Jetzt sprechen die Betroffenen
Am 1. September 2020, dem achten Verhandlungstag im Halle-Prozess, sagten erstmals Überlebende des Attentats aus. Die Nebenkläger*innen sprachen über ihr Erleben des Anschlags und die Auswirkungen auf ihr Leben nach der Tat. Zudem wurde eine LKA-Beamtin befragt, die mit der Spurensicherung befasst war und abschließend ein Video von einer Überwachungskamera vor der Synagoge gezeigt. Mehrfach wurde deutliche Kritik am Vorgehen der Polizei und am Umgang mit den Überlebenden geäußert. Während der Aussagen der Überlebenden lachte und provozierte der Angeklagte.
Die erste geladene Zeugin aus der Synagoge war die US-amerikanische Staatsbürgerin Mollie S. Sie lebt in Berlin und reiste am 8. Oktober 2019 mit einer Gruppe anlässlich des jüdischen Feiertags Jom Kippur nach Halle. Die Nebenklägerin schilderte ausführlich ihre Erlebnisse am Tag der Tat. Nach dem Morgengebet am 9. Oktober 2019 sei sie allein in der unmittelbaren Umgebung spazieren gegangen. Hätte sie dies einige Minuten später getan, würde sie vermutlich nicht mehr leben, hielt Mollie S. fest. Auf einer Parkbank sitzend habe sie laute Geräusche gehört und entschieden vorerst abzuwarten. Als sie zurück in die Synagoge zu den einzigen ihr bekannten Personen ging, wurde sie von Polizeibeamten zuerst weggeschickt. Erst später habe sie durch einen Seiteneingang zurück in die Synagoge gedurft. Monate nach der Tat sei bei ihr eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) diagnostiziert worden. Nach einer persönlichen Erklärung zu ihrer Familiengeschichte sagte sie, der Angeklagte habe sich mit “der Falschen angelegt” und werde “nach dem heutigen Tag […] keine Qualen mehr anrichten.”
Anschließend schilderte die Nebenklägerin Ijona B., wie sie den Anschlag erlebte. Sie hätten lange keine Informationen gehabt, was passieren würde und vergebens darauf gewartet, dass ein Polizist in die Synagoge komme und sie aufkläre. “Es hat keine vernünftige Kommunikation seitens der Polizei stattgefunden”, so Ijona B. Sie äußerte zudem ihr Befremden darüber, dass noch Stunden nach der Tat Polizisten im Einsatz gewesen seien, “die keine Ahnung hatten, dass wir Juden sind”. Schließlich seien sie in einen Bus ohne Sichtschutz geleitet worden, in dem sie eine weitere Stunde warten mussten. Dort seien sie “den Fotografen ausgeliefert” gewesen, was “alles nochmal schwerer gemacht” habe. Die Überlebend schloss mit einem deutlichen Statement: “So schockierend das auch für uns alle war […], das wird uns und auch mich mit Sicherheit nicht abhalten in eine Synagoge zu gehen und offen jüdisches Leben zu leben. Das lassen wir uns nicht von ihm und von niemandem nehmen.”
Rabbi Jeremy Borovitz war während des Anschlages ebenfalls in der Synagoge. Auch er ging auf die Behandlung durch Polizeikräfte ein und beschrieb einzelne Situationen als “abstrus”. So hätten sie das koschere Essen von einem großen Koffer in kleinere einzelne Plastiktüten umfüllen müssen, bevor sie es hätten mitnehmen dürfen. Am Bus für die Evakuierung habe eine katholische Nonne für die Seelsorge gewartet. Trotz der gut gemeinten Geste sei dies, angesichts einer langen Geschichte der Zwangskonvertierung, in dieser Situation “verstörend” gewesen. Er sagte aus, er habe das Gefühl gehabt, dass die Polizei die Menschen aus der Synagoge mehr als Verdächtige denn als Opfer behandelt habe. Ganz anders der Empfang im Krankenhaus, wo die Belegschaft den Betroffenen mit viel Zuwendung begegnet sei. Aber auch im Krankenhaus seien die Überlebenden des Anschlags während des Abschlussgebetes von Polizisten aufgefordert worden, dies vorzeitig abzubrechen, da das Debriefing angestanden hätte. Auf die Frage, wo er nachts unterkommen könne, da ihm der Zutritt zur Synagoge verwehrt wurde, habe er lediglich die für ihn unverständliche Antwort erhalten, dass er “auf den Staat” warten müsse. Unverständnis äußerte er auch darüber, dass Zeitungen am Tag nach der Tat Bilder mit dem Gesicht seiner fünfzehn Monate alten Tochter auf Titelseiten druckten. Rabbi Borovitz zeigte sich dennoch zuversichtlich und sagte jüdisches Leben in Deutschland werde “weitergehen, blühen, wachsen”. Dafür brauche es die Beteiligung der deutschen Gesellschaft.
Auch der Vorbeter Roman Yossel R. befand sich zum Tatzeitpunkt in der Synagoge. Während der Befragung sprach er u. a. über seine Migrationsgeschichte als Kontingentflüchtling aus Russland. Er habe viel Hilfe und Unterstützung durch den deutschen Staat erhalten, sich zunehmend als Deutscher identifiziert und schließlich die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten. Der Anschlag habe seine “Welt zerrüttet”, weil er und die anderen Besucher*innen der Synagoge lediglich angegriffen wurden, weil sie Juden sind. Kurzzeitig habe er deswegen überlegt, nach Israel auszuwandern. Die Solidaritätsbekundungen nach der Tat hätten ihn davon jedoch wieder abgebracht. Roman Yossel R. richtete sich in seinen Aussagen direkt an den Angeklagten: „Die Straße war voll. Tausende von Menschen, die wenigsten waren Juden. Sie haben gesungen Shalom – Frieden. […] Dann habe ich verstanden, das ist das Deutschland, das ich kenne.” Er habe sich dann entschieden zu bleiben. Abschließend sagte er zum Angeklagten: “Was du getan hast, hat nichts gebracht.”
Der Angeklagte provozierte während der Befragungen immer wieder. Als Mollie S. aussagte, dass sie für eine jüdische NGO arbeite, lachte er – woraufhin die Vorsitzende Richterin Ursula Mertens ihn ermahnte. Rechtsanwältin Dr. Kati Lang merkte an, dass der Angeklagte während der Befragung auch bei Wörtern wie “Holocaust” gelacht habe. Dies sei eines deutschen Gerichtes nicht würdig. Als Ijona B. aussagte, dass sie schwer mit dem Tod der beiden Opfer zurechtkomme und es ihr persönlich lieber gewesen wäre, wenn “er auf mich geschossen hätte und nicht zwei andere Leute umgekommen sind, die nichts damit zu tun haben”, soll der Angeklagte laut Nebenklagevertreter*innen „mir auch“ gemurmelt haben. An anderer Stelle provozierte er mit nationalsozialistischem Sprachgebrauch, was zu wiederholten Ermahnungen führte.
Nach der anschließenden Befragung einer LKA-Beamtin zur Spurensicherung am Tatort wurden Ausschnitte aus dem Video einer Überwachungskamera der Synagoge gezeigt. Das Video zeigt, dass rund ein Dutzend Autos am bewaffneten Attentäter vor der Synagoge und am leblosen Körper von Jana L. vorbeifuhren. Auch eine später eintreffende Polizistin ging mehrfach am Körper von Jana L. vorbei und scheint keine Erste Hilfe geleistet zu haben. Ein Nebenklagevertreter merkte an, dass diesbezüglich bereits ein Verfahren wegen unterlassener Hilfeleistung laufe.
Der Tag endete erneut mit einem Disput zwischen dem Vertreter der Bundesanwaltschaft, Oberstaatsanwalt Stefan Schmidt und Vertreter*innen der Nebenklage bzgl. einer möglichen Beiziehung von Strafakten eines Verfahrens in Mönchengladbach. Dort werde gegen Christian W. ermittelt, der das Video der Tat auf einem Imageboard (4chan) verbreitet haben soll. Entgegen der Auffassung der Staatsanwaltschaft hielten mehrere Vertreter*innen der Nebenklage diese Ermittlungsakten für die Tat und die Schuldfrage relevant und brachten einen entsprechenden Antrag ein.
Das Verfahren wird am 2. September 2020 fortgesetzt. Dann werden weitere Überlebende des Anschlags als Zeugen zu Wort kommen.