Nebenklage sieht drei weitere Mordversuche

Die sachverständige Zeugin Karolin Schwarz sagt zur Online-Rezeption des Anschlags aus. Drei Nebenklageanwält*innen stellen Anträge, denen zufolge der Angeklagte wegen drei weiterer Mordversuche verurteilt werden könne.

Am 19. Verhandlungstag des Halle-Prozesses sagten am 4. November 2020 die sachverständige Zeugin Karolin Schwarz und der BKA-Beamte Sebastian E. zur Rezeption des Anschlags und der Verbreitung des Tatvideos im Internet sowie zu Dateien, die auf dem Laptop und den Speichermedien des Angeklagten gefunden wurden, aus. Drei Anwälte der Nebenklage beantragten am Nachmittag, dass das Gericht dem Angeklagten den rechtlichen Hinweis erteilen solle, dass die Attacken gegen ihre jeweiligen Mandanten als versuchte Morde gewertet werden könnten.

Die als sachverständige Zeugin geladene Rechtsextremismusexpertin Karolin Schwarz hatte die Rezeption des Halle-Anschlags im Internet sowie die Verbreitung des Livestreams und der hochgeladenen Dateien am Tattag und an den darauffolgenden Tagen beobachtet und dokumentiert. Schwarz berichtete, dass sie nach der ersten Eilmeldung zur Tat am 9. Oktober 2019 gegen 13 Uhr begonnen habe, die einschlägigen Imageboards nach diesbezüglichen Postings zu durchforsten. Bereits kurz darauf habe sie erste Fotos des Attentäters auf dem deutschsprachigen Imageboard Kohlchan gefunden. Schnell sei ihr der rechtsextreme Hintergrund der Tat klar gewesen. Gemeinsam mit einem Kollegen habe sie begonnen, Screenshots der Postings zu erstellen und so den Diskussionsverlauf in unterschiedlichen Imageboards zu sichern. Gegen 17 Uhr habe sie den Link zum Tatvideo gefunden und diesen dem LKA gemeldet. Ihr sei dort gesagt worden, dass man bereits Kenntnis vom Video habe.

Schwarz zeigte im Gerichtssaal ihre Screenshots der Imageboards und Chatgruppen, erläuterte diese und interpretierte die dargestellten Texte und Memes. Neben Kohlchan habe sie die Rezeption auf dem Imageboard 4chan, dem rechtsextremen Animeforum Meguca sowie in diversen Telegramgruppen verfolgt. Anfänglich hätten die Postings viele Spekulationen bezüglich des genauen Tathergangs und seines Hintergrunds beinhaltet. So sei gemutmaßt worden, dass es sich um ein islamistisches Attentat handele. Als klargeworden sei, dass der Attentäter ein rechtsextremes Tatmotiv gehabt habe, hätten sich die Kommentare verändert: Schwarz kategorisierte diese in die Kategorien „Glorifizierung der Tat und des Attentäters“, „Spott/Häme für den Attentäter“ und „Distanzierung von positiver Rezeption zum Schutz der Imageboards“. Man sei sich innerhalb der Community darüber einig gewesen, dass die Durchführung des Attentats nicht erfolgreich gewesen sei, einige User*innen hätten aber den Versuch honoriert. In Posts sei sich zumeist rassistisch, antisemitisch und antifeministisch geäußert worden, außerdem seien auch die Opfer des Anschlags verspottet worden. Auch dem Attentäter sei für sein Scheitern teilweise Verachtung entgegengebracht und etwa durch Memes ausgedrückt worden. Die anonym postenden User*innen zeigten ebenfalls Bestrebungen, die Imageboards vor möglichen staatlichen Repressionen wie Löschung zu schützen. So wurden Postings etwa direkt an mutmaßlich mitlesen Polizisten gerichtet: „Hallo liebe Polizei, alles was ich jemals gepostet habe war nur ein Scherz.“ Auch das Video vom Livestream sowie die hochgeladenen Dokumente des Angeklagten seien immer wieder geteilt worden. Teilweise habe man aus dem Tatvideo und der darin vom Angeklagten genutzten Sprache darauf schließen wollen, dass dieser vor allem bei Kohlchan aktiv gewesen sei. Manche User*innen hätten sogar einen Zusammenhang zu früheren Postings, in denen ein Anschlag angedeutet und die mit S. B., den Initialen des Angeklagten, unterzeichnet worden waren, hergestellt. Das Tatankündigungsposting, das dem Angeklagten tatsächlich zuzuordnen sei, habe Schwarz in dem Forum Meguca gefunden. Schwarz erläuterte, dass das Publikum vom Angeklagten aktiv in die Tat einbezogen worden sei. Es hätte eine Art „PR-Paket“ des Täters erhalten, dass es online verbreiten solle. Dies sei typisch für Taten wie diese.

Auf Nachfragen von Nebenklageanwält*innen erläuterte Schwarz, dass es sehr schwierig und vermutlich auch nicht zielführend sei, Imageboards abzuschalten oder zu verbieten. Die User*innen würden schnell auf andere Seiten ausweichen.

Die Rückverfolgung einzelner Postings sei bei Imageboards nur schwer nachvollziehbar, da die User*innen für ihre Postings keinerlei Registrierung vornehmen müssten und die Betreiber:innen in der Regel nicht mit Ermittlungsbehörden kooperieren würden. Es könnten daher auch keine gesicherten Aussagen darüber getroffen werden, wie viele Menschen die einschlägigen Imageboards nutzen würden. Neben den politisch rechtsextrem einzuordnenden Threads gebe es auch unpolitischere Themen, über die sich die recht homogene Gruppe der Imageboarduser*innen austauschen würde. Man spreche etwa, oftmals in einem „Insidervokabular“, über die eigene soziale Stellung, Pornografie und psychische Erkrankungen.

Als zweiter Zeuge sagte am 19. Verhandlungstag der BKA-Ermittler Sebastian E. aus, der die Dateien, die sich auf dem Laptop sowie auf einem USB-Stick und einer Festplatte des Angeklagten befunden hätten, untersucht habe. Er habe dort vor allem rechtsextreme, antifeministische, antisemitische, gewalt- und kriegsverherrlichende Inhalte feststellen können.

Neben Animebildern und rechtsextremer Musik seien auch Exekutionsvideos des IS und der Hamas auf den Speichermedien gefunden worden. Diese seien „verstörend“ gewesen. Ebenso habe der Angeklagte ein gewaltverherrlichendes Video der Atomwaffen Division abgespeichert gehabt. Kenntnisse, ob das BKA die Imageboards am Tattag beobachtet und Verläufe abgespeichert habe, habe der Zeuge nicht.

Im Anschluss wurde ein kurzes Handyvideo eines Anwohners der Humboldtstraße in Augenschein genommen, welches die Erschießung Jana L.s durch den Angeklagten zeigte.

Am Nachmittag beantrage die Rechtsanwältin Ilil Friedman, dass das Gericht dem Angeklagten den rechtlichen Hinweis geben möge, dass die Autoattacke gegen ihren Mandanten Aftax Ibrahim als versuchter Mord bewertet werden könne. Paragraf 265 der Strafprozessordnung sieht vor, dass ein Angeklagter nur wegen der in der zugelassenen Anklageschrift aufgeführten Vorwürfe verurteilt werden darf, wenn ihm nicht zuvor ein entsprechender Hinweis erteilt worden ist, dass sich die Sachlage oder deren Bewertung geändert hat. Aftax Ibrahim war am 9. Oktober vom Angeklagten in Halle mit dem Auto angefahren worden. Der Generalbundesanwalt hatte dies in der Anklageschrift lediglich als fahrlässige Körperverletzung gewürdigt. Aufgrund der Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung sei Ibrahims Anwältin Friedman allerdings überzeugt, dass der Angeklagte versucht habe, Ibrahim aus rassistischen Motiven zu ermorden. Dies gehe aus verschiedenen Zeugenaussagen sowie aus der Aussage des Angeklagten hervor. Auch spreche die Musikauswahl des Angeklagten dafür, dass er sich auf ein Morddelikt mit einem Auto vorbereitetet habe. Das Livevideo der Tat zeigt, dass der Angeklagte u. a. ein Lied hörte, in dem positiv auf einen rechten Attentäter Bezug genommen wird, der in Toronto zehn Menschen mit seinem Van tötete. Dem Angeklagten sei der Hinweis zu erteilen, dass seine Tat auch als versuchter Mord aus niedrigen Beweggründen, mit gemeingefährlichen Mitteln und zur Ermöglichung einer anderen Straftat bewertet werden könne. In einer kurzen Stellungnahme sprach sich die Bundesanwaltschaft für eine Ablehnung dieses Antrags aus. Durch die Beweisaufnahme hätten sich keine Fakten ergeben, die für sie etwas an ihrer Bewertung des Geschehenen ändern würden. Eine weitere Stellungnahme würde im Abschlussplädoyer verlesen werden.

Den Antrag der Nebenklage-Vertreterin Kristin Pietrzyk, den Rechtsextremismusforscher Dr. Matthias Quent als Sachverständigen zu laden, lehnte die Vorsitzende Richterin Mertens ebenso ab wie den Antrag, Mick Prinz von der Amadeu Antonio Stiftung als Sachverständigen zum Gamingverhalten des Angeklagten zu hören. Sie sehe nicht, wie hier verfahrensrelevante Informationen gewonnen werden könnten.

Der Verteidiger Hans-Dieter Weber beantragte anschließend die Aussetzung der Hauptverhandlung für mindestens drei Wochen, da sich die Sachlage durch den Antrag Ilil Friedmans verändert habe. Die Vorsitzende Richterin Mertens äußerte, dass sie für diesen Antrag keine Erfolgschancen sehe, wolle eine Entscheidung aber in Ruhe treffen und bat um Stellungnahmen der Verfahrensbeteiligten bis zum 16. November 2020.

Auch die Rechtsanwälte Onur Özata und Peer Stolle beantragten im Anschluss, rechtliche Hinweise zu erteilen, dass die Schüsse in Richtung ihrer Mandanten İsmet Tekin bzw. Conrad R. am Tatort „Kiez Döner“ als versuchte Morde bewertet werden könnten. Der Angeklagte hatte, wie die Beweisaufnahme ergeben hatte, auf die Scheibe des „Kiez Döner“ geschossen, hinter der sich Conrad R. befunden hatte und auch in Richtung İsmet Tekins vor dem Geschäft Schüsse abgegeben. In beiden Fällen geht die Bundesanwaltschaft laut Anklageschrift nicht von versuchtem Mord aus.

Die Verhandlung wird am 17. November 2020 fortgesetzt. Über die gestellten Anträge sowie den Aussetzungsantrag der Verteidigung wolle das OLG an diesem Tag entscheiden, kündigte die Vorsitzende Mertens an.