Erneut Kritik an Ermittlungsbehörden

Mehrere JVA-Beamte sagen zur Haftzeit des Angeklagten aus. Außerdem werden BKA-Ermittler zu den Finanzermittlungen, zur Vortatphase und zur Auswertung der Musik, die der Attentäter während der Tat abspielte, angehört. NebenklagevertreterInnen kritisieren die Ermittlungen erneut deutlich.

Am 14. Oktober 2020 fand der 17. Verhandlungstag gegen den mutmaßlichen Attentäter von Halle statt. Mehrere JVA-Beamten waren zur Aussage über das Vollzugsverhalten des Angeklagten geladen, zusätzlich berichtete ein Mitarbeiter des psychologischen Dienstes der JVA Halle von seinen Eindrücken. Drei BKA-Beamte wurden zu den Finanzermittlungen, zur Vortatphase und zur Auswertung der Musik, die der Attentäter während der Tat abspielte, angehört. Nebenklagevertreter fanden abermals deutlich Worte für die strukturellen Probleme bei der Ermittlungsarbeit und die Lücken in der Aufklärung der Online-Kontakte des Attentäters.

Der Verhandlungstag begann mit der Begrüßung zweier Hauptsekretäre im Justizvollzugsdienst der JVA Burg, Herr P. und Herr P.-D. Beide sind in den täglichen Ablauf des Gefangenen involviert – sie sind für die Essensausgabe, die Zeitungsausgabe, die Bestandskontrollen und das Absichern von Duschen, Freistunden, etc. verantwortlich. Über die Haftbedingungen des Angeklagten berichteten sie, dass er in Einzelhaft sei, also keinerlei Kontakt zu Mithäftlingen habe und ihres Wissens nach nur von seiner Familie Besuch erhalte. Darüber hinaus waren beiden Beamten keine Auffälligkeiten bekannt, der Angeklagte kenne die Umgangsformen. „Ansonsten kann ich nichts Positives oder Negatives sagen. Er ist eben da.“, sagte Zeuge P.

Als dritte Zeugin war Frau Kriminalhauptkommissarin (KHKin) R. geladen. Die BKA-Beamtin war mit der Auswertung der Musik betraut, die der Angeklagte während der Tatzeit abgespielt hatte. Der Angeklagte habe kabellose Lautsprecher am Rücken seiner Schutzweste befestigt, über die er eine vorher vorbereitete Playlist abgespielt habe. Unter den Titeln befanden sich mehrere Songs mit offen antisemitischen, rassistischen und frauenverachtenden Texten. Andere Songs ordnete die KHKin als sogenannte „Anime-Musik“ ein. Sie verwies zudem auf Bezüge auf das Attentat in Toronto, auf die Incel-Szene und auf Memes mit rassistischer Konnotation, wie das des „Moon Man“. Sie legte einen detaillierten und umfangreichen Bericht vor, gab jedoch an, keinerlei Vorkenntnisse in diesem Bereich zu haben. Auch zu Imageboards und den Verbindungen von Alt-Right und Incel-Szene könne sie nicht viel sagen.

Bei der anschließenden Befragung durch die Nebenklage-AnwältInnen David Herrmann, Alexander Hoffmann, Onur Özata und Benjamin Derin (Vertretung von RAin Ilil Friedmann) zeigte sich, dass der KHKin einige relevante Informationen zur Tat fehlten, die für ihre Bewertung von Bedeutung hätten sein können. So bezog sich eines der Lieder auf den Attentäter von Toronto, der mit dem Auto in eine Menschenmenge gefahren war und zehn Personen tötete. Im Bezug auf Passagen, die sich auf diese Art der Tatausführung bezogen, sagte die Zeugin aus, dass sie keinen unmittelbaren Bezug zur Tat habe herstellen können. Dass dem Angeklagten auch vorgeworfen wird, auf seiner Flucht eine Schwarze Person angefahren zu haben, sei ihr dabei nicht bekannt gewesen. Als sie 8 der 12 Songs als un-ideologische Anime-Musik eingeordnet habe, sei ihr außerdem nicht bewusst gewesen, dass Manga eine wichtige Rolle auf Imageboards spiele und auch das Manifest des Angeklagten Mangazeichnungen mit NS-Referenzen erhielt. Als sie von RA Herrmann damit konfrontiert wurde, gab sie an, dass sie die Anime-Songs möglicherweise anders eingeordnet hätte, wenn sie darum gewusst hätte.

RA Herrmann stellte vor seiner Befragung klar, dass es ihm nicht um eine Kritik an der Zeugin persönlich ginge, sondern um die Strukturen. Er fragte, ob es beim BKA irgendwo eine Kompetenzbündelung zu solchen Themen gebe – also Leute, die sich mit rechtsextremen Internetphänomenen auskennen und ob diese ebenfalls an der Arbeit zu diesem Themenkomplex beteiligt gewesen seien. Die Zeugin konnte dazu keine Aussage treffen. RA Herrmann appellierte an das Gericht, jemanden mit ganzheitlicherer Kenntnis dieser Phänomene zu laden – wenn es so jemanden gebe – und fand deutliche Worte: „Wenn wir hier einen internetaffinen 18-Jährigen hinsetzen würden, der könnte uns mehr sagen als sämtliche BKA-Beteiligten. Ich bin maßlos enttäuscht und entsetzt.“

Oberstaatsanwalt Schmidt befand daraufhin, dass die Zeit gekommen sei, etwas Grundsätzliches zu sagen. Man müsse strikt zwischen dem BKA als Teil der Strafverfolgungsbehörden und als Sicherheitsbehörde im Rahmen der Gefahrenabwehr unterscheiden. Die Zeugin sei hier als Ermittlungsperson aufgetreten und habe ihren Auftrag zu vollster Zufriedenheit erfüllt. Über strategische Konzepte des BKA bei der Internetermittlung könne man nicht öffentlich aufklären, sonst seien sie wertlos.

RA Herrmann erwiderte, dass natürlich klar sei, dass hier keiner Konzepte von obersten Sicherheitsbehörden hören wolle. „Aber die Generalbundesanwaltschaft kann doch nicht allen Ernstes zufrieden sein mit den Ermittlungsergebnissen, die hier geliefert worden sind. Das ist einfach keine vollständige Polizeiarbeit.“ Es stärke nicht gerade das Vertrauen der Bevölkerung in die Polizei, wenn man den Eindruck bekomme, dass es ein ganzes Feld gebe, das niemand versteht.

Im Anschluss erhielt RA Hoffmann das Wort, um zwei Erklärungen zu den Aussagen der vorangegangenen Zeugin und des am Vortag geladenen KOK W. zu machen. Er sprach der BKA-Beamtin seine Achtung aus, für die Arbeit, die sie ohne Vorkenntnisse gemacht hatte. Dennoch wies er darauf hin, dass der Auftrag mit unvollständigen Informationen ihre Arbeite entwerte. Zum Zeugen W. bemerkte er, dass dieser resümiert habe, dass es keine Anhaltspunkte für Mitwisser oder Helfer gebe. Auf Nachfrage habe sich aber gezeigt, dass die Ermittlungen zu Kontaktpersonen nur auf Personen begrenzt war, die entweder offensichtlich waren oder vom Angeklagten selbst genannt wurden. Man habe die Online-Kontakte nicht ermitteln  können und Einschätzungen aufgrund der Annahme getroffen, dass der Angeklagte im Hinblick auf die Erstellung von Munition allein aufgrund seines Chemie-Studiums Vorkenntnisse habe. Auf dieser Basis sei eine Beurteilung, ob der Täter Unterstützer oder Helfer hatte, überhaupt nicht möglich.

Der Diplom-Psychologe Roland W., der als nächster Zeuge aussagte, war als Mitarbeiter des psychologischen Dienstes der JVA Halle mit dem Angeklagten in Kontakt gekommen. Er gab an, es habe sich ein Verhaltensmuster angedeutet, das durch Distanziertheit und eine eingeschränkte Bandbreite von Gefühlsausdrücken im zwischenmenschlichen Bereich gekennzeichnet sei. Emotionale Kälte und eine eingeschränkte Affektivität seien auffällig gewesen – etwas erregter sei er bloß gewesen, wenn er über seine Ideologie und Tatmotivation gesprochen habe. Besonders aufgefallen sei ihm das häufige, unpassende Lachen des Beschuldigten, das besonders in Situationen aufgetreten sei, in denen der Angeklagte mit Argumenten gegen seine Ansichten konfrontiert wurde. Eine so verfestigte Denkweise, wie die des Angeklagten, sei beinahe unmöglich zu durchbrechen. Er habe gesagt, dass seine Familie ihm leid tun würde – anderes Mitleid oder Reue habe er von ihm nicht vernommen. Er habe zwar einmal gesagt, dass er die zwei tödlichen Opfer bedauere – emotional sei aber keine große Schwingungsfähigkeit bemerkbar gewesen. Einen Vorfall, der ihm besonders in Erinnerung geblieben sei, hebt der Zeuge hervor. Sie hätten sich über die Weltanschauung des Angeklagten ausgetauscht. Er habe ihn damit konfrontiert, dass er auf einem völlig anderen Standpunkt stehe und andere Menschen auch andere Meinungen haben können. Da sei der Angeklagte plötzlich hoch gesprungen, habe seinen Ton erhoben und sei im Raum herumgetigert. In dieser Situation habe es kein unpassendes Lachen gegeben, da habe man seine Wut spüren können. Er habe ihn dann gefragt, wie er es sich erkläre, dass er dem Menschen gegenüber, mit dem er in den letzten Monaten mehr als mit allen anderen innerhalb von Jahren gesprochen habe, ein Verhalten zeige, als ob er ihn angreifen könnte. Da habe der Angeklagte zum ersten Mal keine Antwort gehabt. Wiedersehen wollen habe er ihn trotzdem. Insgesamt sei er sehr ruhig gewesen, eine solch extreme Erregung sei die Ausnahme gewesen. Der Zeuge verglich dieses kurze, impulshafte Verhalten mit Berichten von Vorfällen, bei denen der Angeklagte fremde Menschen beschimpft haben soll, die kein Deutsch sprachen.

Zudem brachte der Psychologe einen Brief von der Schwester des Angeklagten zur Sprache, den dieser mit zum Gespräch gebracht habe. Darin habe sie geschildert, wie sich die Öffentlichkeit auf die Familie gestützt habe und dass die Mutter sich das Leben nehmen wollte. Sie habe ihn gefragt, was er sich dabei gedacht habe, er habe nicht mal die Zielgruppe – also Juden – getroffen. Wenn die Mutter nicht hätte gerettet werden könne, wären drei Menschen gestorben, habe die Schwester geschrieben.

Nach der Aussage des Psychologen erhielt RAin Dr. Kati Lang von der Nebenklage das Wort. Sie stellte einen Beweisantrag, Mick Prinz von der Amadeu Antonio Stiftung als Sachverständigen zum Gaming-Verhalten des Angeklagten einzuladen. Es solle u. a. um dessen Aktivitäten und die Bedeutung seiner Nutzernamen auf der Spiele-Plattform Steam gehen und um die Frage, inwieweit er sich Know-How über den Bau von Waffen anhand bestimmter Spiele habe aneignen können. Die Vorsitzende gibt Gelegenheit zur Stellungnahme bis zum 26. Oktober 2020.

Die nächste Zeugin, Frau M., ist Hausleiterin in der JVA Halle. Auch sie beschrieb den Angeklagten als „isolationsfreudig” und berichtet, dass sie keine Emotionen bei ihm bemerkt habe. Auskünfte zu den Umständen des Fluchtversuchs des Angeklagten seien durch ihre Aussagegenehmigung nicht gedeckt.

Daraufhin wurde KHK E. vom BKA als Zeuge begrüßt, der sich mit den Finanzermittlungen  beschäftigt hatte. Auf dem Konto des Angeklagten seien bis zum Abbruch seines Studiums regelmäßige Zahlungen durch seine Eltern eingegangen, später nur noch Erlöse durch den Verkauf von Gegenständen. Er nehme an, dass der Angeklagte auf Kosten seiner Eltern gelebt habe. Der Beschuldigte habe manchmal Bareinzahlungen gemacht, bevor er dann Online Käufe tätigte. Es seien Zahlungen an Waffenfirmen, Unternehmen, die mit Militaria handeln, und der Kauf chemischer Stoffe nachvollziehbar gewesen. Offen bleibe, woher das Bargeld komme, das er 2019 eingezahlt habe.

Zudem hätten sie bei den Ermittlungen auch die Familie des Angeklagten in den Blick genommen. Auf dem Konto der Eltern hätten sie Zahlungen an Unternehmen feststellen könne, von denen Sachen gekauft wurden, die für den Waffenbau verwendet worden sein könnten: Im Falle des Vater u.a. Präzisionsrohre und Bleischrot, auf dem Konto der Mutter habe man den Kauf eines Gefechtshelms im Jahr 2012 einsehen können.

Auf die Frage der Vorsitzenden nach Hinweisen auf mögliche Bitcoin-Transaktionen erzählte der Zeuge, dass sie zwar Hinweise auf eine Bitcoin-Adresse und geringfügige Zahlungseingänge ermittelt hätten – zu den angeblichen 1.000 Euro, die der Angeklagte generiert haben will, habe man aber nichts feststellen können. Der Angeklagte habe ausgesagt, dass er das Wallet auf einem USB-Stick hatte und verkauft habe – das sei grundsätzlich möglich. Wenn die Aussage der Wahrheit entspreche, dass er für 0,1 Bitcoin 1.000 Euro erhalten habe, so sei der Verkauf angesichts des Bitcoinkurses lediglich zwischen Dezember 2017 und Januar 2018 bzw. Mitte des Jahres 2019 möglich gewesen. Der Zeuge wies zudem darauf hin, dass der Angeklagte auch versucht habe, seinen Rechner zu clearen – Anhaltspunkte für ein Wallet seien so nicht mehr nachvollziehbar.

Der letzte Zeuge an diesem Tag war der BKA-Beamte KHK K. Er hatte im Januar 2020 einen Bericht zu den Erkenntnissen zur Vortatphase erstellt. Im Hinblick auf die Auswertung der Zeugenaussagen habe er lediglich Beobachtungen zur sportlichen Aktivität des Angeklagten mit der Vortatphase in Verbindung bringen können. Im halben Jahr vor der Tat habe dieser sich vermehrt sportlich betätigt, was der KHK als Vorbereitung auf den Anschlag interpretierte. Zudem hätten sie viel Mühe investiert, die Bewegungen des Angeklagten mit dem Mietwagen lückenlos nachzuvollziehen, um Treffen mit möglichen Mittätern und sonstige Vorbereitungen aufzuklären. Dabei seien jedoch 43 Kilometer von ca. 180 gefahrenen Kilometern nicht nachzuverfolgen gewesen.

Auch heute zeigte sich wiederholt, dass die Ermittlungen viele Fragen zu den Kontakten des Angeklagten offen lassen. Häufig scheint es, dass die Aussagen des Angeklagten als Fundament der Ermittlung dienten, auch wenn diese nicht objektiv verifiziert wurden. Dies gilt u.a. für die Bestimmung der Vortatphase, welche lediglich nach der Eigendarstellung des Angeklagten bezüglich seiner Radikalisierung vorgenommen wurde. Zudem konnte man sich erneut des Eindrucks nicht erwehren, dass die Verantwortlichkeiten im Ermittlungsprozess häufig fragmentiert waren und es an Zugang bzw. einer ausreichenden Kommunikation zu übergeordneten und überblicksartigen Informationen zum Tatkomplex mangelte.

Die Hauptverhandlung wird am 3. November fortgesetzt.