taschen kontrolliert worden, u. a. vor den Augen der Presse: “Da habe ich mich eigentlich als Objekt gefühlt”, sagte E. Die gesellschaftliche Lage in Deutschland mache ihr große Sorgen: Der Täter sei trotz seines eigenständigen Handelns nicht allein: ”Er ist ausgebildet, motiviert, angefeuert und unterstützt worden von White Supremacy Gruppen, die nicht nur in den USA tätig sind, sondern auch in Deutschland.” Wenn man diese Vernetzung nicht ernst nehme, sei das Verfahren gegen den Angeklagten eigentlich bedeutungslos. Es könne doch nicht sein, so E., dass etwa ein Kollektiv von Künstlern und Wissenschaftlern kürzlich gezeigt habe, wie viel mehr es über White Supremacy und das Attentat herausbekommen habe als das BKA. Die Seite "Global White Supremacist Terror: Halle" zeige wichtige Zusammenhänge auf, die von den Behörden ignoriert würden.
Auch Ezra Waxman war extra für Jom Kippur nach Halle gereist: Noch am Tatabend hatte er begonnen, sich Notizen zum Angriff auf die Synagoge und den folgenden Geschehnissen zu machen, die er vor Gericht detailliert darstellte. In dem Schrecken und der Ungewissheit in der Synagoge, die immer wieder durch Gerüchte genährt worden seien, habe ihm der Fokus auf die Gebete, die Gemeinschaft und den Glauben Kraft gegeben. Unter Polizeisirenen und Helikopter-Geräuschen hätten sie in der Synagoge mit einer besonderen Intensität gebetet. Später sei es schwierig gewesen, dieses positive religiöse Erlebnis und die tödliche Realität, die draußen zeitgleich stattgefunden hatte, zusammenzubekommen. “Aber ohne Zweifel war es in diesem Moment das, was ich tun musste.”
Mit dem Anschlag sei er in eine Rolle geraten, die er nie habe einnehmen wollen: Immer habe er sich bemüht, seine jüdische Identität nicht durch den Antisemitismus, sondern durch positive, kreative Elemente der jüdischen Kultur zu bestimmen: Dazu zähle für ihn jüdische Musik, die Weisheit der Tora oder die hebräische und jiddische Sprache. Nun, da ihm durch den antisemitischen Anschlag aber zugehört werde, wolle er diese Stimme nutzen, um das kulturelle Leben in Deutschland mit noch mehr Farbe und jüdischer Kultur zu bereichern. Die Kernbotschaft des Judentums, die er weiterverbreiten wolle, sei die Wertschätzung des Heiligtums des Lebens. Von dem Pastor der Familie der erschossenen Jana L. habe er die Wendung von “dem Wunder und der Wunde von Halle” gelernt und wolle diese aufgreifen: Kurz nach der Tat hätten sich die Geschehnisse aufgrund ihres Überlebens wie ein Wunder angefühlt, wenn dies auch bereits in krassem Gegensatz zu dem verursachten Leid gestanden hätte. Heute würde er vor allem den Schmerz der Wunde von Halle spüren. Er müsse dabei jedoch an seine 96-jährige Großmutter denken, die den Zweiten Weltkrieg überlebt und viel Leid erfahren habe. Was sie aus ihrem Leid und der Konfrontation mit dem Tod gelernt habe, sei eine Wertschätzung des Lebens an sich.
Als nächster Zeuge schilderte Rıfat Tekin, wie er den Angriff auf den “Kiez Döner”, in dem er am Mittag des 9. Oktober arbeitete, erlebte: Er habe gerade den ersten Döner des Tages zubereitet, als er den Angeklagten in einer Fantasieuniform erblickt habe. Nach dem ersten Schuss habe er sich unter die Theke ducken und dann aus dem Laden fliehen können, als sich der Angeklagte Kevin S. zuwandte. Noch immer leide seine Familie und er psychisch sehr unter der Tat. Seinem Bruder sei es wichtig, den Laden weiterzubetreiben und sich von der Tat nicht einschränken zu lassen. Er könne aber nur noch gelegentlich aushelfen, ertrage die Arbeit in dem Lokal nicht mehr und habe mit Schlafprobleme zu kämpfen.
Wie jeder deutsche Bürger wolle er sich für dieses Land einsetzen, antwortete Rıfat Tekin auf die Frage der Vorsitzenden Richterin Mertens nach seinen Zukunftsplänen. Nur einen Wunsch setzte er ans Ende seiner Aussage: Er hoffe, dass das Gericht zu einem gerechten Urteil komme.
Sein älterer Bruder İsmet Tekin sagte als letzter Zeuge des Tages aus. Er hatte den “Kiez Döner”, der ihm mittlerweile gehört, wenige Minuten vor der Tat verlassen und war nach einem Anruf seines Bruders zurückgekehrt und dem Attentäter auf der Straße begegnet.
Bewegend schilderte İsmet Tekin, wie er versucht habe, zurück zum Tatort zu rennen, um bei seinem Bruder zu sein. Der Weg sei ihm aber unendlich weit und seine Beine völlig kraftlos vorgekommen. Am Laden sei er auf den Attentäter gestoßen, der sich gerade ein Feuergefecht mit der Polizei lieferte. Nur wenige Meter sei er von diesem entfernt gewesen. Dass es ihm trotzdem bis kurz vor dem Prozess verwehrt bleiben sollte, als Nebenkläger aufzutreten, kritisierte Tekin scharf. Er wäre froh, wenn er nicht betroffen und gefährdet gewesen wäre und mit der Sache nichts zu tun hätte. Aber so sei es nicht.
Als kontinuierlicher Begleiter des Prozesses habe er der Belastung stets standgehalten. Als er die Aussage von Kevins Vater habe hören müssen, sei das aber nicht mehr gegangen. Für die Tat habe er keine Worte, ganz gleich welche Sprache er bemühe. Der Schmerz einer Mutter oder eines Vaters, die ihr Kind verlieren, sei nicht in Worte zu fassen. Für den Angeklagten aber habe er eines: Dieser sei ein Feigling.
Scharf kritisierte Tekin, dass es zu ähnlichen Vorfällen wie dem Anschlag in Deutschland immer wieder komme. Das Land sei in vielerlei Hinsicht vorbildhaft. Dieses Probleme müssten aber alle gemeinsam löse. Nach der Tat habe er sich nicht mehr um die deutsche Staatsbürgerschaft bemühen wollen, wie er es eigentlich vorgehabt hätte: “Solange ich dunkle Haare habe, einen dunklen Teint, macht es keinen Unterschied, ob ich in meiner Tasche einen deutschen Pass trage oder nicht.” Tekin betonte aber, wie viele wunderbare Menschen er kennengelernt habe und bedankt sich im Namen seine Familie für die große Unterstützung und Solidarität.
Als der Verteidiger Weber Tekins Ausführungen unterbrechen will und dabei fälschlich behauptet, dieser sei nicht einmal Nebenkläger, findet dessen Anwalt Onur Özata unter dem Beifall von Nebenkläger*innen und Publikum deutliche Worte: Zum wiederholten Male zeige der Verteidiger seine Unkenntnis bezüglich der Verfahrensakten. Dass er versuche, den Betroffenen Tekin an dieser Stelle zu unterbrechen, während sein Mandant das Verfahren wiederholt mit “antisemitischem und rassistischem Quatsch” störe, sei beschämend.
Zum Schluss seiner Aussage richtete Tekin sich erneut direkt an den Angeklagten, den er “den Feigling” nennt: “Sie haben nicht gewonnen. Sie haben auf ganzer Linie versagt. Mein Bruder lebt und ich lebe. Doch entstanden ist noch mehr Zusammenhalt und Liebe. Wir haben keinen Hass. Wir werden nicht weggehen, wir werden nicht aufgeben, wir werden standhalten. Und wissen Sie was? Ich werde Vater. Ich bekommen bald ein Kind. Ich werde alles dafür tun, dass mein Kind sich für dieses Land einsetzt. Und dass ihr Bösen euch schämt. Kevin und Jana vergessen wir nicht. Im Koran gibt es noch einen Satz: ‘Wer einen Menschen tötet, tötet die ganze Menschheit.’ In diesem Schmerz werden wir gemeinsam leben. Das werden wir gemeinsam tun. Als Türken, Deutsche, Muslime, Christen und Juden.”
Das Verfahren wird am 16. September 2020 fortgesetzt.