Gutachten zu eingesetzten Waffen: Alle potentiell tödlich
Für den 5. Verhandlungstag im Prozess gegen den mutmaßlichen Attentäter von Halle am 03. August 2020 war nur eine Stunde anberaumt. Es wurde ein kriminaltechnisches Gutachten zu den selbstgebauten Waffen des Angeklagten verlesen und von der Vorsitzenden Richterin Mertens ein Selbstleseverfahren für diverse Urkunden angeordnet, das mehrere Nebenklagevertretrer*innen in einer Stellungnahme kritisierten.
Bei der letzten Sitzung vor der dreiwöchigen Prozesspause blieb der Gerichtssaal vergleichsweise leer. Zunächst wurde ein Gutachten verlesen, das sich mit den Ergebnissen der ballistischen Untersuchung der Waffen und der Geschwindigkeitsmessung der Geschosse befasst. Gegenstand der Untersuchung seien drei selbstgebaute Schusswaffen des Angeklagten gewesen. Die Waffen aus dem Eigenbau des Angeklagten seien mit handelsüblichen Vergleichswaffen aus der Sammlung des Bundeskriminalamtes abgeglichen worden. Das Gutachten kam für alle untersuchten Waffen zu dem Ergebnis, dass mit potentiell tödlichen Verletzungen gerechnet werden könne. Auch wenn die ermittelte Wirkung teilweise unterhalb derer der handelsüblichen Waffen lag, so befand sie sich dennoch bei zwei von drei Waffen in derselben Größenordnung.
Nach einer 20minütigen Unterbrechung gab die Vorsitzende Richterin Gelegenheit zur Stellungnahme im Hinblick auf das beabsichtigte Selbstleseverfahren. Nach § 249 StPO können Schriftstücke durch Verlesung oder durch Anordnung des Selbstleseverfahrens zum Gegenstand der Beweisaufnahme gemacht werden.
RA Hoffmann verlas daraufhin eine Stellungnahme der RAin von der Behrens, die selber nicht anwesend sein konnte. Der beabsichtigte Umfang der Selbstleseanordnung gebe Anlass zu erheblichen Bedenken, da auch wesentliche Ermittlungsergebnisse etwa zur Finanzierung der Tat oder zur Ideologie des Angeklagten inbegriffen seien. Die umfangreiche Selbstleseanordnung würde die Hauptverhandlung als Kernstück des Strafverfahrens, in dem die Tat- und Schuldfrage gestellt wird, entwerten. Zudem sei der Öffentlichkeitsgrundsatz tangiert, da die Öffentlichkeit ihre Kontrollfunktion nicht ausüben könne. Die Stellungnahme weist auch auf das gesteigerte öffentliche Informationsinteresse aufgrund des rassistischen und antisemitischen Hintergrunds der Tat hin. Außerdem gibt RAin von der Behrens zu bedenken, dass relevante Erkenntnisse bisher fast ausschließlich durch den Angeklagten und den Vernehmungsbeamten verhandelt worden sei. Da bisher nur die Perspektive des Angeklagten im Zentrum der Hauptverhandlung gestanden habe, sei es umso wichtiger in der öffentlichen Verhandlung auch objektive Ermittlungsergebnisse einzuführen.
Mehrere Nebenklageverteter*innen schlossen sich der Stellungnahme an.
Die Bundesanwaltschaft, vertreten durch Oberstaatsanwalt Schmidt, nahm ebenfalls Stellung zum Selbstleseverfahren. Er erklärte, von Seiten der Bundesanwaltschaft gebe es keine Bedenken bezüglich der Anordnung des Selbstleseverfahrens. Schmidt betonte, dass die Anordnung nicht bedeute, dass wesentliche Teile der Hauptverhandlung vorenthalten bleiben würden, parallel zur Selbstlese müsse man ja auch die Ladung der Zeugen sehen.
Anschließend ordnete die Vorsitzende das Selbstleseverfahren unter Bezug auf § 249 StPO an. Sie erklärte, dass die Anordnung des Selbstleseverfahrens nicht ausschließe, dass Urkunden, die als besonders relevant angesehen werde, zusätzlich in der Hauptverhandlung vorgelesen werden könnten. Anträge und Anregungen dazu seien jederzeit möglich.
Zum Schluss der Verhandlung kündigte die Vorsitzende Richterin noch an, dass sie vorsorglich bereits weitere Termine im November terminiert habe. Mit einem Urteil sei wohl auch frühestens im November zu rechnen.
Hauptverhandlung gegen Stephan B. vor dem Staatsschutzsenat des Oberlandesgericht Naumburg
5. Verhandlungstag (3. August 2020)
CN: Das nachfolgende Protokoll enthält explizit gewaltverherrlichende, rassistische, antisemitische und menschenverachtende Aussagen und Ausdrücke.
Wir protokollieren die vollständige Hauptverhandlung gegen den mutmaßlichen Attentäter von Halle. Wir versuchen dabei, so nah wie möglich am Wortlaut der Verhandlung zu bleiben, direkte Zitate sind durch Anführungszeichen gekennzeichnet. Da es nicht zulässig ist, die Verhandlung mitzuschneiden, entsteht unser Protokoll auf Basis unserer Mitschriften aus dem Gericht.
Einige Passagen haben wir bewusst gekürzt. So werden etwa Inhalte, die die Persönlichkeitsrechte von Prozessbeteiligten oder Dritten verletzen könnten, nicht veröffentlicht. Zudem streichen wir in der öffentlich zugänglichen Fassung des Protokolls jene Passagen, die Details der Tat und Tatplanung beinhalten und deren Veröffentlichung eine Gefahr, etwa durch Nachahmer, darstellen könnte. Die entsprechenden Abschnitte werden mit “[XXX]” gekennzeichnet. In begründeten Ausnahmefällen können etwa Wissenschaftler*innen oder Journalist*innen die gestrichenen Passagen bei uns anfragen.
Nachnamen werden ggf. abgekürzt. An Stellen, an denen uns unser Protokoll nicht präzise genug war, etwa weil Wortbeiträge unverständlich vorgetragen wurden, haben wir Auslassungen auf die gängige Weise “[…]” angegeben.
Verhandlungsbeginn
Der Gerichtssaal ist heute relativ leer. Um 9:30 Uhr stellt die Vorsitzende die Anwesenden fest. Als Vertreter der Bundesanwaltschaft ist Oberstaatsanwalt Schmidt zugegen, als Vertreter der Verteidigung RA Rutkowski und der Angeklagte selbst. Auch die Nebenklagevertreter*innen RA Eifler, RAin Pietrzyk, RA Lupschitz, RA Böhmke, RAin Kalweit, RA Hoffmann, RA Schulz, RA Özata, RA Günther, […] RA Löbner in Vollmacht für RAin Blasig-Vonderlin und […] in Vollmacht für RA Scharmer sind zugegen. RA Onken hat mitteilen lassen, dass sein IC sich verspäte.
Kriminaltechnisches Gutachten über die beim Anschlag verwendeten Waffen
Zunächst wird eine Urkunde von der Vorsitzenden Richterin Mertens verlesen: Ein Behördengutachten des Bundeskriminalamts vom 20. Mai 2020. Das kriminaltechnische Institut Wiesbaden berichtet ans Bundeskriminalamt Meckenheim, der Betreff ist das Ermittlungsverfahren gegen Stephan B. wegen versuchten Mordes.
Das Inhaltsverzeichnis:
1. Untersuchungsantrag
2. Gegenstand der Untersuchung
3. Methodik und Untersuchungsgang
4. Objektive Befunde
5. Untersuchungsergebnisse zu den Waffen
6. Schlussfolgerung
7. Verbleib der Asservate
Bei der Untersuchung angewandte Methoden seien die ballistische Untersuchung der Waffen und Geschwindigkeitsmessungen der Geschosse.
[XXX, Ausführungen zu den Waffen, Anm. democ.]
Das Gutachten kommt für alle untersuchten Waffen zu dem Schluss, dass mit potentiell tödlichen Verletzungen gerechnet werden könne. Auch wenn die ermittelte Wirkung der selbstgebauten Waffen teilweise unterhalb derer der handelsüblichen Waffen lag, so befanden sie sich dennoch bei zwei von drei Waffen in derselben Größenordnung.
Die Vorsitzende legt eine 20-minütige Unterbrechung ein, um auf RA Onken zu warten.
20 min. Pause
Anordnung des Selbstleseverfahrens
Die Vorsitzende stellt nun auch die Anwesenheit des RA Onken, Vertreter der Nebenklage, fest. Sie weist darauf hin, dass sie Gelegenheit zur Stellungnahme im Hinblick auf das beabsichtigte Selbstleseverfahren in Bezug auf S. 1-12 gegeben hatte.
RA Hoffmann verliest eine Erklärung von RAin von der Behrens, da diese heute nicht anwesend sein kann. Er gibt an, sich der folgenden Erklärung anzuschließen:
Der beabsichtigte Umfang der Selbstleseanordnung gebe Anlass zu erheblichen Bedenken, soweit dieser maßgebliche polizeiliche und nachrichtendienstliche Vermerke zur Vorbereitung der Tat einschließlich der Finanzierung, zur Onlinekommunikation des Angeklagten, zum Tatablauf, zu den Spuren an den Tatorten, zu der mit der Tat verfolgten Ideologie und zu den Reaktionen auf die Tat umfasse.
Die Einführung zusammenfassender Vermerke zu komplexen Ermittlungshandlungen erscheine bedenklich und sei schon problematisch im Hinblick auf § 250 StPO und § 256 Abs. 1 StPO, da häufig die Wiedergabe von Vernehmungsinhalten und sonstigen Ermittlungsergebnissen vermengt seien. Zudem würden sich unter den zur Selbstlese vorgesehenen Urkunden auch reine Vernehmungsprotokolle befinden.
Die umfangreiche Selbstleseanordnung würde im Hinblick auf zentrale Vermerke und wesentliche Ermittlungsaspekte die Hauptverhandlung als Kernstück des Strafverfahrens, in dem die Tat- und Schuldfrage gestellt würde, entwerten. Zugleich fände die Anordnung des Selbstleseverfahrens seine Grenze, wo der Öffentlichkeitsgrundsatz tangiert ist. Dies sei der Fall, wenn die Öffentlichkeit ihre Kontrollfunktion nicht mehr ausüben könne, weil in der öffentlichen Hauptverhandlung die Tat und Schuldfrage nur noch fragmentarisch behandelt werde. Zudem gebe es wegen des Ausmaßes der rassistischen und antisemitischen Taten ein gesteigertes nationales und internationales öffentliches Informationsinteresse. Diesem habe die Vorsitzende unter anderem auch durch die Art des Akkreditierungsverfahrens Rechnung getragen. Die Verlagerung wichtiger Erkenntnisse in das Sebstleseverfahren würde, so RAin von der Behrens, diesem Informationsinteresse zuwiderlaufen.
Schließlich sei bei der Bestimmung des Umfangs der Selbstleseliste auch zu bedenken, dass die aufgeführten und für die öffentliche Hauptverhandlung als relevant erachteten Aspekte bisher fast ausschließlich durch den Angeklagten und das von ihm angefertigte Video eingeführt worden seien bzw. durch den Vernehmungsbeamten. Diese Beweismittel hätten somit nur die Perspektive des Angeklagten wiedergegeben. Umso wichtiger sei es, in der öffentlichen Hauptverhandlung und nicht nur im Selbstleseverfahren auch die objektiven Ermittlungsergebnisse einzuführen. […]
Im Übrigen würde im Hinblick auf die benannten rechtlichen Bedenken und den Umfang der hiesigen Nebenklage angeregt, umfassende Vermerke zu zentralen Ermittlungsaspekten nicht im Selbstleseverfahren, sondern durch Ladung der Vermerksverfasser einzuführen. Dies gelte zum Beispiel für einen Vermerk zur Erkenntnislage über die Tathandlung und den damit einhergehenden Geschädigten, für eine Erkenntniszusammenstellung zur Vortatphase, für einen Vermerk zur Erkenntnislage über sonstige Personen und mögliche Unterstützer des Beschuldigten, für eine Arbeitshypothese zur verwendeten Symbolik an der Feldmütze des Beschuldigten (“Moon Man”), Tatortfundberichte, für Erkenntnisse zum Angeklagten, für einen Vermerk zur Verbreitung von rechtsextremem Gedankengut und Gewaltaffinität in Internetforen u.ä. Plattformen, für Erkenntnisse zum Gaming-Verhalten des Angeklagten aus Internetermittlungen, für eine Entwicklungshistorie der Dokumente die der Angeklagte hochgeladen hatte und für einen Vermerk über molekulargenetisches Material unbekannter Personen an Asservaten. Weiter werde angeregt, das Beweisthema für die im Ladungsplan vorgesehen Ermittlungsbeamten, um die von diesen verfassten Vermerke die Bestandteil der Selbstleseanordung sind, zu erweitern, so z. B. KHK D. auch in Bezug auf einen Vermerk über Erkenntnisse zur Verlinkung der durch Stephan B. hochgeladenen Dokumente auf “4chan” durch Martin W. zu hören.
Abschließend wies Hoffmann im Namen von RAin von der Behrens darauf hin, dass sich eine Vielzahl englischsprachiger Dokumente ohne Übersetzung in der Selbtsleseliste befinden würde, insofern würde davon ausgegangen, dass noch Übersetzungen angefertigt und eingeführt würden.
Der Angeklagte kichert bei der Verlesung der Stellungnahme immer wieder.
Die Nebenklagevertreter*innen RAin Pietrzyk, RA Lupschitz, […] und RA Onken schließen sich der Stellungnahme an.
Der Vertreter der Bundesanwaltschaft, Oberstaatsanwalt Schmidt, erhält das Wort. Er erklärt, von Seiten der Bundesanwaltschaft gebe es keine Bedenken bezüglich der Anordnung des Selbstleseverfahrens. Schmidt betont, die Anordnung bedeute nicht, dass wesentliche Teile der Hauptverhandlung vorenthalten bleiben sollen, das könne er der Ankündigung der Vorsitzenden nicht entnehmen. Parallel zur Selbstleseverfahren müsse man ja auch die Ladung der Zeugen sehen, die wesentlichen Zeugen und Ermittlungsbeamten sollen ja auch vor Gericht gehört werden. Beim Selbstleseverfahren müsse man unterscheiden zwischen dem, was verlesen wird und dem, worauf man sich bei der Erkenntnisfeststellung stützt. Das bedeute, dass man Zeugenaussagen nicht im Selbstleseverfahren einführen wolle. Es spreche nichts dagegen, dass der Senat zur Abrundung des Bildes neben der persönlichen Ladung von Zeugen diese Dokumente im Selbstleseverfahren einführen wolle.
Die Vorsitzende fragt RA Rutkowski, Vertreter der Verteidigung, ob er sich äußern wolle. Er lehnt ab.
Die Vorsitzende weist darauf hin, dass der Senat morgen die weitere Zeugenladung besprechen wolle und sich dabei an den einzelnen Tatkomplexen in zeitlicher Reihenfolge orientiere. Wenn Zeugenbeistände zu bestimmten Terminen verhindert seien, würde darauf bei der Ladungsplanung Rücksicht genommen. Bezogen auf die Synagogenbesucher würden ggf. nicht alle gehört werden, da werde auf Befindlichkeiten Rücksicht genommen. Bezogen auf die übrigen Tatkomplexe gehe sie davon aus, dass man alle Zeugen vernehmen müsse.
Anschließend wird die Anordnung des Selbstleseverfahrens verlesen. Die Vorsitzende erklärt, sie habe noch handschriftlich einige Punkte in Bezug auf die RA Hoffmann verlesenen Ausführungen ergänzt, die Prozessbeteiligten würden diese später schriftlich erhalten. […]
Die Vorsitzende liest vor, dass die aus Anlage 3 des heutigen Hauptverhandlungsprotokolls ersichtlichen Urkunden (Blatt 1-12 des ausgehändigten Entwurfs), […] im Selbstleseverfahren in die Hauptverhandlung eingeführt werden sollen. […] können bis zum nächsten Prozesstag am 25. August Widerspruch einlegen. Auch die Nebenklagevertreter*innen könnten bis zu Beginn des nächsten Prozesstages eine Beanstandung der Anordnung erklären.
Anschließend erläutert die Vorsitzende die Gründe für die Anordnung. Nach einem weiten Urkundenbegriff gemäß § 249 StPO könnten Schriftstücke durch Verlesung oder durch Anordnung des Selbstleseverfahrens zum Gegenstand der Beweisaufnahme gemacht werden. […] Da einige Verfahrensbeteiligte Deutsch als Fremdsprache sprächen, könne man ihnen so ermöglichen, die Urkunden in ruhigerer Atmosphäre zur Kenntnis zu nehmen, wenn gewünscht. […] Wenn Hilfe von Dolmetschern benötigt würde, könnten die Dolmetscher, die für das Verfahren beauftragt wurden, auf Kosten der Staatskasse beansprucht werden. Die Nebenkläger*innen könnten über ihre Beistände die Urkunden für das Selbstleseverfahren erhalten, Kopie- oder Portokosten seien gegenüber der Landeskasse abrechenbar. Die Anordnung des Selbstleseverfahrens schließe nicht aus, dass Urkunden, die als besonders relevant angesehen werde, gleichwohl zusätzlich in der Hauptverhandlung vorgelesen werden können. Anträge und Anregungen dazu seien jederzeit möglich. Die Passagen, deren Verlesung RA Hoffmann angeregt hatte, werde sie noch einmal genau ansehen. Wenn Bilder und Skizzen Teil der Urkunden seien, müssten sie ohnehin in der Hauptverhandlung eingeführt werden, da sie nicht Teil des Selbstleseverfahrens seien. Ferner sei ihr bewusst, so die Vorsitzende, dass möglicherweise im Hinblick auf Teile der Urkunden Beweisverwertungsverbote bestehen könnte, Beweiserhebungsverbote seien aber derzeit nicht ersichtlich. Die Anordnung würde allen Verfahrensbeteiligten zur Verfügung gestellt werden.
Die Vorsitzende gibt an, bereits weitere Termine im November vorsorglich terminiert zu haben. Auch für die Schlussvorträge würde man noch viel zeit brauchen, sodass alle Verfahrensbeteiligten zu Wort kommen können. […] Auch die Fortsetzungstermine seien dann jeweils um 9:30 Uhr, sie behalte sich vor, vorsorglich weiterhin dienstags und mittwochs im November zu blockieren, da sie nicht wisse, wie man bei der Beweisaufnahme voranschreiten werde.
Die Verhandlung ist für heute geschlossen.
Veröffentlicht am 16. August 2020.