Betroffene sprechen von Langzeitfolgen
Am 2. September 2020 fand der neunte Prozesstag gegen den mutmaßlichen Attentäter von Halle statt. Wie bereits am Tag zuvor wurden Überlebende des Attentats befragt und gaben bewegende Statements ab. Neben drei Personen, die sich zum Tatzeitpunkt in der Synagoge befanden, wurden auch zwei Zeug*innen befragt, die dem Attentäter auf der Straße begegnet waren. Mehrfach riefen Nebenkläger*innen dazu auf, Antisemitismus “endlich ernst zu nehmen”. Auch der fehlende Polizeischutz der Synagoge und der Umgang der Polizei mit den jüdischen Betroffenen unmittelbar nach der Tat stand abermals in der Kritik. Fast alle Zeug*innen berichteten von schwerwiegenden Langzeitfolgen des Attentats und den Auswirkungen der Traumatisierung – aber auch davon, wie sie Wege fanden, damit umzugehen.
Als erster Zeuge war Vladislav R., der Sicherheitsbeauftragte der Synagoge in Halle, geladen. Er erklärte, er habe auf dem Monitor, der die Bilder der Überwachungskamera zeigte, einen Mann in Militärkleidung und mit Waffe in der Hand gesehen. Um keine Panik auszulösen, sei er zum Vorsitzenden der Gemeinde gegangen und habe ihm leise gesagt, was er gesehen habe. Sie hätten dann die Polizei gerufen und versucht die Menschen in die Räumlichkeiten im zweiten Stock in Sicherheit zu bringen. Sie hätte dann die Türen abgeschlossen und mit Stühlen verbarrikadiert, während sie auf die Ankunft der Polizei warteten. Er berichtete, er habe in dem Moment keine Angst um sich gehabt, sondern um die anderen Menschen in der Synagoge, unter denen sich auch seine Mutter befand.
Die nächste Zeugin des Tages war Frau Agatha M., die mit der Gruppe nach Halle gekommen war, die Rabbiner Jeremy Borovitz und Rabbinerin Rebecca Blady organisiert hatten. Schon auf dem Weg zur Synagoge, erzählt die Zeugin, sei sie verwundert gewesen, weil dort keine Polizei vor Ort gewesen sei. Sie beschrieb ihre Erlebnisse am Tag der Tat und berichtete von der Panik und der Stresssituation in der Synagoge. Sie zeigte sich irritiert über den Vorgang der Evakuation, die nach einigen Stunden folgte. Die Überlebenden hätten Schilder mit ihren Namen sowie Nummern erhalten. Sie habe sich dabei gefühlt wie jemand der sich im Krieg befindet, weil sie “als Person mit einer Nummer versehen wurde”. Im Krankenhaus seien diese Nummern dann abgelesen und eingescannt worden. Für sie habe das eine sehr große Bedeutung gehabt, erklärte die Zeugin, weil sie “an die Zeit aus dem Zweiten Weltkrieg erinnert” worden sei.
Im Gegensatz dazu berichtete Agatha M., dass sie im Krankenhaus sehr herzlich empfangen wurden und dort gemeinsam beten, singen und tanzen konnten. Die Tatsache, dass sie als Gruppe und gemeinsam dort gewesen wären, habe ihr sehr viel Kraft gegeben. Sie erzählt, dass sie vor der Reise nur wenig Menschen aus der Gruppe gekannt habe, aber heute seien alle ihre Freunde. Sie richtete das Wort direkt in Richtung der Nebenklage: „Dank euch habe ich mich damals stärker gefühlt und fühle mich auch heute stärker.“
Zum Schluss ihres Statements sprach Agatha M. den gesellschaftlichen Hintergrund der Tat an. Sie sagte, das Leben werde mit Sicherheit nicht mehr das gleiche sein und sie hoffe, dass so wie sie durch dieses Ereignis gereift sei, auch nachfolgende Generationen und die Gesellschaft an Reife gewinnen werde. Sie frage sich immer wieder, ob es dafür wirklich notwendig gewesen sei, dass es zu einer solchen Tragödie kommen musste. „Möge die Gesellschaft sehen, dass Antisemitismus nach wie vor besteht! […] Hat meine Familie nicht tatsächlich genug gelitten während des Krieges? Muss ich hier tatsächlich hervorheben, dass ich am Leben bin dank meiner Großelterngeneration, die durch verschiedene Lager gehen mussten?“. Sie sagte, sie habe die erste Generation sein wollen, die in Freiheit leben kann. „Mein Herz läuft über vor Trauer, wenn ich sehe, dass Antisemitismus immer noch nicht beendet ist. […] Heute ist es notwendig zu sagen: ‘Stopp! Es reicht!’”.
Auch die dritte Zeugin war während des Anschlags in der Synagoge. Christina F. berichtete unter anderem von dem Moment, als klar wurde, dass die Lage ernst sei. Ein Freund sei plötzlich aufgesprungen und in den hinteren Teil der Synagoge gelaufen. Sie habe gedacht, „der stirbt jetzt nicht allein“, sei ihm hinterhergelaufen und hätte dann gemeinsam mit ihm die Türe verbarrikadiert. Als es dann eine erste Entwarnung gegeben habe, sei es ihr sehr wichtig gewesen, während sie auf die Evakuierung warteten, weiter zu beten. Das habe ihr sehr viel Stärke gegeben.
Den anschließenden Umgang der Polizei mit den traumatisierten Betroffenen kritisiert Christina F. scharf. Es habe sie gewundert, dass die Gruppe in einem ganz normalen Bus warten musste – ohne Sicherheitsglas oder Ähnlichem. Sie hätten immer noch keine Ahnung gehabt, was eigentlich passiert war. Vonseiten der Polizei hätte es keinerlei Kommunikation und Information gegeben.
Später im Krankenhaus habe sich die Polizei während ihrer Befragung unsensibel verhalten. Es sei ein Polizeibeamter aufgetaucht – der nicht als solcher zu erkennen gewesen sei, da er in Zivil war – und nur zu ihr gesagt habe „Na, wollen Sie jetzt?“. Sie habe sich extrem erschrocken und ihn gebeten zu sagen, wer er sei und was er von ihr wolle. Daraufhin sei der Beamte sehr genervt gewesen; ausgewiesen habe er sich auch nicht. Mit einem fremden Menschen die Cafeteria des Krankenhauses zu verlassen, sei „unglaublich angsterfüllend“ gewesen. Das Gespräch habe dann unangenehm begonnen. Auf die Frage nach ihrem Personalausweis habe sie erklärt, dass sie keinen bei sich habe, da sie an Jom Kippur nichts bei sich tragen dürfe. Er habe erwidert „Das ist aber komisch“, was sie mit „Das ist nicht komisch, das ist Judentum“ gekontert habe. Sie beschrieb ihren Eindruck, dass er genervt von ihr gewesen sei und sich nicht dafür interessiert habe, was sie zu sagen hatte. Sie habe eher den Eindruck gehabt, eine Belastung für ihn zu sein und er habe ihr kein Sicherheitsgefühl vermittelt. In ihrer Befragung führte die Zeugin noch weitere Interaktionen mit der Polizei an, die sie als sehr unangenehm empfunden habe – etwa dass der Rabbiner-Familie keine Unterkunft zur Verfügung gestellt wurde. Auch sie endete ihre Aussage mit einem Statement zum gesellschaftlichen und politischen Kontext der Tat: „Ich bin vor allem emotional erschöpft, weil ich unglaubliche Angst habe, dass wir schon wieder nicht gehört werden.“ Sie fühle sich in Deutschland nicht ernst genommen – das liege an der Inaktivität der Politiker*innen und an der Gesellschaft, die nicht sehe, dass Antisemitismus ein Problem sei. Sie sehe das Problem auch in dem laufenden Prozess, für den die Nebenkläger*innen nicht genug finanzielle Unterstützung erhalten würden und das Gericht unreflektiert die Sprache des Täters reproduziere.
Das Leben nach dem Anschlag ist für die Überlebenden nicht mehr wie vorher. Die heute gehörten jüdischen Zeug*innen zogen unterschiedliche Konsequenzen aus dem Erlebnis. Agatha M. betonte, dass das Attentat mit Sicherheit nicht ihrem Traum entgegenstehen werde, ihr Studium in diesem Land zu beenden und hier zu leben. Das Attentat werde sie mit Sicherheit nicht daran hindern, dass sie die Synagoge aufsuche oder von ihrem Glauben abweiche. „Ich kann sagen, dass mich dieses Erlebnis bestärkt hat in meinem Glauben. […] Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass Gott sein Volk Israel nicht vergessen wird.“ Auch Christina F. sei nach dem Attentat am darauf folgenden Freitag (Schabbat) wieder in die Synagoge gegangen. In ihrer Synagoge in Paris, ihrem aktuellen Wohnort, habe sie Trost und Unterstützung gefunden. In Deutschland zu leben, könne sie sich nach den Erlebnissen des letzten Oktobers nicht mehr vorstellen. Das sei zu einem Teil dem Anschlag geschuldet, aber auch zu einem großen Teil der Polizei, die unsensibel mit den Traumatisierten umgegangen seien. Sie habe kein Vertrauen in deutsche Autoritäten und lebe hier in Angst. Sie sagte: „So kann kein Mensch leben. Eine Zukunft in Deutschland kann ich mir nicht vorstellen.“
Im Anschluss wurde die Zeugin Mandy R. befragt, die zufällig dem Attentäter auf der Straße über den Weg lief. Sie habe mit ansehen müssen, wie dieser Jana L. erschoss. Selbst habe sie fliehen und sich verstecken können. Sie erzählte, sie habe versucht, die Polizei anzurufen, wo jedoch besetzt gewesen sei. Ihr Mann habe sie schließlich abgeholt. Nach ihrer Aussage ergriff der Angeklagte das Wort und wollte sich bei Mandy R. entschuldigen – bereits am ersten Prozesstag hatte er immer wieder angeführt, dass er “keine Weißen” verletzten wollte. Mandy R. fand dafür deutliche Worte: „Freiheit ist das höchste Gut des Menschen. Ich bin frei und ich hoffe, dass dieser Mensch nie wieder einen Tag in Freiheit verbringt.“
Als letzter Zeuge sagte Stanislav G. aus. Er war mit dem Auto in der Nähe der Synagoge vorbeigefahren. Während der Fahrt sei ihm ein bewaffneter Mann in Uniform aufgefallen. Er habe sich zuerst gefragt, ob möglicherweise ein Film gedreht werden würde. Als er die am Boden liegende Frau L. sah, habe er angehalten, um Hilfe zu leisten. Als der Attentäter ihn bemerkte und die Waffe auf ihn richtete, sei er mit dem Auto geflohen. Wegen Ladehemmungen habe sich kein Schuss lösen können. Nach der Aussage des Zeugen sagte RA Hermann zu ihm: „Wir haben hier viel Schreckliches gehört. Und dass Sie den Mut hatten, in dieser Situation einem Menschen zu helfen, dafür haben Sie meine volle Anerkennung.“
Auch wenn die heutigen Zeugen alle überlebt haben und physisch unverletzt blieben, tragen sie doch alle Spuren des Attentats davon. Beinahe alle berichteten von massiver psychischer Belastung und Traumasymptomen. Ein Zeuge gab an, Schlafprobleme und häufige Kopfschmerzen zu haben. Auch seine 83-jährige Mutter habe das Erlebnis sehr schlecht verkraftet. Drei Zeug*innen gaben an, an einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) zu leiden. Eine Betroffene erzählte, es sei lange schwierig gewesen, zuzulassen, dass dieses Attentat wirklich passiert sei. Sie sagte, „das Trauma ist sehr groß.“ Sie habe sehr unter den Folgen des einschneidenden Erlebnisses gelitten und sei lange nicht fähig gewesen in ihren Alltag zurückzukehren oder ein normales Leben zu führen.
Die Zeug*innen sprachen auch Wege an, die sie fanden, um mit dem Erlebten umzugehen. Freunde, Familie, ein Rabbiner, eine Pfarrerin, die Gemeinde oder die anderen Betroffenen – die Unterstützung durch diese Menschen habe den Überlebenden Kraft gegeben. Auch psychotherapeutische Behandlung, ärztliche Hilfe oder Sport habe einigen helfen können.
Hauptverhandlung gegen Stephan B. vor dem Staatsschutzsenat des Oberlandesgericht Naumburg
9. Verhandlungstag (2. September 2020)
CN: Das nachfolgende Protokoll enthält explizit gewaltverherrlichende, rassistische, antisemitische und menschenverachtende Aussagen und Ausdrücke.
Wir protokollieren die vollständige Hauptverhandlung gegen den mutmaßlichen Attentäter von Halle. Wir versuchen dabei, so nah wie möglich am Wortlaut der Verhandlung zu bleiben, direkte Zitate sind durch Anführungszeichen gekennzeichnet. Da es nicht zulässig ist, die Verhandlung mitzuschneiden, entsteht unser Protokoll auf Basis unserer Mitschriften aus dem Gericht.
Einige Passagen haben wir bewusst gekürzt. So werden etwa Inhalte, die die Persönlichkeitsrechte von Prozessbeteiligten oder Dritten verletzen könnten, nicht veröffentlicht. Zudem streichen wir in der öffentlich zugänglichen Fassung des Protokolls jene Passagen, die Details der Tat und Tatplanung beinhalten und deren Veröffentlichung eine Gefahr, etwa durch Nachahmer, darstellen könnte. Die entsprechenden Abschnitte werden mit “[XXX]” gekennzeichnet. In begründeten Ausnahmefällen können etwa Wissenschaftler*innen oder Journalist*innen die gestrichenen Passagen bei uns anfragen.
Nachnamen werden ggf. abgekürzt. An Stellen, an denen uns unser Protokoll nicht präzise genug war, etwa weil Wortbeiträge unverständlich vorgetragen wurden, haben wir Auslassungen auf die gängige Weise “[…]” angegeben.
Aussage des Zeugen Vladislav R.
Um 9:32 Uhr eröffnet die Vorsitzende Richterin Ursula Mertens die Sitzung und stellt die Anwesenden fest.
Als erstes wird der Zeuge Vlasdislav R. befragt. Die Vorsitzende belehrt ihn über seine Zeugenpflichten. Dann fragt sie seine persönlichen Daten ab. [XXX, persönliche Daten, Anm. democ.]. Die Vorsitzende sagt, sie habe schon von ihm gehört, dass er als Sicherheitsbeauftragter in der Synagoge Halle tätig sei. Aus den Akten wisse sie, dass er auch am 9. Oktober 2019 in der Synagoge gewesen sei. Der Zeuge bejaht dies. Die Vorsitzende bittet ihn, zu schildern, wie der Tag für ihn abgelaufen sei.
Der Zeuge spricht auf Russisch, seine Aussagen werden übersetzt.
Er berichtet, dass er an diesem Tag um 8:30 Uhr zur Arbeit gekommen sei und schon viele Leute vor Ort gewesen seien – es sei ja Jom Kippur gewesen. Zunächst sei der Gottesdienst wie gewöhnlich gewesen. Gegen 12 Uhr habe er gesehen, dass ein Auto in der Höhe des Friedhofs angehalten habe. Aus dem Auto sei ein Mann gestiegen, der dunkel gekleidet gewesen sei. Er habe eine Waffe in der Hand gehabt, die ihn, R., dunkel an eine Pumpgun erinnert habe, aber er habe gewusst, dass so eine Waffe weder bei der Armee noch bei der Polizei verwendet werde. Er habe keine Panik auslösen wollen und sei deshalb zum Vorsitzenden der Gemeinde gegangen und habe leise zu ihm gesagt, dass da ein bewaffneter Mann sei. Als er die eindeutige Gefahr erkannt habe, habe er zu den Menschen in der Synagoge gesagt, dass sie bitte nach oben gehen sollen, um sich in Sicherheit zu bringen. Dann habe er noch die Türen abschließen müssen. Dadurch, dass ein freundschaftliches Verhältnis zu den Anwohnern in der Straße bestanden habe, habe er niemals die Türen abgeschlossen, sondern nur nur die Nebentür am Tor und dort habe der Schlüssel noch gesteckt. Deshalb sei er aus der Synagoge rausgegangen und habe die Schlüssel rausgezogen. Sie hätten dann beide Türen abgeschlossen, die Türen mit Stühlen verbarrikadiert und auf die Ankunft der Polizei gewartet. Er habe wahrgenommen, wie der Angeklagte etwas auf das Gelände der Synagoge geworfen habe und wie er auf die Tür und auf einen Menschen, der vorbeilief, geschossen habe. Da habe er noch nicht gewusst, dass das eine Frau gewesen sei. Er habe außerdem gesehen, dass ein Auto neben dem Menschen auf dem Boden angehalten habe, der Fahrer den Angeklagten angesprochen habe und dann ganz schnell wieder weggefahren sei. Nachdem der Attentäter erfolglos abgezogen sei, sei einige Minuten später die Polizei gekommen. Er, R., habe das Gelände abgesucht und dabei festgestellt, [XXX, Details zu Waffen, Brandsätze waren auf dem Gelände zu finden, Anm. democ.]. Als die Polizei ankam, seien sie alle gebeten worden, in der Synagoge zu bleiben, aber sie seien dort etwa 45 oder 50 Menschen gewesen und alle hätten frische Luft schnappen wollen, insbesondere die, die oben gewesen seien. Da seien die Räumlichkeiten sehr klein und die Luft sei schon sehr abgestanden gewesen. Sie hätten bis 17 Uhr in der Synagoge bleiben und warten müssen, bis die Polizei fertig war. Die Menschen seien noch in der Synagoge geblieben und später weggebracht worden. Er und die anderen vier Personen, die am Monitor waren, seien zur Polizei gebracht worden. Sie seien dann von der Polizei befragt worden. Nach der Vernehmung habe er endlich nach Hause gehen können, es sei sehr spät gewesen.
Die Vorsitzende Mertens fragt ihn, wie lange er schon als Sicherheitsbeauftragter in der Synagoge tätig sei. Der Zeuge R. antwortet, er sei seit 2016 dort beschäftigt. Mertens fragt, ob es dort ein Sicherheitskonzept gebe. R. antwortet, er sei zum ersten Mal nach diesem Attentat zu so einer Schulung gegangen, wo die Teilnehmer unterricht worden seien, wie sie sich bei solchen Angriffen verhalten sollten. Die Vorsitzende fragt, wer der Veranstalter dieser Fortbildung sei. Der Zeuge sagt, er sei sich nicht sicher, eventuell die ZWST [Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland, Anm. democ.]. Die Vorsitzende hakt nach, ob es also von der jüdischen Gemeinde organisiert gewesen sei. Der Zeuge sagt, er möchte keine Falschaussage machen, er denke, es sei von der ZWST organisiert gewesen. Die Vorsitzende sagt, sie kenne sich ja nicht aus, aber er habe doch alles richtig gemacht, auch ohne Schulung. Er habe dafür gesorgt, dass die Leute Ruhe bewahrt und nicht in Panik geraten und auf die Straße gelaufen seien. Das sei schon schwer genug. Es höre sich so an, dass er die Leute sehr gut geschützt habe. Sie fragt den Zeugen, ob die Türen normalerweise auf seien. [XXX, Angaben zum Sicherheitskonzept, Anm. democ.] Sie fragt ihn, wie es denn im Oktober 2019 gewesen sei. R. antwortet, an dem Tag sei alles wie immer gewesen. Er sei informiert worden, das Studenten aus Berlin ankommen sollten. Er habe gewusst, dass diese aus England kämen, aber in Berlin leben und studieren würden. Eingelassen habe er sie aber nicht, das habe jemand anderes getan. Jom Kippur sei ein besonderer Feiertag. Die überwiegende Zahl der Personen, die kommen, möchten an ihre Verstorbenen denken und würden Kerzen anzünden. Der größte Teil der Besucher komme erst gegen 10 Uhr zum ersten Gebet, da sei die größte Ansammlung. Die Vorsitzende fragt, ob man im Herbst 2019 ohne Anmeldung zum Gottesdienst kommen konnte. Der Zeuge bejaht das, das sei bis zu diesem Tag kein Problem gewesen. [XXX, Angaben zum Synagogengelände, Anm. democ.] Die Vorsitzende sagt, sie hätten gestern von einer Zeugin gehört, dass diese irgendwann vor 12 Uhr, also gegen 11:45 Uhr, die Synagoge verlassen habe. Sie fragt, ob er das mitbekommen habe, dass eine Dame die Synagoge verlassen habe. R. antwortet, an diesem Tag seien sehr viele Personen rein und raus gekommen, unter anderem ein Student mit seiner Ehefrau und einem kleinen Kind. Er könne sich erinnern, dass eine Frau ungefähr um die Zeit rausgegangen sei. Die Kommilitonen hätten später besorgt gefragt, wer da auf der Straße liege und hätten Angst gehabt, dass sie getroffen worden sei. Die Vorsitzende fragt, ob er mitgegangen sei, wenn jemand die Synagoge verließ und dann geguckt habe, ob die Tür wieder abgeschlossen sei. Er antwortet, es gehöre zu seinen Aufgaben, nachdem jemand die Synagoge verlassen hat, rauszuschauen und zu gucken, ob alles in Ordnung sei. Er sei aber andererseits verpflichtet, immer am Monitor zu bleiben. Er habe das am Monitor beobachtet. Auf der Straße gebe es ein Verkehrszeichen, das das Parken verbiete, aber ab und zu parke da trotzdem jemand. Vor einem Jahr habe es auch so einen Vorfall gegeben. Er sei zur Arbeit gekommen und habe gesehen, dass vor dieser Tür, auf die später geschossen wurde, ein Bus geparkt habe. Neben dem Bus habe ein Koffer gestanden. Er sei zur Seiteneingangstür gegangen und habe sich umgezogen. Er habe der Gemeinde Bescheid geben und es sei die Polizei gerufen worden. Als diese kam, sei der Bus schon weg gewesen und nur noch der Koffer stehen geblieben. Letztendlich habe es sich als harmlos herausgestellt. Er wisse bis heute nicht, ob es ein Scherz war, oder ob jemand wissen wollte, wie sicher die Synagoge sei. Die Vorsitzende klärt ihn auf, dass man herausgefunden habe, dass das gegenüber ein Umzug war und jemand etwas vergessen habe. Das habe also als harmlos aufgeklärt werden können. Der Zeuge antwortet, das könne sein, aber er würde niemals an so einen Gegenstand gehen und den ohne Gummihandschuhe aufmachen, es gäbe so viele Meldungen, wie solche Sachen dann explodierten. Die Vorsitzende kommt darauf zurück, dass R. sagte, er sei verpflichtet am Monitor zu bleiben und gesehen habe, dass ein Auto dort hält. Bis jetzt sei noch nicht zur Sprache gekommen, dass der Angeklagte wohl auch geklingelt habe. Der Zeuge antwortet, der Attentäter habe zwar seine Hand ausgestreckt, während des Gottesdienstes seien aber alle Vorrichtungen abgeschaltet – Klingel, Handys, man dürfe nicht mal Straßenbahn fahren am Schabbat. Die Vorsitzende fragt, ab wann ihm klar gewesen sei, dass es jetzt gefährlich werden könne. Er antwortet, das sei zu dem Zeitpunkt, als er eine unbekannte Waffe in den Händen dieses Mannes gesehen habe. Die Richterin fragt nach seiner Aussage, dass es wie eine Pumpgun ausgesehen habe. Er sagt, es habe so ähnlich ausgesehen.
[XXX, Angaben zum Synagogengelände, Anm. demo.] Die Vorsitzende fragt R., wie es ihm nach den schlimmen Ereignissen gegangen sei. Er antwortet, als das alles losging, habe er eigentlich keine Angst um sich gehabt. Er habe Angst um die Menschen gehabt die darin waren, darunter sei auch seine Mutter gewesen. “Ich hatte Angst um die Menschen und ich wollte sie beschützen.”
Die Richterin fragt den Zeugen, wie es ihm nach der Tat gegangen sei. R. sagt, erst nach ein bis zwei Monaten habe er Probleme mit dem Einschlafen gehabt. Dass er das alles verkraftet habe, habe er seiner Lebenserfahrung zu verdanken. [XXX, persönliche Angaben, Anm. democ.] Die Vorsitzende Mertens sagt, er habe ja eine sehr große Verantwortung gehabt und habe sie auch heute, sie könne sich denken, dass das belaste. Aber er sei ja seiner Verantwortung sehr gerecht geworden. […] Sie sagt, sie hoffe, dass es ihm bald wieder besser gehe und bedankt sich.
Verteidiger RA Weber fragt das Gericht nach dem Vorhalt, dass der Angeklagte geklingelt habe und fragt die Vorsitzende, woher sie das haben. Die Vorsitzende erklärt, sie habe das der Vernehmung des Zeugen vom 9. Oktober entnommen. Als nächstes bezieht sich RA Weber auf eine Skizze des Synagogengeländes, die im Gerichtssaal über Monitore gezeigt wird. Er fragt nach dem Haupttor. Der Zeuge habe gesagt, dass es immer verschlossen sei und fragt, welche Sicherungsvorkehrungen da getroffen wurden. Der Zeuge sagt, das Tor sei immer abgeschlossen. […] Der RA fragt, wie genau das Tor abgesichert sei, ob das nur ein normales, handelsübliches Schloss sei. Die Anwältin des Herrn R. sagt, sie würden diese Frage aus sicherheitsrechtlichen Gründen nicht beantworten. Die Vorsitzende merkt an, man habe ja Fotos aus der Akte von dem Tor gesehen, wo man erkennen könne, wie es geschlossen war. RA Weber erwidert, er habe da nicht erkannt, was den Verschluss herbeigeführt habe. Die Vorsitzende schlägt vor, da Herr R. nur Angestellter der Synagoge sei, den Gemeindevorsitzenden zu fragen. […] Weber formuliert noch einmal seine konkrete Frage: Er möchte wissen, welche Art von Verschluss beim Haupttor gewesen sei. Die Vorsitzende sagt, das würden sie zur Kenntnis nehmen. […]
RA Hoffmann erhält das Wort. Er merkt an, dass die Frage, so wie sie gestellt war, unzulässig sei. Wenn dann müsse man fragen, wie die Türe damals gesichert war – heute spiele keine Rolle. RA Weber erwidert, genau so sei seine Frage gemeint gewesen. [XXX, Details zum Synagogengelände, Anm. democ.]
RA Weber fragt nach der Skizze des Geländes und will wissen ob eine bestimmte Linie einen Zaun darstelle. RAin Lang, Vertreterin der Nebenklage, beanstandet die Frage, da der Zeuge die Skizze nicht angefertigt habe. RA Weber fällt ihr ins Wort und wird laut. Die RAin sagt, er solle aufhören, ihr ins Wort zu fallen – sie möge es nicht, wenn Männer ihr ins Wort fallen. RA Weber sagt, sie solle aufhören ihn anzuschreien, das sei sein Fragerecht. RAin Lang widerspricht: er sei ihr ins Wort gefallen.
Die Vorsitzende schlägt vor, nochmal die Lichtbilder anzusehen. [XXX, Details zum Synagogengelände, Anm. democ.]
Der Nebenklagevertreter RA Böhmke fragt, ob es dem Zeugen bekannt sei, ob die Tür zur Straße vor und am Anfang des Gottesdienstes verschlossen gewesen sei. Der Zeuge antwortet, die Tür auf das Synagogengelände sei immer abgeschlossen. Die Vorsitzende fragt, ob die Tür zum Synagogengebäude normalerweise offen sei. Er antwortet, dass sie früher immer offen gewesen sei. Auf die Frage, wie seine Mutter den Vorfall verkraftet habe, antwortet der Zeuge, sie habe es sehr schlecht verkraftet. Sie sei sehr besorgt gewesen, da er sozusagen an vorderster Stelle war. Ihr gehe es immer noch schlecht, aber sie möchte sich nicht an Ärzte wenden – sie sage, er sei bei ihr und das sei ausreichend. Die Vorsitzende fragt, wie alt seine Mutter sei. Er sagt, sie sei 83. Sie fragt zurück, ob er sie nicht überredet bekomme, dass sie vielleicht doch einmal zum Arzt gehe. […] Sie sagt, seine Mutter habe wahrscheinlich auch viel erlebt in ihrem Leben. Der Zeuge bejaht das, sie habe einiges erlebt in ihrem Leben. Während des Krieges sei die Familie von seinem Opa in den fernen Osten zwangsumgesiedelt worden, da sei dann ein autonomes Gebiet für Juden organisiert worden. Erst nach dem Krieg sei die Familie dann in die Ukraine gesiedelt. Richterin Mertens fragt, wann sie nach Deutschland gekommen seien. Herr R. antwortet, das sei ‘96 gewesen. [XXX, Angaben zum Synagogengelände, Anm. democ.]
Die Vorsitzende bedankt sie sich beim Zeugen und erklärt, er könne seine Auslagen geltend machen. Sie wünsche ihm alles Gute und bittet ihn, er solle seiner Mutter gute Besserung bestellen.
Die Verhandlung wird für 15 Minuten unterbrochen.
Aussage der Zeugin Agatha M.
Anschließend wird die Zeugin Agatha M. begrüßt, über ihre Zeugenpflichten belehrt und zu ihren Personalien befragt. [XXX, persönliche Daten, Anm. democ.] Die Aussagen der Zeugin werden übersetzt.
Die Vorsitzende sagt, die Zeugin sei in Halle gewesen und sie gehe davon aus, dass sie mit der Gruppe von jungen Leuten unter Organisation von Rabbiner Jeremy B. und Rabbinerin Rebecca B. nach Halle gekommen sei. Sie fordert die Zeugin auf, den Tag aus ihrer Sicht zu schildern.
Frau M. erzählt, sie sei bereits am 8. Oktober angereist, weil der Feiertag am vorherigen Abend beginne. Sie sei mit dem Zug angereist und habe sich mit den anderen Leuten aus der Gruppe erst im Hotel getroffen. Als sie sich auf den Weg zur Synagoge begeben haben, sei ihr aufgefallen, dass dort keinerlei Polizei war, was sie verwundert habe. Der Leiter der Gemeinde habe sie dann in Empfang genommen und durch die Synagoge begleitet. Sie hätten dann am Abend miteinander gebetet. Sie sei sehr gerührt gewesen von der Atmosphäre. Die Gruppe hätte sich gedacht, dass es gut wäre den Feiertag in einer kleineren Stadt zu verbringen und in der Gemeinschaft anderer Menschen des selben Glaubens diesen Tag zu begehen. Nach dem Gebet seien sie in die Stadt gegangen und hätten sich dort auf einen Spaziergang begeben. Es sei sehr nett gewesen und eine gute Gelegenheit, um sich besser kennenzulernen: “Ich kannte nur wenige Leute aus der Gruppe und heute sind alle diese Menschen meine Freunde”. Am nächsten Tag habe sie sich früh zu einer Meditation begeben, noch bevor die Gebete angefangen hätten. Sie habe sich an der Situation sehr erfreut und habe sich dort in Gänze der Atmosphäre hingeben wollen. Sie habe mit ihrer ganzen Seele und ihrem ganzen Körper daran teilhaben wollen. Die Gebete seien sehr ruhig gewesen. Sie sei sehr emotional involviert gewesen, ihre Emotionen seien hochgekocht und sie habe ihre Gedanken auf diesen Feiertag ausgerichtet. Sie hätten dann begonnen, die Tora zu lesen. Dann habe sie eine Art Knall gehört und zunächst geglaubt, dass die Tora heruntergefallen sei. Sie habe dann als nächstes den Vorbeter gesehen, wie er in eine bestimmte Richtung in der Synagoge gelaufen sei. Sie habe bemerkt, dass unter den Anwesenden eine Art Panik ausbrach. Sie habe sich in der Synagoge im oberen Teil, auf dem Balkon, der für die Frauen bestimmt ist, um dort die Gebete zu verrichten, befunden. Sie sei die Treppe herunter- und auf die Ecke zugelaufen, in der der Monitor gewesen sei. Sie habe aber nichts erkennen können und sei dann in den zweiten Raum gelaufen. In dieser Zeit hätten einige aus der Gruppe begonnen, die Tür zu verbarrikadieren. Als nächstes hätten sie ein Zeichen bekommen, sich in die oberen Räumlichkeiten zu begeben. Sie erinnere sich daran, dass viele der älteren Leute Schwierigkeiten gehabt hätten, die Treppe nach oben zu kommen. Ihr sei aufgefallen, dass allgemein Panik herrschte, dass es sehr eng war auf dem Flur und dass es sich um eine Stresssituation gehandelt habe. Sie alle hätten einfach nicht gewusst, wie lange die Situation andauern würde. Sie hätten nicht gewusst, ob etwas passiert sei und wann sie wieder runter in den Gebetsraum gehen könnten. Nach einiger Zeit seien sie dann wieder nach unten gegangen und hätten ihre Gebete fortgesetzt, sie könne aber nicht sagen in welchem Zeitraum. Sie erinnere sich an diesen Tag wie durch einen Nebel.
Sie habe auch einen Anruf von einer Freundin erhalten und habe dann an ihre Eltern und Freunde geschrieben, dass ihr gut gehe und ihr nichts passiert sei, da sie bemerkt habe, dass sie über Facebook viele Nachrichten erhalten hatte. Während der Zeit, in der sie auf die Evakuierung gewartet hätten, sei sie sehr aufgeregt gewesen. Aber sie müsse auch sagen, solange sie sich in der Synagoge befunden habe, habe sie sich sicher gefühlt. Später seien sie dann in Gruppen von zwei bis drei Personen aufgeteilt worden. […] Zum damaligen Zeitpunkt habe sie noch überhaupt kein Deutsch gesprochen und es habe ihr sehr viel daran gelegen mit einer Person zusammenzukommen, die Deutsch kann. Sie erinnere sich daran, dass die Polizeibeamten die Tüten mit dem Essen wegnehmen wollten, aber sie habe nicht verstanden, was sie zu ihr sagten.
Sie wisse, dass das eine Frage sei, wie bestimmte Dinge gehandhabt werden und wie die Regeln dafür seien – sie hätten ja auch keine Ausweise dabei gehabt. Sie hätten ein Schild mit ihrem Namen bekommen. Sie habe sich gefühlt, wie jemand, der sich im Krieg befindet, insbesondere weil sie als Person mit einer Nummer versehen worden sei.
Dann hätten sie im Bus gesessen. Es sei ihr vorgekommen, als ob sie sehr lang im Bus hätten sein müssen. Einige Leute im Bus seien eher ruhig gewesen, andere seien sehr beunruhigt gewesen und hätten sich unter Stress gefühlt. Als nächstes seien sie dann ins Krankenhaus gefahren worden. Von den Schildern, die sie hatten, seien die Nummern abgelesen und an einen Scanner weitergeleitet worden. “Ich entschuldige mich, dass ich das immer wieder hervor hebe, aber für mich hat es eine sehr große Bedeutung gehabt, weil ich an die Zeit aus dem Zweiten Weltkrieg erinnert wurde.” Aus dem Krankenhaus erinnere sie sich, dass sie dort sehr herzlich empfangen worden seien. Sie hätten dort ihre Gebete beenden können und es sei möglich gewesen, dort gemeinsam zu singen und zu tanzen. Sie habe sich gefreut, dass ihnen – in Anführungsstrichen – nichts Schlimmeres passiert sei. Sie erinnere sich auch noch an das Fastenbrechen und daran, wie sie nach dem ganzen Adrenalinschub und dem Stress das erste gemeinsame Essen zu sich genommen hättem. In das Hotel seien sie später gebracht worden, von einer Polizei-Armada eskortiert. Sie habe noch ca. 24 Stunden danach unter Adrenalin gestanden. Sie habe nicht realisieren können, was vorgefallen ist – das sei ihr dann erst langsam möglich gewesen, als sie mit dem Zug Richtung Berlin gefahren sei. Sie erinnere sich, dass jeder Klang einer Sirene oder jeder Rettungswagen bei ihr ein Gefühl der Angst hervorgerufen habe. […] “Die Tatsache, dass wir uns dort als Gruppe befunden haben und gemeinsam dort waren, hat mir sehr viel Kraft gegeben. Ich möchte euch allen danken, die ihr dort gewesen seid. Dank euch habe ich mich damals stärker gefühlt und fühle mich auch heute stärker.” Obwohl sie danach an den Symptomen einer PTBS gelitten habe, könne sie zum heutigen Tag sagen, dass sie sich stärker und kräftiger fühle. “Das Leben wird mit Sicherheit nicht mehr das gleiche sein und so, wie ich durch dieses Ereignis gereift bin, hoffe ich und denke, dass auch nachfolgende Generationen und die Gesellschaft durch dieses Ereignis an Reife gewinnen werden.” Sie stelle sich aber immer die Frage, ob es wirklich notwendig gewesen sei, dass es zu einer solchen Tragödie kommt. “Ist es wirklich notwendig gewesen, dass zwei Personen ums Leben kommen und andere verletzt werden? Möge die Gesellschaft sehen, dass Antisemitismus nach wie vor besteht”. Zum heutigen Tag glaube sie, sagen zu können, dass der Angeklagte mit Sicherheit seine Aufgaben im Geschichtsunterricht nicht erfüllt habe. Und was sie traurig stimme sei, was sie über sein Umfeld gehört habe. “Hat meine Familie nicht genug gelitten während des Krieges? Muss ich hier tatsächlich hervorheben, dass ich am Leben bin dank meiner Großelterngeneration, die durch verschieden Lager gehen mussten?” Sie habe die erste Generation sein wollen, die in Freiheit leben könne. Ihre Eltern seien unter dem Sowjetischen Regime groß geworden und erst seit den 90er Jahren könne man tatsächlich über ein freies Polen sprechen. Jedoch sei es nicht frei von Antisemitismus. Als sie den Entschluss gefasst habe, zum Studium nach Deutschland zu kommen, habe ihr Großvater sie gebeten, nicht in die Synagoge zu gehen. Er habe es für wirklich gefährlich gehalten. “Mein Herz läuft über vor Trauer, wenn ich sehe, das Antisemitismus immer noch nicht beendet ist.” Als Historikerin habe sie sich mit anderen Epochen befasst, in denen Antisemitismus geherrscht habe, unter anderem im Mittelalter. […] Heute ist es notwendig zu sagen: “Stop! Es reicht!”.
Die Vorsitzende bedankt sich: “Das haben Sie uns wirklich gut erläutert und erklärt und ich denke, dass uns das alle sehr beeindruckt hat”. Sie fragt Frau M., wie lange sie schon in Deutschland sei. Die Zeugin antwortet, seit 1,5 Jahren. Sie sagt, dass dieses terroristische Attentat mit Sicherheit nicht ihrem Traum entgegenstehen wird, ihr Studium hier in diesem Land zu beenden. Sie wolle ihr Studium hier beenden und hier leben. “Und dieses Attentat wird mich mit Sicherheit nicht daran hindern, dass ich die Synagoge aufsuche oder von meinem Glauben abweiche. Ganz im Gegenteil, ich bin heute ein viel stärkerer Mensch geworden und ich kann sagen, dass mich dieses Erlebnis bestärkt hat, in meinem Glauben und in meiner religiösen Überzeugung. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass Gott sein Volk Israel nicht vergessen wird.” Und sie glaube fest daran, was im Psalm 121,4 zu lesen sei. […]
Die Vorsitzende sagt, es sei nicht notwendig gewesen, dass die Opfer Zeugin eines Attentats wurde, damit sie Stärke hat. Sie fragt Frau M., ob die PTBS bei ihr auch erst ein paar Monate später eingesetzt habe. Die Zeugin sagt, das habe sich eigentlich sehr schnell gezeigt. Sie habe aufhören müssen zu arbeiten und habe nicht alle Lehrveranstaltungen besuchen können. Die Vorsitzende bedankt sich nochmals. Die Zeugin erhält ein Formular für die Auslagen.
Die Verhandlung wird kurz unterbrochen.
Aussage der Zeugin Christina F.
Als nächste Zeugin ist Christina F. geladen. Sie wird von der Vorsitzenden über ihre Zeugenpflichten belehrt und zu ihren persönlichen Daten befragt. [XXX, persönliche Daten, Anm. democ.]
Auf die Frage, ob sie über ihre Anwälte zu laden sei, bittet die Zeugin darum, dass das auch wirklich so gemacht werde – es habe auch schon Briefe an ihre private Adresse gegeben. RAin Lang bittet für ihre Mandantin darum, dass diese erst einen Freivortrag halten kann, bevor sie befragt wird. Die Vorsitzende bejaht das, sie gehe davon aus, dass die Zeugin berichten werde, was sie erlebt habe.
Christina F. möchte vorausschicken, dass sie im März 2019 für einen ursprünglich einjährigen Studienaufenthalt nach Paris gezogen sei. Zum Tatzeitpunkt habe sie bereits in Paris gelebt. Sie sei nicht sicher gewesen, wo sie Jom Kippur verbringe, weil sie am Tag danach in Berlin sein wollte, wo ihr Studienwerk 10-jähriges Bestehen gefeiert habe. Sie habe den Feiertag einhalten wollen, und da man an Jom Kippur nicht reise, sei klar gewesen, dass sie bereits vorher anreisen müsse. Rabbiner B. und Rabbinerin B. hätten ihr von ihren Plänen erzählt, mit einer kleinen Gruppe nach Halle zu fahren – das sei ihr als gute Kompromisslösung erschienen. Am Morgen des 8. Oktober sei sie aus Paris nach Berlin geflogen und nach Halle gefahren, wo sie eine der ersten gewesen sei, die im Hotel ankam. Den Nachmittag habe sie recht entspannt verbracht, bis sich die Gruppe traf. Eins sei ihr gleich aufgefallen – sie kenne das aus Berlin, das vor jeder Synagoge mindestens zwei Polizisten stehen. Sie habe also gedacht, sie laufe auf dem Weg zur Synagoge einfach so lange die Straße entlang, bis sie die Polizisten sehe. Sie sei an der Synagoge vorbeigelaufen und habe noch mal nachgucken müssen.Sie sei etwas verwundert gewesen, vor allem auch weil an der Mauer ein Schild mit der Aufschrift “Synagoge” hing. Sie habe kurz gedacht, Halle sei ja klein, vielleicht brauche man das hier nicht. In der Gemeinde habe sie dann nachgefragt. Dort habe man ihr erzählt, dass sie sich schon lange ohne Erfolg um Polizeischutz bemüht hätten. Darüber habe sie sich sehr gewundert.
Am 9. Oktober sei sie früh aufgestanden und habe noch einen Spaziergang gemacht, bevor sie dann gegen 8:30 Uhr als eine der ersten in der Synagoge angekommen sei. Da es eine orthodoxe Synagoge sei, gebe es eine Frauenempore – sie sei aber bewusst im unteren Bereich geblieben geblieben. Auch dort gebe es einen hinter einem Vorhang abgetrennten Frauenbereich. Dort habe sie direkt hinter Rabbinerin B. Platz genommen. Dann habe das Gebet begonnen. Beim Toralesen habe sie zwei laute Knallgeräusche gehört. Ihr erster Gedanke sei gewesen, dass es ein Terroranschlag sei und sie alle sich ducken müssten. Sie habe den Gedanken aber wieder verworfen, weil es doch absurd wirkte und erstmal keine Panik ausgebrochen sei. Sie habe versucht Richtung Eingangsbereich zu sehen und zu verstehen, was passierte. Sie habe dann gemerkt, dass die Stimmung in der Synagoge gekippt war und das Gebet unterbrochen worden sei. Sie habe gesehen, dass sich der Gemeindevorsitzende und der Sicherheitsmann im Eingangsbereich unterhielten. Sie habe nichts verstanden, aber es sei klar gewesen, dass die Lage ernst war.
Schräg links vor ihr sei ein Freund plötzlich aufgesprungen und zum Hintereingang gelaufen. Sie habe zu dem Zeitpunkt schon verstanden, dass die Lage ernst sei und draußen eine Person in Kampfmontur versuche einzudringen. Unklar sei gewesen, wo sich der Angreifer genau befand und ob er auf der Straße oder bereits auf dem Gelände war. Ihr einziger Gedanke sei gewesen: “Der Freund von mir stirbt jetzt nicht alleine.” Sie sei ihm hinterhergerannt und habe gesehen, dass er die Hintertüre verbarrikadierte. Sie hätten dann eine weitere Tür mit Tischen verbarrikadiert. Als sie ihn fragte, was gerade passiere, habe er gesagt, dass er keine Ahnung habe.
Die anderen BeterInnen seien ihnen entgegen gekommen und sie habe sich bewusst entschieden, nochmal in den Gebetsraum zurückzugehen. Dort habe sie ihre Jacke und ihren Schal gelassen, beides Kleidungsstücke von unglaublich großem emotionalen Wert. Es seien Erbstücke von ihrer verstorbenen Großmutter und ihrem verstorbenen Vater. Also sei sie nochmal zurück in den Gebetsraum gegangen und sei dann den anderen Betern in den hinteren Raum gefolgt. Dort habe sie auch gestanden, als der Gemeindevorsitzende die Polizei angerufen habe. Sie habe ihn sagen hören, dass es ein Terroranschlag sei. Das sei das erste Mal gewesen, dass sie verstanden habe, wie ernst und gefährlich die Lage ist. So richtig verstanden habe sie das erst viel später und auch heute noch habe sie immer wieder Schwierigkeiten, es zuzulassen, dass dieses Attentat wirklich passiert ist. Das Trauma sei sehr groß. Sie erinnere sich auch an den Adrenalinstoß, der tagelang angehalten habe. Sie habe dann den Tag damit verbracht, nachzusehen, wie es den anderen geht. Der Vorbeter habe ihr gesagt, sie könne hochgehen und den älteren Menschen helfen. Als sie ihn gefragt habe, was sie als nächstes tun könnte, habe er gesagt, dass alle weg von den Fenstern müssten. Sie sei dann wieder nach oben gegangen und habe allen gesagt, dass sie sich ducken sollten. Der Kantor habe dann mit dem Gemeindevorsitzenden und dem Sicherheitsbeauftragten im Eingangsbereich vor dem Überwachungsbildschirm gestanden. Sie habe den Kantor gefragt, ob er okay sei und was eigentlich los sei. Er habe verneint und ihr gesagt, dass da ein Mensch auf der Straße liege. Ihr erster Impuls sei gewesen, dass sie da raus müsse, um Erste Hilfe zu leisten, aber es sei gleichzeitig vollkommen klar gewesen, dass sie niemals hinaus gelassen würde. Sie habe erst ein paar Tage später verstanden, dass die Person auf der Straße tatsächlich tot und dass es Jana gewesen sei. Der Gemeindevorsitzende habe dann gesagt, dass die Polizei jetzt da sei und ihr das Auto auf dem Bildschirm gezeigt. Sie habe gefragt, warum die denn nichts machen, denn es sei zu sehen gewesen, dass sich niemand um die am Boden liegende Jana gekümmert habe. Es sei eine Katastrophe gewesen. “Es war eine Katastrophe, zu sehen, wie ein Mensch am Boden liegt und sich niemand dafür interessiert.” Sie hätten dann eine erste Entwarnung bekommen und es habe geheißen, dass sie irgendwann evakuiert würden. Ihr sei es in dem Moment unglaublich wichtig gewesen, weiter zu beten. Sie habe die Kontinuität gebraucht und es habe ihr viel Stärke gegeben, dass die, die wollten, gemeinsam weiter beteten. Dann seien sie in Kleingruppen evakuiert worden. Sie sei in der vorletzten Gruppe gewesen. Sie seien herausgebracht worden. Dort habe eine Art Korridor zwischen Polizei und Feuerwehr zum Bus geführt. Sie habe sich gewundert, dass es ein ganz normaler Bus war – ohne Sicherheitsglas oder besondere Sicherheitsvorkehrungen – und sie im Sichtfeld der Medien auf der anderen Straßenseite warten mussten. Es habe sie auch verstört, dass der Gemeindevorsitzende und der Kantor nicht in den Bus gebracht worden seien, sondern direkt von der Polizei mitgenommen wurden. Sie habe keine Ahnung gehabt, was eigentlich passiert war. Es habe keinerlei Kommunikation oder Informationen gegeben.
Die einzige positive Erinnerung, die sie an diesen Tag habe, sei das Krankenhaus. Es sei heute noch sehr emotional. Dort hätte ein Team aus Ärzten und Pflegern Spalier gestanden. Die erste Person, die sie ansprach, sei der stellvertretende ärztliche Leiter gewesen. Er habe sie herzlich Willkommen geheißen und gesagt, dass sie dort keine Patienten, sondern Gäste seien. Das sei das Allerwichtigste gewesen: “Da habe ich das erste mal verstanden, dass ich in Sicherheit bin, dass ich kein Störfaktor bin und dass es okay ist, dass ich jetzt hier bin”. Sie hätten dann weiter gebetet und gemeinsam das Fasten gebrochen. Sie habe sich bewusst dafür entschieden, ihre Mutter erst anzurufen, wenn Jom Kippur vorbei ist. Unmittelbar nach dem Ende des Gebets habe sie dann eine Mitarbeiterin des Krankenhauses nach einem Telefon gefragt. Da das Festnetz des Krankenhauses nicht funktionierte, habe diese ihr ohne zu zögern ihr Privathandy gegeben. Sie habe ihre Mutter dann erreicht. Da habe sie das erste mal ausgesprochen, dass sie okay sei.
Wegen des Telefonats habe sie anscheinend eine Ansage der Polizei verpasst und habe deshalb nicht gewusst, dass sie alle aussagen mussten, bevor sie das Krankenhaus verlassen konnten. Sie wisse noch, dass plötzlich schräg hinter ihr ein Mann aufgetaucht sei, den sie noch nie vorher gesehen habe – anscheinend ein Polizist in Zivil. Der habe “Na, wollen Sie jetzt?” zu ihr gesagt und sie habe sich irrsinnig erschrocken und ihn gefragt, wer er sei und worum es gehe. Er sei dann patzig und genervt geworden und habe gesagt, wenn sie das Krankenhaus verlassen wolle, müsse sie aussagen. Sie habe ihm gesagt, dass sie das nicht wusste. Er habe nur genervt gesagt: “Kommen Sie jetzt mit oder was?” Sie seien dann in einen Nebenraum gegangen. Es sei unglaublich angsterfüllend gewesen, mit einem fremden Menschen die Cafeteria zu verlassen. Der Polizeibeamte habe sie nach ihrem Ausweis gefragt. Sie habe geantwortet, dass sie keine dabei habe, weil Jom Kippur ist und sie nichts bei sich tragen dürfe. Der Polizist habe dann zu ihr gesagt: “Das ist aber komisch.” Sie habe erwidert: “Das ist nicht komisch, das ist Judentum und so fangen wir gar nicht erst an.” Er sei genervt von ihr gewesen und sie habe nicht das Gefühl gehabt, dass er sich dafür interessierte, was sie zu sagen hatte. Sie habe eher den Eindruck gehabt, eine nervige Belastung für ihn zu sein. Am Ende des Gesprächs habe sie ihm ihre Kontaktdaten regelrecht aufdrängen müssen. Er habe nicht danach gefragt, sie sei aber davon ausgegangen, dass sie nochmal kontaktiert würde um als Zeugin aufzutreten. Sie habe nach dem weiteren Prozedere gefragt und der Beamte habe genervt gesagt: “Ja, ich nehme ihre Adresse schon.” Es sei ihr sehr unangenehm gewesen, ihre Adresse herauszugeben, aber sie habe gewusst, dass es wichtig sei. Sie habe den Beamten noch gefragt, ob er ihr sagen könne, was genau passiert wäre und was der Stand der Dinge sei. Der Polizeibeamte habe ihr gesagt, da müsse sie seine Kollegen fragen, die den Mann gefasst hätten. Sie habe überhaupt kein Sicherheitsgefühl vermittelt bekommen.
In der Cafeteria habe sie dann gesehen, wie Jeremy B. mit einem weiteren Polizisten diskutierte. Sie habe gehört, dass Jeremy B. und Rebecca B. mit ihrer Tochter in der Synagoge hätten übernachten sollen und die Babynahrung in der Synagoge war, zu der kein Zugang möglich gewesen sei. Daraufhin habe sie eine Mitarbeiterin des Krankenhauses gebeten, die Versorgung des Baby herzustellen, was diese auch sofort getan hätte. Es sei nicht klar gewesen, wo die Notschlafstelle für die Familie sein würde, und wann sie dorthin könnten. […] Sie habe dann im Hotel angerufen und nach einem Schlafplatz gefragt. Der Rezeptionist habe gesagt, dass alle Zimmer belegt seien. Sie habe noch einmal nachgehakt, und gesagt dass sie einen Schlafplatz für einen Überlebenden aus der Synagoge und seine Familie bräuchte. Der Rezeptionist habe ihr daraufhin mitgeteilt, dass gerade die letzten drei Zimmer von der Polizei reserviert worden seien – sie, F., vermute, für die zusätzlichen Einsatzkräfte. “Ich meinte dann: Gut, dann sind die wohl für uns und eins davon hätte ich gern.” Somit habe es dann auch ein Zimmer für Rabbi B. und Rabbinerin B. gegeben. Am Ende des Tages seien sie dann mit dem Bus zum Hotel gebracht worden. Ihr sei klar gewesen, dass sie den Polizisten nicht vertrauen könne und dass diese nicht wüssten, was sie tun. Sie habe einem Polizeibeamten gesagt, sie steige erst in den Bus ein, wenn sie einen Namen und eine Telefonnummer von einer zuständigen Ansprechperson am nächsten Tag habe. In dieser Zeit seien die anderen bereits im Bus gewesen und hätten dort gesungen, unter anderem ein Lied mit dem Text: “Am Israel Chai”. Sie sei von dem Polizisten gefragt worden, ob sie wisse, was “die da drin” singen. Sie habe angefangen den Text zu übersetzen, da sei er ihr ins Wort gefallen und habe gesagt “Ja, also Israelis”. Sie sei dann in die Position gekommen, den Unterschied zwischen Israelis und nicht-israelischen Juden zu erklären. Den Polizisten habe das nicht interessiert, er habe sich eher über ihre Erklärung amüsiert. Die Zeugin sagt, sie finde es unglaublich, dass die Polizei für ihre Verstärkung Hotelzimmer reserviert habe, gleichzeitig aber eine traumatisierte Kleinfamilie an eine Notschlafstelle verwiesen habe, von der nicht einmal klar war, wann und wo es sie geben würde. Und sie finde es unfassbar, dass der Angeklagte mehr über Juden und das Judentum wisse, als die Polizei.
Sie habe in den Tagen danach mit RIAS in Berlin telefoniert. Sie habe von denen gehört, dass sie in ihren Erfahrungen mit der Polizei noch glimpflich davon gekommen sei und es andere Betroffene gebe, die durch die Vernehmung der Polizei ein sekundäres Trauma davongetragen hätten.
Sie habe noch unter Schock gestanden, aber sich am Freitag [Schabbat, Anm. democ.] mit Müh und Not gezwungen, ohne Handy in die Synagoge in Berlin zu gehen. Sie habe dort eine Auseinandersetzung mit dem Sicherheitspersonal gehabt, die dazu geführt habe, dass sie das erste Mal geweint habe. Das sei wichtig gewesen, habe ihren Schockzustand beendet und langfristig dazu geführt, dass die Traumasymptomatik einsetzte. Sie habe kaum mehr geschlafen. Als sie dann wieder nach Paris gefahren sei, habe sich das angefühlt wie eine Flucht. In Paris sei sie von ihrer Gemeinde und ihrem Rabbiner unglaublich großartig aufgefangen worden. Er habe ihr schon eine Therapeutin gesucht, die auf Trauma spezialisiert sei. Dieses Angebot habe sie aber erst nach vier Wochen in Anspruch genommen, so lange habe es gebraucht, um zu merken, dass es wirklich nicht allein gehe. Es habe die Reaktion anderer gebraucht, so habe zum Beispiel ihr Rabbiner zu ihr gesagt: “Du bist ganz grau.” Ein Freund von ihr habe gemeint: “Wenn ich dir in die Augen sehe, dann ist da niemand.”
Zu ihrer Traumasymptomatik hätten Ein- und Durchschlafstörungen, Panikattacken an Orten mit vielen Menschen, Gedächtnisprobleme, Alpträume und Blackouts gehört. Manchmal habe sie plötzlich an einem Ort gestanden, ohne zu wissen, wie sie dort hingekommen war. Sie habe wochenlang versucht, ihren Alltag zu organisieren, indem sie sich alles aufgeschrieben habe, was sie tat. Sie sei überhaupt nicht fähig gewesen, in ihren Alltag zurückzukehren oder ein normales Leben zu führen. Sie habe auch psychosomatische Symptome gehabt, wie Hautreaktionen und Haarausfall. An ihrer Dissertation habe sie monatelang nicht gearbeitet. Es sei schon schwer genug gewesen, durch den Tag zu kommen, einzukaufen und sich zu ernähren. Die Symptome hätte sie vor allem bis Januar gehabt, sie würde sie aber bis heute begleiten. Während des Lockdowns oder nun zum Prozessbeginn seien sie abgeschwächt wiedergekommen. Sie habe seit zwei Wochen kaum geschlafen.
Was sie gerettet habe, sei – abgesehen von ihrer Psychotherapeutin – das Boxtraining gewesen. Es habe sehr viele Tage gegeben, an denen gar nichts gegangen sei und sie nicht mal aus dem Bett gekommen sei. Sie habe es aber trotzdem noch zum Sport geschafft. Das sei es gewesen, was ihr Resilienz gegeben habe.
Es habe sich langfristig viel für sie verändert. Sie lebe immer noch in Paris, auch wenn der Aufenthalt ursprünglich nur für ein Jahr geplant gewesen sei. Sie habe im Verlauf des letzten Jahres festgestellt, dass sie nicht nach Deutschland ziehen könne. Das sei zu einem Teil diesem Anschlag, aber auch zu einem großen Teil der Polizei und ihrem unsensiblen Umgang mit den frisch Traumatisierten geschuldet.
Sie habe überhaupt kein Vertrauen mehr in deutsche Autoritäten. Sie lebe hier in Angst und Misstrauen: “So kann kein Mensch leben. Eine Zukunft in Deutschland kann ich mir nicht vorstellen”. Abschließend wolle sie den Bogen zu heute spannen. Sie sei erschöpft. “Ich bin vor allem emotional erschöpft, weil ich unglaubliche Angst habe, dass wir schon wieder nicht gehört werden und schon wieder nicht ernst genommen werden.” Sie fühle sich in Deutschland nicht ernst genommen. Sie sehe das an der Inaktivität der Politiker und an der Gesellschaft, die nicht sehe, dass es ein historisch gewachsenes Problem des Antisemitismus gebe, das ernst genommen werden müsse. Und sie sehe es auch an diesem Prozess. Sie als NebenklägerInnen müssten als Bittsteller beim Bundesministerium für Justiz anfragen, damit sie teilnehmen könnten – sie hätten eine Pauschalzahlung erhalten, aber das reiche bei Weitem nicht. Zudem kritisierte die Zeugin eine nicht vorhandene sprachliche Sensibilisierung des Gerichts, das seit dem ersten Tag inhaltlich unreflektiert die Sprache des Täters reproduziere.
Die Vorsitzende bedankt sich und fragt Frau F., seit wann sie in Deutschland sei. Sie antwortet, dass sie seit Februar 2017 hier sei. Auf die Frage, ob sie vorher in Österreich gelebt habe, antwortet sie: “Größtenteils, aber nicht durchgängig.” Die Frage, ob sie jetzt noch in psychotherapeutischer Behandlung sei, bejaht sie.
Die Vorsitzende Mertens bedankt sich bei der Zeugin und überreicht das Formular zur Reisekostenerstattung. Die Vorsitzende kündigt eine Unterbrechung an, man habe sich eine kleine Pause verdient. Der Angeklagte lacht. Die Vorsitzende maßregelt ihn, dass er sich aus Respekt vor allen Personen zusammen nehmen solle. Jeder Mensch habe Respekt verdient, das müsse er doch eigentlich wissen.
Es folgt eine Unterbrechung.
Aussage der Zeugin Mandy R.
Anschließend wird Frau Mandy R. als Zeugin befragt. Die Vorsitzende belehrt sie über ihre Zeugenpflichten und befragt sie zu ihren Personalien. [XXX, persönliche Daten, Anm. democ.]
Die Vorsitzende Mertens sagt, am 9. Oktober 2019 seien schlimme Ereignisse passiert. Frau R. habe an diesem Tag die Straßenbahn benutzt. Sie bittet die Zeugin, aus ihrer Sicht zu schildern, wie alles abgelaufen sei.
Die Zeugin sagt, sie sei an jenem Tag gegen 12 Uhr aus der Straßenbahn ausgestiegen. Beim Aussteigen habe es eine laute Detonation gegeben. Sie habe die Schienen überquert, an der Kreuzung sei es rot gewesen, sodass sie warten mussten. Zwei andere Frauen seien über die Straße gegangen, sie sei um die Ecke gegangen. Dort habe jemand mit Helm und Gewehr gestanden. Es sei eine komische Situation gewesen und sie habe die Straßenseite gewechselt. Dann habe der Attentäter eine Frau umgeschossen und ihr Kopf habe in dem Moment nur gesagt: “Renn!”. Sie sei in die nächste Parkeinfahrt gelaufen und habe sich hinter einem Auto versteckt. […]
Die Vorsitzende fragt, warum sie die Straßenseite gewechselt habe. Die Zeugin antwortet, da habe ein Auto gestanden und da sei diese Person gewesen, das sei alles ein bisschen komisch gewesen und sie hätte sowieso die Straße überqueren wollen. Die Vorsitzende Mertens fragt, ob sie wusste, dass dort die Synagoge war, was die Zeugin bejaht. Die Frage, ob sie wusste, dass an dem Tag ein hoher jüdischer Feiertag war, verneint sie. Die Vorsitzende fragt, ob sonst noch Leute auf der Straße gewesen seien. Die Zeugin antwortet, sie sei nur mit einer Frau aus der Straßenbahn in die Straße eingebogen. Mertens fragt nach den Schüssen auf Frau L. […] Die Vorsitzende fragt, ob die Zeugin das Gesicht des Attentäters sehen konnte. Diese antwortet, sie habe den Helm und die Kampfmontur von der Bundeswehr sehen können. […] Die Vorsitzende fragt, ob sie eine Waffe gesehen habe. Die Zeugin antwortet, das habe sie schon als sie um die Ecke gekommen sei – zu dem Zeitpunkt habe sie aber gedacht, dass es sich um Bundeswehr oder Ähnliches handeln müsse.
Die Vorsitzende sagt, das müsse man erstmal realisieren, was da passiert, auf einer Straße, auf der man immer langgeht. Sie bittet die Zeugin noch einmal, die Situation zu schildern, bevor sie sich geduckt habe. R. sagt, das seien ja nur Sekunden gewesen. Ihr Kopf habe gesagt, sie solle wegrennen und sich abducken, dann habe es minutenlang nur geknallt. Die Vorsitzende fragt, ob sich das auf Jana L. bezöge. Die Zeugin sagt, es habe auch danach noch geknallt. Sie sei in eine Parkeinfahrt gelaufen, habe sich hinter ein Auto geworfen und versucht die Polizei zu rufen. Aber Geknall habe sie immer noch gehört. Mertens fragt, ob der Attentäter die Waffe auf sie gerichtet habe. […] Die Zeugin sagt, sie wisse nicht ob er auf sie geschossen habe, aber sie nehme es an. Sie wisse, dass er sie registriert habe, weil er auch in ihre Richtung geguckt habe. […] Die Schüsse seien ohrenbetäubend gewesen. Sie habe gegen 12:05 Uhr versucht, die Polizei zu rufen, doch dort sei besetzt gewesen. Danach habe sie ihren Mann angerufen und ihm gesagt, er solle bitte kommen. Ihr Mann sei eine viertel Stunde später da gewesen. Solange habe sie noch ausharren müssen. Irgendwann sei es still gewesen und dann habe es wieder Schüsse gegeben, aber sie habe gehört, dass die Schüsse weiter weg gewesen seien. Die Vorsitzende sagt, in der Vernehmung vom 14. Oktober würden auch Uhrzeiten der Anrufe auftauchen. Sie fragt, ob die Zeugin diese auf ihrem Handy gespeichert hatte. Die Zeugin bejaht. […]
Frau R. habe dann einen Beamten gefragt, ob sie noch eine Zeugin bräuchten, aber der Beamte habe nur gesagt, sie solle schnell ins Auto gehen, wegfahren und sich in Sicherheit bringen. Die Vorsitzende fragt, wie es dann zu ihrer Vernehmung gekommen sei. Die Zeugin antwortet, sie habe von zu Hause noch einmal die Polizei angerufen und die Beamten hätten sie dann kontaktiert. […] Die Vorsitzende fragt, ob die Zeugin sich danach in ärztliche Behandlung begeben habe. Sie antwortet, sie sei vier Wochen krank gewesen und mit PTBS diagnostiziert worden. [XXX, persönliche Angaben, Anm. democ.] Es sei erstmal gar nichts gegangen. In der Woche darauf habe sie mit einer Pfarrerin gesprochen und innerhalb ihrer Familie und ihres engen Freundeskreis die Geschichte behandelt. [XXX, persönliche Angaben, Anm. democ.] Die Zeugin sagt, der Kontakt zur Pfarrerin habe ihr schon sehr geholfen. Sie habe erkannt, dass sie sich Zeit lassen müsse, das zu bearbeiten. Ihr Umfeld habe ihr dabei geholfen. Die Frage, ob sie nach vier Wochen wieder arbeiten gegangen sei, bejaht sie. Die Vorsitzende sagt, sie habe gehört, es sei eine Aufregung für die Zeugung gewesen, hier ins Gericht zu kommen. Diese bejaht, es gehe ihr wieder schlechter.
Die Vorsitzende Mertens fragt R., ob sie seitdem über die Situation gesprochen habe. Die Zeugin antwortet, das habe ihr im Vorfeld nichts ausgemacht. Es habe sie keiner direkt darauf angesprochen, aber sie hätte gewusst wen sie anrufen könne, wenn sie reden wolle. Die Vorsitzende sagt, manche Betroffenen würden öffentlich sprechen wollen und andere würden das nicht wollen. “Ich nicht”, antwortet Frau R. […]
Die Vorsitzende bedankt sich bei der Zeugin.
Der Angeklagte ergreift das Wort. Er wolle noch sagen, dass es ihm leid täte, was er ihr angetan habe. Die Zeugin sagt, sie habe dazu nichts weiter zu sagen. “Freiheit ist das höchste Gut des Menschen. Ich bin frei und ich hoffe, dass dieser Mensch nie wieder einen Tag in Freiheit verbringt”.
Aussage des Zeugen Stanislaw G.
Als letzter Zeuge wird Herr Stanislaw G. begrüßt, über seine Zeugenpflichten belehrt und zu seinen Personalien befragt. [XXX, persönliche Daten, Anm. democ.]
Die Vorsitzende sagt, Herr G. sei am 9. Oktober 2019 in der Humboldtstraße unterwegs gewesen und bittet ihn, zu schildern, was er erlebt habe.
Der Zeuge erzählt, er sei auf dem Weg zur Arbeit gewesen. Er habe einen Job bei einer Firma und erledige Arbeiten im Auftrag vom Landesverwaltungsamt. Er sei auf dem Weg zum Gericht gewesen. Während der Fahrt sei ihm jemand mit einer merkwürdigen Uniform und Waffen aufgefallen, er habe sich noch gefragt, ob da ein Film gedreht werde. Dann habe er neben einem parkenden Auto jemanden liegen sehen, er habe nicht gewusst, ob es ein Mann oder eine Frau war. Er habe jedenfalls angehalten und sei ausgestiegen – er habe wissen wollen, ob er Hilfe leisten könne. Da habe jemand hinter ihm aus einem oberen Stockwerk “Weg, weg!” gerufen. Er habe niemanden gesehen und dann habe er jemanden erblickt, der mit angelegter Waffe auf ihn gezielt habe. Der Zeuge habe sich dann umgedreht und sei ins Auto gestiegen. Im Spiegel habe er nochmal gesehen, dass derjenige irgendetwas an der Waffe gemacht habe. Er habe an eine Ladehemmung gedacht. Nach dem Einsteigen, habe es erstmal Probleme dabei gegeben, das Auto zu starten. Der Schlüssel habe nicht gleich ins Zündschloss gepasst. Dann sei er losgefahren. Er habe noch erwartet, dass Schüsse in seine Richtung kommen würden. Der Zeuge sagt, er sei dann um die Ecke gefahren, habe angehalten und die Polizei gerufen. Beim zweiten Versuch habe die Polizei sich gemeldet. Ein Beamter habe ihm gesagt, er solle dort warten, die Kollegen würden gleich kommen. In dieser Zeit habe er zwei Detonationen gehört und habe dann die Polizeiautos kommen sehen. Er habe vielleicht 20 Minuten gewartet und sich dann gedacht, dass er weiter zum Gericht müsse. Er sei dann gefahren.
Die Vorsitzende Mertens fragt, wie die Polizei dann an seine Adresse gekommen sei – schließlich sei er ja am 21. Oktober vernommen worden. Der Zeuge antwortet, er habe nochmal bei der Polizei angerufen. Mertens fragt ihn, wie es ihm seitdem gehe. Er antwortet, er denke, er habe das gut verkraftet. […] Die Vorsitzende fragt, ob er an dem Tag ganz normal seine Arbeit weiter gemacht habe. Er bejaht das – zu Hause habe er dann erzählt was los gewesen sei. Am nächsten Tag habe er einen Anruf von seiner Firma bekommen – sein Chef habe von dem Geschehen aus der Presse erfahren. […] Die Vorsitzende fragt den Zeugen, ob er Kontakt mit der Presse hatte. Dieser antwortet, das habe er nicht gewollt. Sein Chef habe ihm gleich Urlaub angeboten und er sei dann weg gewesen.
Die Vorsitzende kommt nochmal auf die Situation in der Humboldtstraße zu sprechen. Als er die Person auf dem Boden liegen gesehen habe, habe er helfen wollen. Der Zeuge sagt, jemand habe ihm zugerufen “Weg, schnell weg!” – da habe er gemerkt, dass irgendwas nicht stimmte. Dann habe er den Mann gesehen, der schießen wollte. Die Vorsitzende sagt, sie habe in der Aussage des Zeugen gesehen, dass dieser auch gleich gewusst habe, dass die Kleidung nichts mit Polizei oder Bundeswehr zu tun gehabt habe – er habe es als Fantasieuniform bezeichnet. Der Zeuge bejaht das, so habe er sich ausgedrückt. Er habe gleich gemerkt, dass da etwas faul sei. Die Vorsitzende bittet ihn, die Situation mit der Waffe noch einmal zu schildern. Der Zeuge sagt, er habe schnell ins Auto herein gewollt. Er wisse nicht, ob er dann nochmal geschaut oder in den Spiegel geguckt habe, als er gesehen habe, dass der Mann an seiner Waffe arbeitete. Die Vorsitzende fragt, ob er gemerkt habe, dass geschossen worden sei. Das verneint der Zeuge, da die Waffe nicht funktioniert habe. Richterin Mertens fragt ihn, ob er Klickgeräusche gehört habe. Der Zeuge gibt an, Hörgeräte zu brauchen – die habe er an dem Tag aber nicht drin gehabt.
RA David Hermann erhält das Wort und richtet sich an den Zeugen: “Wir haben hier viel Schreckliches gehört und dass sie den Mut hatten, in dieser Situation einem Menschen zu helfen, dafür haben Sie meine volle Anerkennung.”
Die Vorsitzende sagt, man habe auf dem Video viele Autos gesehen, die vorbeigefahren seien. Der Zeuge antwortet, er habe auch gesehen, dass ihm jemand entgegengekommen sei. Die Vorsitzende bedankt sich bei Herrn G. und sagt, er könne seine Auslagen geltend machen. Sie sagt, der nächste Verhandlungstag beginne am 8. September um 9:30 Uhr. […]
Veröffentlicht am 15. September 2020.