„White Supremacy“ tötet

Zwei Nebenklägerinnen, die am 9. Oktober 2019 in der Synagoge in Halle waren, sagen als Zeuginnen aus. Außerdem werden vier PolizeibeamtInnen gehört, die vor dem “Kiez Döner” vom Angeklagten beschossen worden waren und das Feuer erwidert hatten.

Am 16. September 2020 sagten am 13. Verhandlungstag des Halle-Prozesses zwei Nebenklägerinnen aus, die am 9. Oktober 2019 in der Synagoge in Halle waren. Außerdem wurden vier PolizeibeamtInnen als ZeugInnen gehört, die vor dem “Kiez Döner” vom Angeklagten beschossen worden waren und das Feuer erwidert hatten.

Zu Beginn der Verhandlung drohte die Vorsitzende Richterin Mertens Ordnungsgelder und Saalverweise an, sollte es wie am Vortag nach Zeugenaussagen zu Applaus kommen. Sie könne verstehen, dass man den Zeugen seine Unterstützung signalisieren wolle, dazu gebe es aber auch andere Mittel. Die Nebenklage-AnwältInnen Alexander Hoffmann und Kristin Pietrzyk bezogen Stellung gegen diese Androhungen: Im kurzen Applaus sei keine Störung des Verfahrens, sondern lediglich der Ausdruck von tiefer Verbundenheit zu erkennen. Sollte die Vorsitzende die Strafen tatsächlich verhängen, würde sie sich in die Tradition des würdelosen Umgangs mit Betroffenen rechter Gewalt vor Gerichten einreihen. Rechtsanwalt Hoffmann regte nach den beiden folgenden Zeuginnenaussagen an, die Solidarität durch stilles Aufstehen auszudrücken – eine Geste, der sich zahlreiche Menschen im Saal anschlossen.

Die erste Zeugin des Tages, Jacqueline Lauren F., schilderte, wie das Trauma des Anschlags ihr Leben erschüttert habe. Mit sechs Jahren habe sie erlebt, wie ihr Vater, der im World Trade Center arbeitete und den Anschlag vom 11. September überlebte, durch dieses Ereignis für immer verändert gewesen sei. Was es bedeute, unter einem Trauma zu leiden, habe sie auch durch die intergenerationale Erfahrung der Shoa immer gewusst. Als sie das Attentat des 9. Oktobers 2019 überlebte, in dessen Verlauf sie auch davon ausgegangen sei, dass es sich bei der toten Jana L. vor der Synagoge um ihre Freundin Mollie S. handele, habe sie daher direkt gewusst, dass sie von nun an eine andere Person sein würde.

Die drei Traumata, die ihr Leben prägten, seien alle durch den Antisemitismus verbunden: Seit dem 11. September hätten antisemitische Erzählungen und Verschwörungsphantasien an Bedeutung gewonnen und würden sich übers Internet global verbreiten. Auch der Täter von Halle habe sich in diesen Kreisen bewegt, dürfe nicht als lone wolf betrachtet werden und habe mit seiner Tat Nachahmer motivieren wollen. Die Online-Communities, die sich auf die Ideologie der White Supremacy beziehen, müssten dringend untersucht und beobachtet werden. In ihrer Rolle als Nebenklägerin wolle sie auch darauf hinweisen, dass der Täter keineswegs nur antisemitisch motiviert war, sondern in seinem Weltbild auch Rassismus, Islamophobie und Sexismus miteinander verwoben gewesen seien. Sie habe den Eindruck, dass dies in der Debatte um den Anschlag oft nicht thematisiert würde.

Auch die zweite Zeugin, Sabrina S., betonte, dass sie nicht nur Jüdin, sondern auch Frau, Linke, Migrantin und gay sei und daher im Weltbild des Täters ein umfassendes Ziel darstellen würde. White Supremacy stelle darüber hinaus aber auch eine Gefahr für alle anderen Menschen dar: “Ich sehe mich hier um, und wir alle sehen aus wie Jana oder Kevin oder İsmet.” Das Problem dieses Denkens und des rechten Terrors könne auch durch die schärfsten Sicherheitsmaßnahmen nicht behoben werden. Den ersten Teil der Radikalisierung sei die Gesellschaft, in der es etwa normal sei, zu sagen, dass Migranten oder der Islam nicht zu Deutschland gehören würden, gemeinsam mit dem Angeklagten gegangen. Erst später seien dann seine Online-Kontakte zu seinen Wegbegleitern hin zum rechten Terror geworden. Es käme daher nicht darauf an, lediglich Synagogen zu beschützen oder den Täter für immer ins Gefängnis zu stecken: Die zentrale Frage sei, so Sabrina S., dass wir alle verhindern, dass unsere Kinder zu Rechtsextremen und Neonazis werden. Wer mit der Achtung gegenüber anderen Menschen aufwachse, könne nicht so werden wie der Angeklagte. Auch wenn ihr Vertrauen in den Schutz des Staates, die Justiz und die Polizei gebrochen worden sei, mache ihr Hoffnung, dass sie so viele Betroffene von Rassismus und Antisemitismus erlebe, die stark und mit Freude weiterleben.

Wie Jacqueline Lauren F. berichtete auch S. von den Schwierigkeiten, therapeutische Hilfe zu finden. 

In der zweiten Hälfte des 13. Verhandlungstages wurden zunächst die drei PolizistInnen nacheinander als ZeugInnen gehört, die versucht hatten, den Angeklagten vor dem “Kiez Döner” zu stellen, von diesem unmittelbar beschossen wurden und das Feuer erwidert hatten. Der Attentäter war im Verlauf dieses Schusswechsels am Hals getroffen worden und zu Boden gegangen, hatte aber fliehen können. Laut Anklageschrift soll es sich bei den Schüssen auf die Einsatzkräfte um versuchten Mord gehandelt haben.

Die drei BeamtInnen schilderten weitestgehend übereinstimmend die Geschehnisse des Tattages: Demnach sollten die StreifenpolizistInnen Sarah B. und Dirk F. am Mittag des 9. Oktobers bei einem Routineeinsatz in Halle-Neustadt von ihrem Kollegen Daniel L. unterstützt werden. Auf dem Weg dorthin hätten sie dann die Information bekommen, dass in der Humboldtstraße, in der die Synagoge liegt, Einsatzkräfte benötigt würden. Sie hätten darauf zunächst nicht reagiert, sondern ihre Unterstützung erst angeboten, als andere Kollegen meldeten, dass sie bereits beim Einsatzort in Halle-Neustadt seien. Erst bei der Rückfrage, was genau sie in der Humboldtstraße erwarte, sei dann die Rede von einem bis mehreren Tätern, Schusswaffen, Sprengsätzen und einem möglichen Todesopfer gewesen. Darüber, ob in diesem Funkspruch bereits die Rede von der Synagoge als Anschlagsziel gewesen sei, gingen die Erinnerungen auseinander. Auf dem Weg zur Humboldtstraße hätten Sarah B. und Daniel L. sich mit schwerer Schutzausrüstung ausgestattet, L. habe sich zudem mit einer Maschinenpistole bewaffnet. Ihnen sei dann, bei noch immer dünner Informationslage, mitgeteilt worden, dass mittlerweile ein Angreifer in einem Dönerimbiss in der Ludwig-Wucherer-Straße gemeldet worden sei. Als sie an diesem neuen Einsatzort eintrafen, habe der Angeklagte unmittelbar das Feuer auf sie eröffnet. Er traf dabei mehrfach den Einsatzwagen. Aus der Deckung des Polizeiwagens habe L. mit der Maschinenpistole zurückgeschossen. Nach den ersten beiden Schüssen auf den Angeklagten sei “eine Weile gar nichts passiert”, schilderte L. vor Gericht. Bilder von der Tat zeigen, dass der Angeklagte von einer Kugel am Hals getroffen worden war und zu Boden ging, dann aber mit seinem Auto flüchten konnte. Während der Befragung wurde von Nebenkläger*innen die Frage angeschnitten, warum die PolizistInnen in dieser Situation nicht vorgerückt seien, um den Täter zu stellen. Die Einsatzkräfte sowie ein weiterer Polizist, der später in einem zivilen Fahrzeug zu der Situation dazustieß, versicherten, dass ihnen völlig unklar gewesen sei, dass sie den Täter getroffen hatten und sie auf seine Reaktion gewartet hätten. Außerdem hätten sie sich vor möglichen weiteren Tätern absichern wollen. Den flüchtenden Attentäter hätten sie schnell aus den Augen verloren und seien danach in unterschiedlichen Funktionen bis zum Abend im Einsatz gewesen. Getrieben worden seien sie dabei vom Ziel, den Täter noch zu stellen. Alle vier PolizistInnen berichteten von den gravierenden psychischen Folgen der Tat, von Schlaflosigkeit, Angst- und Trauerzuständen. Keiner von ihnen ist heute noch im Streifendienst tätig. 

Die Verhandlung wird am 22. September 2020 fortgesetzt.