„Es hätte auch unsere Synagoge treffen können.“
Am 17. November 2020 sagte am 20. Verhandlungstag des Halle-Prozesses der Geschäftsführer der Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS), Benjamin Steinitz, als Sachverständiger zu den Auswirkungen des Anschlags von Halle auf das jüdische Leben in Deutschland aus. Außerdem ergänzte der Sachverständige Professor Leygraf sein psychiatrisches Gutachten, in welchem er dem Angeklagten die volle Schuldfähigkeit bescheinigt hatte und bekräftigte dieses Urteil noch einmal.
Zu Beginn des Verhandlungstages lehnte das Gericht um die Vorsitzende Richterin Ursula Mertens den Antrag der Verteidigung vom 19. Verhandlungstag, das Verfahren auszusetzen oder zu unterbrechen, als unbegründet ab.
Mit verschiedenen Befragungen hatte der Bundesverband RIAS, eine zivilgesellschaftliche Meldestelle für antisemitische Vorfälle, die Auswirkungen des antisemitischen Anschlags von Halle auf die jüdischen Gemeinden in Deutschland untersucht. RIAS-Geschäftsführer Benjamin Steinitz stellte die Ergebnisse dieser Untersuchungen als Sachverständiger vor und ordnete sie ein. Zunächst stellte er fest, dass es sich bei dem Anschlag von Halle um eine sogenannte Botschaftstat gehandelt habe: Der Tatentschluss des Täters sei nicht in einem gesellschaftlichen Vakuum gereift, sondern basiere auf gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen. Mit seiner Tat habe der Täter zur Einschüchterung von Jüdinnen und Juden beitragen wollen, um deren gesellschaftliche Ausgrenzung und Marginalisierung zu verschärfen. Botschaftstaten würden anders funktionieren als andere kriminelle Handlungen, so Steinitz. Auch wenn sie einzelne Individuen beträfen, sei mit ihnen immer ein Kollektiv gemeint, das in seinem Sicherheitsgefühl und seiner Identität getroffen werden solle. Diese Wirkung habe die Tat von Halle in Teilen auch entfaltet: So hätten sich viele der befragten Jüdinnen und Juden nach der Tat stärker verunsichert gezeigt als vor der Tat. Der Anschlag habe die empfundene Bedrohung der Normalität jüdischen Lebens verfestigt, in vielen Gemeinden hätten Jüdinnen und Juden gedacht: “Es hätte auch unsere Synagoge treffen können.” Auch sei es zu antisemitischen Vorfällen gekommen, in denen die TäterInnen Bezug auf den Anschlag nahmen.
Steinitz unterstrich, dass der Anschlag für Jüdinnen und Juden nicht unerwartet gewesen sei, sondern dass es ein massives Problem des Antisemitismus in Deutschland gebe und sich die Betroffenen sehr bewusst darüber seien, dass dieser in seiner Konsequenz auf die Tötung von Jüdinnen und Juden abziele. Anhand einer Aufzählung, die der Journalist Ronen Steinke für sein Buch “Terror gegen Juden” recherchiert hatte, zeigte Steinitz auf, dass es seit 1945 allein in Deutschland knapp 30 antisemitische Angriffe gegeben habe, die RIAS der Kategorie “Extreme Gewalt” zuordnet. Darunter fielen Taten, die auf das Leben von Jüdinnen und Juden abzielen, etwa Brandanschläge, Bombenattentate oder Morde. Der Anschlag stehe so in einer Reihe von schweren antisemitischen Straftaten. Die transgenerationalen Traumata durch diese Taten seien durch den Anschlag reaktiviert worden.
In Bezug auf die Strafverfolgung antisemitischer Straftaten hätten viele Betroffene resigniert, berichtete Steinitz. Zu oft hätten sie erlebt, dass Anzeigen nahezu nie zu Konsequenzen für die TäterInnen führen oder die Taten von PolizistInnen bagatellisiert würden. Auch die Verwicklungen von Sicherheitsbehörden mit Rechtsextremen, wie sie sich etwa in den Bedrohungen der Anwältin Seda Başay-Yıldız durch den sogenannten “NSU 2.0” gezeigt hätten, würden für ein sinkendes Vertrauen in die Polizei sorgen.
Auch in Bezug auf Maßnahmen zur Sicherung von jüdischen Einrichtungen würden die Betroffenen laut Steinitz oft allein gelassen: Ihren Einschätzungen zur eigenen Gefährdung würde wenig Gehör geschenkt, ausreichende finanzielle Mittel oft nicht zur Verfügung gestellt.
Die engagierte und vielstimmige Nebenklage, so schloss Steinitz seine Ausführungen als Sachverständiger, hätten den Botschaftscharakter der Tat von Halle konterkariert. Es seien in den letzten Monaten erhebliche Solidarisierungsprozesse auch außerhalb des Gerichtssaals angestoßen worden, die empowernd gewirkt hätten: “An diesen Prozessen sollte sich der künftige gesellschaftliche Umgang mit Botschaftstaten messen lassen.” Die zahlreichen Solidaritätsbekundungen aus dem In- und Ausland, insbesondere von anderen jüdischen Gemeinden, hätten außerdem dazu beigetragen, dass die Botschaftstat nicht wie geplant gewirkt habe.
Nach der Mittagspause ergänzte der Psychiater und Neurologe Professor Norbert Leygraf sein Sachverständigengutachten, das er am 18. Verhandlungstag vorgestellt hatte. Er hatte dem Angeklagten in diesem bescheinigt, dass bei ihm aus psychiatrischer Sicht keine Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit vorliege. Die Verteidigung hatte daraufhin ein Gutachten bezüglich einer möglichen Migräne-Aura gefordert, da der Angeklagte geschildert hatte, dass er bei seinen Schüssen auf Jana L. buchstäblich “rot gesehen” habe. Als Sachverständigen zu diesem Sachverhalt hatte die Verteidigung am Morgen des 20. Verhandlungstag Professor Leygraf mit einem Befangenheitsantrag abgelehnt. Leygraf habe bereits deutlich gemacht, dass er von den behaupteten Sehstörungen keine Sachkenntnis habe und sich außerdem abfällig über diese geäußert. Das Gericht wies diesen Antrag als unbegründet zurück.
Zum vom Angeklagten beschriebenen Rot-Sehen erklärte Professor Leygraf, dass die Schilderung des Angeklagten nicht auf eine Migräne-Aura schließen lasse. Deren Symptomatik würde sich erheblich vom Geschilderten unterscheiden. Leygraf bezeichnete es als “völlig unwahrscheinlich”, dass eine solche völlig untypische Symptomatik ausgerechnet mit Beginn einer schweren Straftat beginnt und im Anschluss einfach aufhört. Außerdem würde auch eine Migräne-Aura nicht die Schuldfähigkeit eines Menschen beeinflussen.
Verteidiger Hans-Dieter Weber stellte nach dem zurückgewiesenen Befangenheitsantrag einen weiteren Antrag, demzufolge ein weiterer Sachverständiger die beschriebene Sehstörung bewerten soll. Die Vorsitzende Richterin Mertens stellte in Aussicht, dass darüber am folgenden Verhandlungstag entschieden werde.
Mehrere Nebenklageanwält*innen stellten am Nachmittag sogenannte Adhäsionsanträge: Diese zielen darauf ab, dass das Gericht im derzeit laufenden Hauptverfahren auch über ein mögliches Schmerzensgeld bzw. den Anspruch auf dieses entscheidet, das der Angeklagte an die betroffenen Adhäsionskläger zu zahlen hat, ohne dass dies auf zivilrechtlichem Wege erstritten werden muss. Die Anträge wurden bewilligt.
Rechtsanwältin Kristin Pietrzyk, die zwei Betroffene aus der Hallenser Synagoge vertritt, beantragte u. a., den Rechtsextremismusexperten Matthias Quent vom Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft (IDZ) am 18. November als Sachverständigen anzuhören. Er könne erläutern, inwiefern der Angeklagte mit seiner Tat darauf abzielte, Nachahmer zu ähnlichen Taten zu motivieren und zu befähigen. Die Notwendigkeit, ihn anzuhören, ergebe sich insbesondere aus der Tatsache, dass die bislang gehörten Ermittler der Polizei für diese Bewertung weder qualifiziert noch kompetent schienen. Mit einem weiteren Antrag wollte Pietrzyk die Protokollierung einer offen antisemitischen Aussage des Angeklagten an diesem 20. Verhandlungstag erwirken. Zahlreiche Nebenklagevertreter*innen schlossen sich diesen Anträgen an.
Die Stellungnahmen der anderen Verfahrensbeteiligten und Entscheidungen zu den Anträgen Pietrzyks werden für den kommenden Verhandlungstag erwartet. Dieser findet am Mittwoch, 18. November 2020, statt. Falls der Beweisantrag der Verteidigung abgelehnt werden sollte und keine weitere Beweisanträge folgen, könnte dann mit den Schlussvorträgen begonnen werden.