Angeklagter schuldfähig
Am 3. November 2020, dem 18. Verhandlungstag im Halle-Prozess, sagten drei Sachverständige sowie ein Überlebender aus der Synagoge aus, welcher erneut Kritik an dem Verhalten der Polizei äußerte. Verärgert zeigte sich der geständige Attentäter von Halle über einen Psychiater, der ihm eine komplexe Persönlichkeitsstörung attestierte und ihn für schuldfähig befand. Erneut provozierte der Angeklagte Überlebende und beteuerte seine antisemitische Weltsicht.
Zunächst war der Leitende Oberarzt am Institut für Rechtsmedizin des Universitätsklinikums Halle, Professor Dr. Steffen Heide, geladen, der ein rechtsmedizinisches Gutachten erstellt hatte. Der Angeklagte war unmittelbar nach seiner Festnahme durch Beamte des SEK am 9. Oktober 2019 in die Notaufnahme gebracht, da er auf der Flucht bei einem Schusswechsel am Hals verletzt worden war. Professor Heide berichtete, dass der Angeklagte zunächst ärztlich versorgt und schließlich operiert worden war. Er könne sich sehr genau an den Tag erinnern, sagte Professor Heide, da diese Situation für ihn in seiner 26-jährigen Berufstätigkeit außergewöhnlich gewesen sei. Er beschrieb den Angeklagten in der Notaufnahme als “in sich gekehrt” und physisch als auch psychisch “unheimlich angespannt”. Auf Fragen habe er verzögert geantwortet und sich kooperativ verhalten, aber keine Angaben zum Tatgeschehen gemacht. Die toxikologische Untersuchung habe ergeben, dass der Angeklagte weder unter Alkohol-, Medikamenten- noch unter Drogeneinfluss gestanden habe, sagte der 53-jährige Rechtsmediziner. Während den Untersuchungen habe der Angeklagte keine suizidalen Absichten gezeigt. Ebenso habe es keine Anzeichen gegeben, dass sich der Angeklagte die Schussverletzung selbst zugefügt hatte, wie fälschlicherweise von Beamten des SEK angegeben worden war.
Im Anschluss schilderte der 31-jährige Fotograf und Grafikdesigner Valentin L., wie er den Anschlag erlebt hatte. L. gehörte zu den Organisator*innen einer Reisegruppe von Jüdinnen und Juden, die aus Berlin nach Halle gereist waren, um Jom Kippur am 9. Oktober 2019 in Halle zu verbringen. Vorab erklärte Valentin L., dass er nicht früher ausgesagt habe, weil er sich nicht getraut habe. Er habe den Anschlag von sich “wegschieben” wollen. Erst im Verlauf des Prozesses und nach den Aussagen von Nebenkläger*innen sei ihm die Wichtigkeit bewusst geworden, weswegen er seine Meinung geändert habe und nun aussagen wolle.
Bei einem gemeinsamen Spaziergang am Vorabend durch die Innenstadt von Halle hätte sich die Gruppe sicher und “heimisch” gefühlt; den Tag beschrieb L. als “wunderschön”.
Umso unerwarteter sei der Anschlag während der Toravorlesung gewesen. Er habe zuerst nicht glauben können, dass “etwas Schlimmes” passiert sei. Er habe gedacht, dass ihnen jemand Angst machen und ihnen schaden wolle. Dies habe er nicht zulassen wollen und habe versucht den Anwesenden Hoffnung zu machen. Sie hätten dann versucht, die Synagoge zu verbarrikadieren. Dass jemand getötet wurde, sei ihm zu diesem Zeitpunkt nicht bekannt gewesen. Die Synagoge nach dem Anschlag verlassen zu müssen, beschrieb er als “prägend”, da dies an Jom Kippur gegen religiöse Gebote verstoßen würde. Die Synagoge habe für ihn Sicherheit bedeutet.
Wie zahlreiche Nebenkläger*innen zuvor äußerte L. Kritik am Verhalten der Polizei: vor der Tür seien sie von Polizeikräften “auseinandergenommen” und “erniedrigt” worden. “Nicht nur aus materieller Sicht” habe die Polizei “sehr unvorbereitet” gewirkt, was ihn zusätzlich verunsicherte. Er habe die Angst der Polizeibeamt*innen spüren können. “Tief betroffen” sei er gewesen, da die Beamt*innen nicht gewusst hätten, “was jüdische Feiertage sind”.
Er sei “unglaublich froh” als Kontingentflüchtling 2005 nach Deutschland gekommen und habe “sehr viel Liebe in der Gesellschaft” erlebt. Wichtig sei es, das Problem als gesellschaftliches Problem zu begreifen, betonte Valentin L. Antisemitismus könne “als eine Krankheit angesehen werden kann, aber nicht als eine Krankheit von einer Person, sondern von einer Gesellschaft”, sagte der Zeuge. Antisemitismus breite sich in der Gesellschaft aus wie ein Tumor. Vor Jahren habe er bemerkt, dass Juden und jüdische Kultur in Deutschland verdrängt würden. Nach dem Anschlag habe er angefangen vermehrt “für die gesamte Gesellschaft” jüdische Veranstaltungen zu organisieren. Das Problem liege “bei uns allen und nicht dem Täter” und “der Einzeltäter ist nur ein Werkzeug des gesamtgesellschaftlichen Problems”, so Valentin L.
Erneut versuchte der Angeklagte einen Überlebenden des Anschlags durch Rückfragen zu provozieren. So fragte er unmittelbar nach der Aussage von Valentin L., ob L. wisse, was “jüdische Bolschewiken” dem russischen Zarenland angetan hätten. “Ja, das steht in den Geschichtsbüchern,” erwiderte Valentin L. knapp.
Für die Beurteilung der strafrechtlichen Schuldfähigkeit des Angeklagten erstellte der Psychiater und Neurologe Professor Dr. Norbert Leygraf ein psychiatrisches Gutachten. Während seiner Befragung merkte Professor Leygraf an, dass der Angeklagte nur an der Untersuchung mitgewirkt habe, um zu verhindern, öffentlich als psychisch krank dargestellt zu werden. Dieser habe stets versucht zu vermitteln, dass die Tat nichts mit seinen persönlichen Problemen zu tun habe. Während der Befragung habe er sich fast ausschließlich auf Angaben zur Tat und zu seinen politischen Überzeugungen beschränkt.
Bei der Untersuchung habe Professor Leygraf ein “paranoides Grundmisstrauen” bei Stephan B. feststellen können. Der Angeklagte habe die Vorstellung ständig “von außen kontrolliert und ausspioniert zu werden, um ihm zu schaden”. Dieses “grundlegende Misstrauen” verhindere, dass er vertrauensvolle Beziehungen mit Menschen aufbauen könne. Laut Professor Leygraf gäbe es Parallelen zu einer Autismus-Spektrum-Störung. Eine Diagnose sei jedoch insbesondere im Erwachsenenalter schwierig, da Symptome nur noch verdeckt in Erscheinung treten würden.
Der Sachverständige sagte, dass der Angeklagte erhebliche Defizite in der emotionalen Ansprechbarkeit und Anzeichen einer schweren Persönlichkeitsstörung zeige. Er habe sich weder erschüttert gezeigt, noch habe er die Tat bedauert. Die Getöteten seien von ihm lediglich als Kollateralschäden wahrgenommen worden. Der Angeklagte habe vor allem Verärgerung gezeigt, dass ihm nicht gelungen war, seinen Plan umzusetzen. Er gehe davon aus, dass der Angeklagte wieder so handeln würde, wenn er könnte.
Über die eigenen antisemitische Überzeugungen habe der Angeklagte “umfassend”, mit “erkennbarer Redefreude” und “gewissem Stolz” über das von ihm angeeignete Wissen gesprochen. Auf kritische Nachfragen habe er mit der Drohung reagiert, die Untersuchung zu beenden. Am dritten Tag habe der Angeklagte die Befragung letztendlich “laut schimpfend” abgebrochen.
Professor Leygraf sagte, er gehe davon aus, dass der Angeklagte sich “nie persönlich mit jemandem auseinandergesetzt” habe und sowohl online als auch offline keine Kommunikation mit Bezugspersonen stattgefunden habe. Er habe sich lediglich einer “diffusen Gruppe weißer Männer zugehörig gefühlt”. Es sei deutlich, dass er es als “beschämenden Makel” wahrgenommen habe, keine Beziehung mit einer Frau aufbauen zu können. Der Sachverständige kam zu dem Schluss, dass es trotz der beschriebenen Auffälligkeiten keine Hinweise auf psychische Krankheiten des Angeklagten gäbe und von seiner Schuldfähigkeit auszugehen sei. Es gäbe “aus psychiatrischer Sicht keine Beeinträchtigung der Schuld”, so Professor Leygraf.
Zuvor hatte die Psychologin Lisa John ein von ihr verfasstes Gutachten zur kognitiven Leistungsfähigkeit und Persönlichkeit des Angeklagten als Vorbereitung für das Gutachten von Professor Leygraf vorgestellt. Ihre psychologische Testung bestätigte die Ergebnisse der klinischen Untersuchung Professor Leygrafs. In der dreieinhalbstündigen Sitzung mit dem Angeklagten habe John beobachtet, dass der Proband versuche, unangenehme Charakterzüge zu verschweigen. Auch sie beobachtete “unangepasstes” und “überzogenes” Lachen während der Untersuchung.
Der Angeklagte zeigte sich sehr verärgert über das psychiatrische Gutachten von Professor Leygraf. Mehrfach betonte er, Stellung beziehen zu wollen, da er im Gutachten falsch wiedergegeben worden wäre. Dies ärgere ihn besonders, da die Presse dies sofort weiter verbreiten würde. So sei in dem Gutachten davon die Rede, dass er eine Pornosammlung besitzen würde. Das sei falsch, denn er habe lediglich Anime-Bilder gesammelt. Die “komplette amerikanische Pornoindustrie” sei jüdisch und damit wolle er nichts zu tun haben. “Als Antisemit” sei er “in seiner Ehre verletzt”. Außerdem seien seine Verhaltensweisen falsch interpretiert worden: so stimme es zwar, dass er 2015 zeitweise jeden Tag eine Dose Fisch gegessen habe – dies sei jedoch kein Anzeichen einer autistischen Störung, sondern sei Teil seiner Vorbereitung auf einen anstehenden Bürgerkrieg gewesen.
Zu Beginn des Verhandlungstages verwies die Vorsitzende Richterin Mertens auf verschärfte Hygiene-Maßnahmen im Gerichtsgebäude und merkte an, dass aufgrund derzeitiger Entwicklung der Corona-Pandemie in Zukunft möglicherweise Sitzplätze für Besucher*innen und Presse reduziert werden müssten. Die Verhandlung wird am 4. November fortgesetzt.