Lebenslange Haft für Halle-Attentäter
Nach einem über fünf Monate langen Prozess wurde der Attentäter von Halle am 21. Dezember 2020 zu lebenslanger Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt. Im Hinblick auf die umstrittenen Taten gegen İsmet Tekin und Aftax Ibrahim konnte das Gericht keine Mordversuche feststellen. Nach der Urteilsbegründung hielten einige Nebenklagevertreter*innen und ihre Rechtsbeistände eine Pressekonferenz ab und erklärten ihre Enttäuschung über das Urteil.
Die Vorsitzende Richterin Ursula Mertens begann den letzten Verhandlungstag im Halle-Prozess mit der Verlesung des Urteils. Der Angeklagte werde zu einer lebenslangen Gesamtfreiheitsstrafe verurteilt. Ihm werden Mord in 2 Fällen, versuchter Mord zulasten von 66 Personen und weitere Straftaten vorgeworfen. Das Gericht stellte eine besondere Schwere der Schuld fest und ordnete seine Unterbringung in Sicherungsverwahrung an. An der Schuldfähigkeit des Angeklagten gebe es keine Zweifel. In ihrer Urteilsbegründung erinnerte die Vorsitzende an die beiden Mordopfer, Jana L. und Kevin S. Jana L. sei nur 40 Jahre alt geworden. Sie habe viele Freunde gehabt, habe Musik geliebt und in einem Chor in Halle gesungen. Kevin S. habe große Freude am Fußball gehabt, ein liebevolles Elternhaus und sei gerade einen neuen Job angetreten, der ihm viel bedeutet habe.
Der Anschlag auf die Synagoge wird rechtlich als versuchter Mord in 51 tateinheitlich zusammenhängenden Fällen gewürdigt. Anders als die Verteidigung es dargestellt habe, habe der Angeklagte unmittelbar zur Tat angesetzt. Den Anschlag auf den „Kiez Döner“ wertete das Gericht als Mord (an Kevin S.) tateinheitlich mit versuchtem Mord in 4 Fällen. Das Werfen des Sprengsatzes auf den Imbiss habe bereits einen versuchten Mord an allen fünf Besuchern dargestellt. Die umstrittenen Taten gegen İsmet Tekin und Aftax Ibrahim werden nicht als versuchte Morde gewürdigt. Tekin, Besitzer der „Kiez Döners“, hatte sich in unmittelbarer Nähe des Schusswechsels zwischen Polizei und dem Angeklagten befunden. Sein Anwalt, RA Onur Özata, hatte beantragt, dies auch als versuchten Mord gegen Tekin zu bewerten. Bundesanwaltschaft und Verteidigung hatten eine Tötungsabsicht – auch eine bedingte – verneint. Mertens richtete sich direkt an Tekin: „Auch Sie waren im Kugelhagel, Sie waren in Lebensgefahr. Auch Sie sind ein Opfer dieses Anschlags.“ Im juristischen Sinne könne man aber keine Tötungsabsicht annehmen, da man dem Angeklagten nicht nachweisen könne, dass er von Tekins Anwesenheit gewusst und direkt auf ihn gezielt habe. Im Hinblick auf die Tat zum Nachteil von Aftax Ibrahim sagte die Vorsitzende, man habe nicht feststellen können, dass der Angeklagte ihn bewusst und vorsätzlich angefahren habe. Eine Kollision sei nicht in seinem Interesse gewesen, da sich dadurch das Risiko, gefasst zu werden, erhöht hätte. Nach dem Zweifelsgrundsatz sei nicht auszuschließen, dass der Angeklagte davon ausgegangen sei, die Strecke problemlos zu passieren. Die Tat wird lediglich als fahrlässige Körperverletzung gewürdigt.
In ihrer Urteilsbegründung räumte die Vorsitzende Richterin den individuellen Geschichten der Betroffenen viel Raum ein. Sie benannte das antisemitische, rassistische und frauenfeindliche Motiv des Attentäters. Dennoch blieb es fraglich, ob das Gericht die politische Tragweite des Attentats erfassen konnte. Die klare Benennung der Motive wurde an vielen Stellen verflacht, da Mertens die ideologischen Beweggründe des Attentäters letztlich auf allgemeine Kategorien der “Menschenfeindlichkeit” herunterbrach. So wurde die Ideologie des Attentäters in der Urteilsbegründung ihrem gesellschaftlichen und historischen Kontext entzogen. Diese Tendenz zur Individualisierung der ideologischen Dimension machte sich auch in Mertens Überlegungen zu den Gründen für die Radikalisierung des Angeklagten bemerkbar. Sie sprach etwa davon, dass er keine “Herzensbildung” erhalten habe und ging immer wieder auf seine Rolle als Außenseiter ein, der allein in seinem Kinderzimmer gehockt habe.
Mehrfach wirkte es, als ob die Vorsitzende noch in ihrer Urteilsbegründung versuchen würde, den Angeklagten unter Verweis auf die Geschädigten mit Migrationsgeschichte, die hart arbeiteten, zu belehren. Diese Kontrastierung des Angeklagten, der seinen Eltern auf der Tasche lag, mit den fleißigen, “neuen” Mitgliedern der Gesellschaft, mutet im doppelten Sinne seltsam an: Nicht nur irritiert der erzieherische Impetus gegenüber dem Angeklagten, auch war unklar, was die Verdienste der Geschädigten mit der Schwere der Schuld des Angeklagten und der Tragweite der Tat zu tun haben sollten.
Die Hoffnung, den Angeklagten noch “auf den richtigen Weg” zu bringen, zog sich bis ins Schlusswort der Vorsitzenden. Sie wandte sich an den Angeklagten und sagte zu ihm, dass er wohl nie wieder in Freiheit leben würde – wenn er seine Grundeinstellung nicht ändere.
Im Anschluss an die Verhandlung fand in der Nähe des Gerichts eine Pressekonferenz einiger Nebenkläger*innen und ihrer Rechtsbeistände statt. Die Nebenklagevertreterin RAin Kristin Pietrzyk kritisierte das Urteil scharf. Sie nannte es “harmlos, mutlos und entpolitisierend”. Viele Nebenkläger*innen hatten in ihren Statements vor Gericht den Umgang der Polizei mit den Überlebenden und die anschließende Ermittlungsarbeit kritisiert. Dass die Vorsitzende in ihrer Urteilsbegründung die Betroffenen im Hinblick auf ihre Kritik an den Sicherheitsbehörden zu einem Perspektivwechsel aufgefordert hatte, sei “das Frechste, was sie je von einem Staatsschutzsenat gehört habe.”
Die Rechtsanwältin Ilil Friedman, die Aftax Ibrahim vertrat, machte deutlich, dass für sie und ihren Mandanten in keinster Weise nachvollziehbar sei, dass die Auto-Attacke gegen ihn nicht als weitere rassistischer Mordversuch gewertete worden sei.
Auch İsmet Tekin, der Besitzer des Kiez-Döners sagte, dass das Urteil für ihn eine große Enttäuschung gewesen sei. Er bedankte sich für die Solidarität, die er erfahren habe. Diese habe ihm viel Kraft gegeben. „Wir geben nicht auf, egal welches Urteil, wir werden alle das Beste geben für diese Gesellschaft und gemeinsam tun, was in unserer Macht steht“.
Naomi H., die den Anschlag auf die Synagoge überlebt hat, erklärte in ihrem Statement, dass sie enttäuscht von vielen Medien sei. Sie hätte gemeinsam mit anderen Nebenkläger*innen immer wieder dazu aufgerufen, dem Täter keine Bühne zu bieten. Wieder und wieder sei diese Bitte ignoriert worden.
Nach 26 Prozesstagen, an denen über 80 Zeug*innen und Sachverständige zu hören waren und über 40 Nebenkläger*innen beteiligt waren, endete damit das Hauptverfahren gegen den Attentäter von Halle. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Mehrere Nebenkläger*innen und die Verteidigung kündigten an, die Möglichkeit einer Revision zu prüfen.
Hauptverhandlung gegen Stephan B. vor dem Staatsschutzsenat des Oberlandesgericht Naumburg
26. Verhandlungstag (21. Dezember 2020)
CN: Das nachfolgende Protokoll kann explizit gewaltverherrlichende, rassistische, antisemitische und menschenverachtende Aussagen und Ausdrücke enthalten.
Wir protokollieren die vollständige Hauptverhandlung gegen den mutmaßlichen Attentäter von Halle. Wir versuchen dabei, so nah wie möglich am Wortlaut der Verhandlung zu bleiben, direkte Zitate sind durch Anführungszeichen gekennzeichnet. Da es nicht zulässig ist, die Verhandlung mitzuschneiden, entsteht unser Protokoll auf Basis unserer Mitschriften aus dem Gericht.
Einige Passagen haben wir bewusst gekürzt. So werden etwa Inhalte, die die Persönlichkeitsrechte von Prozessbeteiligten oder Dritten verletzen könnten, nicht veröffentlicht. Zudem streichen wir in der öffentlich zugänglichen Fassung des Protokolls jene Passagen, die Details der Tat und Tatplanung beinhalten und deren Veröffentlichung eine Gefahr, etwa durch Nachahmer, darstellen könnte. Die entsprechenden Abschnitte werden mit “[XXX]” gekennzeichnet. In begründeten Ausnahmefällen können etwa Wissenschaftler*innen oder Journalist*innen die gestrichenen Passagen bei uns anfragen.
Nachnamen werden ggf. abgekürzt. An Stellen, an denen uns unser Protokoll nicht präzise genug war, etwa weil Wortbeiträge unverständlich vorgetragen wurden, haben wir Auslassungen auf die gängige Weise “[…]” angegeben.
Der Verhandlungssaal ist sehr gut besetzt. Die Presseplätze im Saal und in einem Presseraum, in den die Verhandlung akustisch übertragen wird, sind, anders als an den anderen Verhandlungstagen, fast voll besetzt. Im Bereich der Nebenkläger*innen sind u. a. die Eltern des getöteten Kevin S. anwesend.
Um 11:08 Uhr betritt der Staatsschutzsenat des OLG Naumburg den Saal. Die Anwesenden erheben sich. Die Vorsitzende Richterin Ursula Mertens setzt die Hauptverhandlung gegen Stephan B. fort und stellt die Anwesenheit fest:
Die Bundesanwaltschaft wird von Bundesanwalt Kai Lohse und StA Christoph Birkenholz vertreten. Die Anwesenheit in den Reihen der Nebenklagevertretung sei bereits aufgenommen worden, sagt Mertens. [Augenscheinlich sind alle Nebenklagevertreter*innen anwesend, Anm. democ.] Auch die Verteidigung und Herr B. seien vollständig anwesend.
Innerhalb des Senats wird geflüstert, ob sich die Anwesenden wieder hinsetzen könnten. Die Vorsitzende Mertens sagt zu ihren Kolleg*innen, die Anwesenden sollten für das Urteil noch stehen bleiben. “Dann verkünde ich nun im Namen des Volkes das Urteil”, sagt Mertens laut: Der Angeklagte werde wegen zweifachen Mordes, einer davon tateinheitlich mit vierfachem versuchten Mord, versuchten Mordes in 51 tateinheitlich zusammentreffenden Fällen, versuchten Mordes in fünf tateinheitlich zusammentreffenden Fällen, versuchten Mordes in zwei tateinheitlich zusammentreffenden Fällen, versuchten Mordes in zwei Fällen, versuchten Mordes in zwei Fällen, jeweils in Tateinheit mit versuchter räuberischer Erpressung mit Todesfolge und gefährlicher Körperverletzung, besonders schwerer räuberischer Erpressung, fahrlässiger Körperverletzung in Tateinheit mit vorsätzlicher Gefährdung des Straßenverkehrs und verbotenem Kraftfahrzeugrennen sowie Volksverhetzung in zwei tateinheitlich zusammentreffenden Fällen, zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. In den übrigen Punkten erfolge ein Freispruch. Es werde die besondere Schwere der Schuld festgestellt und die Sicherungsverwahrung angeordnet. B. werde außerdem seine Fahrerlaubnis entzogen. Die Möglichkeit zum Antrag auf Wiedererteilung solle es nicht vor vier Jahren geben. Es werde außerdem die Einziehung aller Tatmittel angeordnet.
Der Angeklagte werde dazu verurteilt, ein Schmerzensgeld in Höhe von 4.000 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz an die Sarah B. und ein Schmerzensgeld in Höhe von 5.000 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz an Daniel L. zu zahlen. Außerdem habe er Dagmar M., Jens Z. und [XXX, ein weiterer Geschädigter, der nicht namentlich genannt werden möchte] ihre Schäden zu ersetzen, soweit dahingehend nicht andere Versicherungen greifen würden. Dieses Urteil sei gegen eine Sicherheitsleistung von 110 % vorläufig vollstreckbar. B. habe außerdem die Verfahrenskosten sowie alle Auslagen der Nebenklage sowie die Adhäsionskosten zu tragen.
Die Vorsitzende bittet die Anwesenden, Platz zu nehmen.
Sie wolle zunächst mit der Darstellung der Tat gegen Jana Kathrin L. beginnen. Diese sei am 9. Oktober 2019 mit der Straßenbahn durch Halle nach Hause gefahren. An diesem, für sie völlig normalen, Tag sei sie an der Haltestelle “Am Wasserturm” ausgestiegen, habe die Paracelsusstraße überquert und dann die Humboldtstraße passiert, in der sich die Synagoge befinde. Auf dem Bürgersteig habe ein Golf geparkt, sodass sie die Straße habe betreten müssen. Ob sie dabei den Angeklagten wahrgenommen habe, wüsste man nicht. Sie sei aber in jedem Fall auf die Knallgeräusche aufmerksam geworden und habe im Weiterlaufen sinngemäß gesagt, was das denn solle. Der Angeklagte sei frustriert gewesen und habe gegen 12:03 Uhr seine Maschinenpistole gehoben und auf Frau L., die ihn zu diesem Zeitpunkt schon passiert und ihm daher den Rücken zugekehrt habe, vier Schüsse abgefeuert. “Sie hatte keine Chance, auf diesen feigen Anschlag zu reagieren.”, so die Vorsitzende Mertens. Frau L. sei nach vorne gefallen und mit dem Gesicht aufgeschlagen. Wir wir aus einem Gutachten wüssten, sei sie zu diesem Zeitpunkt wegen gravierender Verletzungen der Aorta bereits tot gewesen. Sie habe die Beschimpfungen durch den Angeklagten nicht mehr gehört. Mehrmals habe der Angeklagte sie mit menschenverachtenden Schimpfworten beleidigt, wie auf den Tatvideos ersichtlich sei. “Wir mussten es hören”, sagt Mertens. Durch die Videos hätten die Prozessbeteiligten auch sehen müssen, wie der Angeklagte noch einmal eine Gewehrsalve von elf Schüssen auf den Rücken der am Boden liegenden Frau L. abgegeben habe.
Frau Jana L. sei 40 Jahre alt geworden. Sie habe einen guten Kontakt zur Familie und viele Freunde gehabt und habe selbstständig in einer Wohnung in der Nähe des Tatorts gelebt. “Wir wissen nicht viel über Frau L.”, sagt die Vorsitzende, da die Angehörigen nicht gewollt hätten, dass Frau L. “großes Thema” in der Hauptverhandlung wäre. Die Mutter Jana L.s hätte sich zunächst als Nebenklägerin an dem Hauptverfahren beteiligten wollen, habe sich dann aber umentschieden. Sie selbst, Mertens, habe gegen Ende des Prozesses noch einmal bei der Mutter nachgefragt. Diese sei dabei geblieben, keine Nebenklägerin sein zu wollen. Frau L. habe Musik geliebt und sei Mitglied in einem Chor in Halle gewesen. Mertens berichtet, dass sie selbst am Samstag nach dem 9. Oktober 2019, dem Tag des Anschlags, diesem Chor auf dem Hallenser Marktplatz zugehört habe. Sie habe dabei erfahren, mit welcher Hochachtung die Chormitglieder über Frau L. gesprochen und gedacht hätten.
Sie beginne mit diesen Ausführungen, sagt Mertens, weil sie Einblicke in die Psyche des Angeklagten zulassen würden. Dieser habe nämlich mitnichten ein umfassendes Geständnis abgelegt. Er habe einzelne Punkte relativiert [darunter zentral die Tötung Jana L.s, Anm. democ.]. In einigen Punkten hätte seine Einlassung durch die Beweisaufnahme widerlegt werden können, in anderen nicht, so Mertens.
“Was hatte der Angeklagte vor?”, fragt die Vorsitzende. Er hätte sich jahrelang zurückgezogen und isoliert und sich mit “kruden Verschwörungstheorien” befasst, die “ich Ihnen an dieser Stelle ersparen möchte.” Verschwörungstheorien kenne man sei Jahrtausenden. Auch in Zeiten modernen Technik würden sie offenkundig nicht aussterben, man habe vielmehr das Gefühl, sie würden noch rasanter verbreitet und den Verbreitenden gelinge es noch besser, “Menschen einzufangen”, die aus welchen Gründen auch immer empfänglich dafür seien.
Der Angeklagte, der noch mit 27 Jahren in seinem Kinderzimmer bei seiner Mutter in Benndorf gehockt habe, sei empfänglich für solche Theorien gewesen. Er habe niemanden in seinem Umfeld gehabt, der in der Lage gewesen sei, “ihn zurückzuholen”. Vielleicht hätten die möglichen Menschen es auch nicht gewollt. Dazu vermöge sie, Mertens, nichts zu sagen, weil die Familie in der Hauptverhandlung nichts gesagt habe und auch der langjährige Freund der Schwester des Angeklagten nur Allgemeinplätze von sich gegeben habe. Er habe etwa angegeben, in der Familie sei nur übers Wetter gesprochen worden. “Sei es wie es sei”, fährt die Vorsitzende, der Angeklagte habe sich jedenfalls über Jahre mit diesem Hass beschäftigt und das abscheuliche, feige und menschenverachtende Denken entwickelt, dass ihn zur Tat gegen Jana L. gebracht habe.
Von diesem Hass getrieben habe sich der Angeklagte mit einem Auto, das vollgepackt mit Sprengstoff und Waffen gewesen sei, am 9. Oktober von Helbra nach Halle begeben. Dies sei bekannt, weil er sich am Morgen der Tat im Haus seines Vaters in Helbra fotografiert habe. Er habe dabei militärische Kleidung, Stiefel und Helm getragen. Er habe möglichst viele jüdische Menschen töten wollen, wie er auch in der Hauptverhandlung immer wieder gesagt habe. Mertens sagt, sie wolle den Anwesenden ersparen, die Ideologien des Angeklagten wiederzugeben: “Nur so viel: Sie sind absurd und logischem Denken nicht zugänglich.”
Der Angeklagte habe online im Vorfeld seiner Tat einen Link zu drei Dokumenten gepostet, in welchen er den Tatplan, die Herstellung seiner Waffen und die Motive schildere. In einem dieser Dokumente sei ein Link zur Internetseite Twitch verfügbar gewesen. Er habe dort einen Livestream von der Tat gemacht, in dessen Vorwort er den Holocaust geleugnet habe. Die Wiederholung dieser Leugnung wolle die Vorsitzende den Anwesenden ersparen. Sie sei Teil der Beweisaufnahme gewesen und vom Angeklagten auch in dessen Schlusswort wiederholt worden.
Der Angeklagte habe als “böser schwarzer Mann”, das Auto mit seinen [XXX, Darstellung der Waffen, Anm. democ.] verlassen. Mertens richtet sich an den Angeklagten und sagt, dass ihn Kinder so bezeichnen würden. Um 12 Uhr habe er sich zur Synagoge begeben [XXX, detaillierte Darstellung der Tat und der Synagoge. Der Angeklagte scheiterte daran, die Tür in der Synagogenmauer zu öffnen und warf im Anschluss Spreng- und Brandsätze mit teils potenziell tödlicher Wirkung über die Synagogenmauer, Anm. democ.]
Zwischen den beschriebenen Abläufen habe der Angeklagte um 12:03 Uhr Jana L. erschossen und Mandy R. sowie eine weitere Frau in Angst und Schrecken versetzt. Er habe außerdem versucht, einen Schuss auf Stanislaw G. abzugeben, der der am Boden liegenden Frau L. habe helfen wollen. Um 12:07 Uhr habe der Angeklagte anerkannt, dass er mit seinem Angriff auf die Synagoge gescheitert sei.
Sie wolle die Geschehnisse bis hierhin noch einmal zusammenfassen, sagt Mertens: Zwischen 12:00 Uhr und 12:07 Uhr habe der Angeklagte versucht, 51 Menschen zu ermorden, wobei er aus niedrigen Beweggründen, heimtückisch und mit gemeingefährlichen Mitteln gehandelt habe.
Von “heimtückisch” spreche das Gesetz – sie, Mertens, wolle das Vorgehen des Angeklagten hier einmal hinterhältig nennen. Es hätte nichts mit einem Kampf zu tun gehabt, der Angeklagte habe das Überraschungsmoment ausnutzen wollen, um die Menschen in der Synagoge, die arg- und wehrlos gewesen seien, zu töten.
Er habe außerdem gemeingefährlich gehandelt, weil er mit gemeingefährlichen Mitteln vorgegangen sei. [XXX, Auflistung der Waffen, Anm. democ.]
Entgegen seiner Einlassung und der Darstellung der Verteidigung habe der Angeklagte selbstverständlich unmittelbar zum Mordversuch angesetzt. Das unmittelbare Ansetzen bestehe nach ständiger Rechtsprechung in einem Verhalten des Täters, das im ungestörten Fortgang ohne Zwischenakte zur Tat führe oder im unmittelbaren und zeitlichen Zusammenhang in der Tat einmünde. Dabei werde auch Verhalten einbezogen, das für sich noch nicht die Tatbestandsmerkmale berühre. Immer komme es dabei auf den Einzelfall an.
Der Angeklagte sei bei seiner Tat sehr komplex vorgegangen: [XXX, Details zu Tatplan, Anm. democ.] Es spreche vieles dafür, dass bereits mit dem ersten Ansetzen zum Öffnen der Tür die Tat verwirklicht worden sei. Die restriktive Rechtsprechung bezüglich der Vorverlagerung der Versuchsstrafbarkeit wolle in erster Linie die Menschen schützen, die kurz vor der Verwirklichung der Tat von dieser absehen würden, also Menschen, bei denen von einer irgendwie gearteten Hemmschwelle auszugehen sei und die daher von der Tat zurückträten. “Bei Ihnen gab es aber keine Hemmschwelle”, richtet sich Mertens an den Angeklagten. Er habe alle menschlichen Züge spätestens zu dem Zeitpunkt abgelegt, als er am Tatmorgen seine Kampfmontur angelegt habe. Spätestens bei Jana L. seien dann alle Hemmschwellen gefallen.
Er sei bereit gewesen, jedes Hindernis für die Tatausführung zu beseitigen, was man an der Ermordung von Frau L. sehen könne. Es sei außerdem komplett unerheblich, wie viele Türen er habe überwinden wollen, da er ja auch ausgesagt habe, dass er auf aus der Synagoge Flüchtende hätte schießen wollen. Eines weiteren Willensentschlusses bedurfte es also nach dem Anfassen der Tür nicht mehr, zumal er bereits das Überwinden der Begrenzungsmauer im “Pre Action Report” als Ziel seines Anschlags definiert habe.
Die Menschen in der Synagoge seien spätestens ab 12 Uhr ganz konkret gefährdet gewesen. Nicht zu beachten sei auch die Einlassung des Angeklagten, dass er nicht gewusst habe, dass sich in der Synagoge Menschen befänden. Dies sei leicht zu recherchieren gewesen, außerdem wäre der Aufwand der Tatvorbereitung sehr übertrieben gewesen, wenn er geglaubt hätte, es würden sich keine Menschen in der Synagoge befinden.
Er habe um 12:03 Uhr Jana L. ermordet, indem er ihr hinterhältig und feige und aus niedrigen Beweggründen in den Rücken geschossen habe. Er habe sie menschenverachtend beschimpft und aus frauenfeindlicher Gesinnung und Frust heraus gehandelt. Er habe dabei zweifelsfrei mit gemeingefährlichen Mitteln, nämlich [XXX, Waffe, Anm. democ.] gehandelt.
Er habe dann eine Frau mit Kinderwagen und Mandy R. wahrgenommen. R. hätte die Straße passieren wollen, habe dann aber die Ermordung von Frau L. mit ansehen müssen. Man sehe auf dem Video, dass R. kurzerhand erstarre und auf den Angeklagten schaue, als dieser seine Waffe auf sie gerichtet hatte. Dass er sie auf sie gerichtet hatte, habe man feststellen können, es sei aber nicht zu beweisen gewesen, dass er tatsächlich abgedrückt habe. R. und die weitere Frau hätten sich in Deckung gebracht. Erst danach habe der Angeklagte, wie aus dem Video hervorgehe, die Waffe heruntergenommen und “klemmt” gesagt. Dieser Ausspruch sei also nicht während des möglichen Schusses, sondern danach erfolgt. Er habe sich dazu dahingehend eingelassen, dass er die Waffe heruntergenommen und vor seinem weiteren Vorgehen kontrolliert habe. Ein Klickgeräusch vom Abdrücken sei auf dem Video nicht festzustellen. Der Senat müsse daher nach dem Zweifelsgrundsatz, der auch für den Angeklagten B. gelte, annehmen, dass dieser tatsächlich lediglich die Waffe habe kontrollieren wollen. Dass eine Ladehemmung der Grund dafür gewesen sei, dass er nicht auf Frau R. geschossen habe, habe das Gericht nicht mit einer für die Verurteilung reichenden Wahrscheinlichkeit feststellen können.
Der Angeklagte habe sich dann gegen 12:04 Uhr zur Hofeinfahrt des Nachbargrundstücks der Synagoge begeben, um zu schauen, ob er da auf das Synagogengelände käme. In diesen Minuten sei Stanislaw G. am Tatort vorbeigekommen. Er sei in ihren Augen ein Held, sagt Mertens. G. habe sich um die am Boden liegende Jana L. gekümmert, der Angeklagte habe auf ihn gezielt, als er aus der Hofeinfahrt zurückgekommen sei, und zweimal abgedrückt. Es kam zweimal zu einer Ladehemmung, sodass G. die Situation genutzt habe und in seinen Wagen gestiegen und schnell abgefahren sei. Dieses Abdrücken habe einen versuchten Mord mit den Merkmalen der Heimtücke und der niedrigen Beweggründe dargestellt. G. sei arg- und wehrlos gewesen, als er der auf der Straße liegenden L. habe helfen wollen und sogleich angegriffen worden sei. […] Nach L. und R. sei G. schon die nächste Person gewesen, die der Angeklagte grundlos habe attackieren wollen. Laut BGH handele auch derjenige aus niedrigen Beweggründen, der eine Person angreift, die ihm nicht im Ansatz einen Anlass dazu gebe.
Die Vorsitzende Mertens sagt, sie fasse das Geschehen bis hierhin noch einmal zusammen. Gegen 12:07 Uhr habe der Angeklagte die Synagoge verlassen und bis dahin unermessliches Leid verursacht. Er habe einer Mutter die Tochter, Freunden die Freundin und Angehörigen ein Familienmitglied genommen. Er habe Menschen, die den Mord mit angesehen hätten, in tiefes Leid gestürzt. Mandy R. habe Todesangst gehabt und eindrücklich geschildert, wie sie in ihrem Versteck auf ihren Mann gewartet habe. Der Angeklagte habe Menschen, die gerade einen Gottesdienst gefeiert hätten, in Todesangst versetzt. Die Jüdische Gemeinde Halle habe an dem Tag Besuch von einer Gemeinde aus Berlin gehabt. Ein Rabbinerehepaar hätte diesen organisiert, um Jom Kippur an einem ruhigen Ort zu begehen und Kontakt zu einer anderen Gemeinde aufzunehmen. Der Umsicht dieser 51 Helden in der Synagoge sei es zu verdanken, dass es an diesem Tag kein Massaker gegeben habe. Der Vorsitzende der Gemeinde Max Privorozki, der Kantor Roman R., der Sicherheitsbeauftragte Vladislav R. und viele andere hätten der Versuchung widerstanden, die Synagoge zu verlassen, sondern hätten ruhig und besonnen gehandelt und die Türen verriegelt. Einige hätten die Situation vor der Synagoge mittels einer Überwachungskamera ansehen müssen. Eine Nebenklägerin habe dazu geschildert, dass ihr bei jedem Schuss das Herz zerrissen sei, sie bei jedem Schuss auf die Tür gedacht habe, dass die Tür nun nicht mehr standhalte und ihr die Sekunden des Nachladens wie Stunden vorgekommen seien. Die Besucher der Synagoge hätten außerdem lange in dieser ausharren müssen, ehe klar gewesen sei, dass nicht weitere Sprengsätze irgendwo feige angebracht worden seien und es keine weiteren Täter gebe, so Mertens.
Erst am Nachmittag sei klar gewesen, dass der Angeklagte allein unterwegs gewesen sei. Auch diese Angst und die Tatsache, dass Menschen, die einen Gottesdienst hätten feiern wollen sich nicht frei hätten bewegen können, habe der Angeklagte zu verantworten.
Die Besucherinnen und Besucher der Synagoge hätten außerdem großes Glück gehabt: Gegen 11:30 Uhr habe eine Babysitterin die Synagoge durch die später angegriffene Tür verlassen, hinter ihr sei zum Glück abgeschlossen worden. Kurz vor 12 Uhr habe auch Mollie S. die Tür passiert, um einen Spaziergang zu machen. Auch hinter ihr sei glücklicherweise abgeschlossen worden. Es sei nicht auszudenken, was passiert wäre, wäre der Angeklagte nur ein paar Minuten früher da gewesen, sagt Mertens.
Gegen 12:10 Uhr habe sich eine Streife der Synagoge gesorgt. Eine junge Polizeibeamtin sei aus dem Wagen gestiegen und habe sich heldenhaft verhalten. Sie habe dafür gesorgt, dass niemand mehr die Straße betrete und in die Nähe des Tatorts komme. Sie wolle einen Perspektivwechsel anregen, sagt Mertens [die Einsatzkräfte waren scharf dafür kritisiert worden, dass sie Jana L. keine Erstversorgung geleistet hatten, Anm. democ.]: Zu diesem Zeitpunkt habe niemand gewusst, ob es weitere Täter gebe. Auch in den Medien sei es über Stunden allen unvorstellbar erschienen, dass ein einziger Täter so eine Tat ausüben könnte. Auch habe die Polizistin nicht wissen können, ob der Täter womöglich Sprengstoff an Jana L.s Körper versteckt habe. Gleichwohl sei sie am Tatort geblieben und habe allein darauf geachtet, dass sich niemand diesem nähere.
Der Angeklagte habe sich ab 12:07 Uhr mit seinem Auto über die Schillerstraße in die Ludwig-Wucherer-Straße bewegt. Dort befinde sich ein bunt als solches gekennzeichnetes Döner-Restaurant. Im Video habe der Angeklagte deutlich hörbar “Döner, nehmen” gesagt, als er sich dem Restaurant näherte. Er habe sich entschlossen, Muslime anzugreifen, weil er auch diese für seine Lage verantwortlich gemacht habe. Er sei davon ausgegangen, dass sich vor allem Muslime in einem Döner-Restaurant befinden würden und habe darüber hinaus auch Nicht-Muslime verachtet, die Döner äßen. “Näheres erspare ich uns.”, sagt Mertens. Er habe sich mit [XXX, Schusswaffen und Sprengsätzen, Anm. democ.] bewaffnet dem Restaurant genähert und einen [XXX, Sprengsatz, Anm. democ.] in Richtung der Tür des Ladens geworfen. Dieser habe die Tür jedoch verfehlt und sei auf der Straße explodiert, wobei Frau Margit W. am Fuß verletzt worden sei.
Der Angeklagte habe dann den Verkaufsraum des Ladens betreten, sei auf Kevin S. getroffen und habe ohne Vorwarnung zwei Schüsse auf diesen abgegeben. Er habe ihn aber zunächst verfehlt, sodass S. sich habe verstecken können. Rıfat Tekin habe sich hinter dem Verkaufstresen versteckt und sei deshalb nicht gesehen worden. Auch Conrad R. konnte sich, auf der Toilette, verstecken. Der Angeklagte habe dann auf Professor H. gezielt und zweimal abgedrückt. Nur aufgrund einer Ladehemmung habe sich kein Schuss gelöst, woraufhin Professor H. in Richtung eines Abstellraums geflüchtet sei. Erneut habe der Angeklagte daraufhin versucht auf H. zu schießen, es habe aber wieder eine Ladehemmung gegeben. Nun habe der Angeklagte Kevin S. wahrgenommen. Neben diesem sei [XXX, ein weiterer Mann, der namentlich nicht in der Öffentlichkeit stehen möchte, Anm. democ.] gewesen, der heldenhaft versucht habe, Kühlschränke zwischen sich und Kevin S. und den Angreifer zu bringen, um S. zu schützen. Der Angeklagte habe mehrfach in Richtung des Mannes und S. abgedrückt. Wieder habe es eine Ladehemmung gegeben, sodass der Mann die Gelegenheit genutzt habe, um nach hinten in Richtung des Abstellraums zu flüchten. Auch Tekin habe in dieser Situation entkommen können. S. habe nicht fliehen können, der Angeklagte habe daraufhin zweimal in seine Richtung abgedrückt. Erneut habe es eine Ladehemmung gegeben. Er habe daraufhin seine Waffe auf den Boden geworfen und mit [XXX, einer anderen Waffe, Anm. democ.] auf S. geschossen. Er sei dann zu seinem Auto gegangen, um eine weitere Waffe zu holen. Mit dieser sei er im Anschluss zurück in den “Kiez Döner” gekommen und habe einmal auf S. geschossen. Als er bemerkt habe, dass dieser noch gelebt habe, habe er noch zwei weitere Male auf ihn geschossen. “Sie haben ihn an diesem Tag hingerichtet”, sagt Mertens. […]
Diese menschenverachtende Tat sei von einer Niedertracht geprägt gewesen, die ihresgleichen suche. RA Erkan Görgülü und RA Christian Eifler, die Anwälte der Eltern von Kevin S., hätten es zutreffend ausgedrückt: Der Angeklagte habe S. hingerichtet. Kevin S. sei hilf- und wehrlos gewesen. Der Angeklagte habe S. nicht gekannt, nicht gewusst, wer er gewesen sei oder was er geleistet habe. S. habe sich, anders als der Angeklagte, trotz seiner Krankheit nie in sein Kinderzimmer zurückgezogen, sondern ein Leben mit Freunden, mit der Anerkennung seiner Leistungen, mit großer Freude am Fußball, liebevollen Eltern und einem guten Elternhaus gelebt und sei erst vor der Tat seinen Job angetreten. “All das ist Ihnen, Herr B., in 27 Jahren nicht gelungen.”, sagt Mertens.
Bereits mit dem Werfen der Bombe habe der Angeklagte zum Töten angesetzt. Er habe zwar angegeben, er habe mit dieser nicht töten wollen, aber das sei vollkommen unglaubhaft, schließlich habe er die Wirkung gar nicht einschätzen können. Die Verletzung Margit W.s zeige außerdem die potenziell tödliche Gefahr, die von der Bombe ausgegangen sei. Es habe sich also um den tateinheitlichen Mordanschlag auf fünf Personen gehandelt. Auch wenn der Angeklagte Conrad R. und Rıfat Tekin nicht gesehen haben sollte, sei sei versuchte Mord an ihnen trotzdem verwirklicht. Hinsichtlich der Mordversuche an Professor H. und [dem Kollegen von Kevin S., Anm. democ.] sei der Angeklagte keinesfalls vom Versuch zurückgetreten, sondern diese seien weggelaufen. In Bezug auf Kevin S. sei der Mord vollendet worden.
Die Tat sei heimtückisch erfolgt, man könne sie auch hinterhältig und feige nennen. Durch die Verwendung [XXX, der Waffen, Anm. democ.] habe der Angeklagte außerdem auch gemeingefährlich gehandelt. Die rassistischen und menschenverachtenden Motive seien “natürlich niedrige Beweggründe”. Die Tat gegen Herrn S. wäre, wenn es eine Steigerung der niedrigen Beweggründe gäbe, auf “der aller-, alleruntersten Stufe anzusiedeln”, sagt Mertens. Kevin S. habe den Angeklagten angefleht. Dieser hätte daraufhin die Möglichkeit gehabt, zur Besinnung zu kommen, als er seine andere Waffe geholt habe, “aber danach ging es erst richtig los”, so Mertens. Sie richtet sich direkt an den Angeklagten: “Herr B., mir fehlen die Worte, um das sachlich zu beurteilen, wie es meine Aufgabe ist.”
Sie komme nun zum weiteren Mordversuch an Malek B.: B. sei ein freundlicher und zugewandter Mann, der seit 2015 in Deutschland sei und einen technischen Studiengang studiere. Er sei am 9. Oktober auf dem Weg zum Bahnhof gewesen, um zu seiner Fachhochschule nach Merseburg zu fahren. Aufgrund seines Erscheinungsbilds sei Malek B. in das Feindbild des Angeklagten gefallen. Dieser habe auf Malek B. geschossen, ihn aber verfehlt. Malek B. sei, im Gegensatz zum Angeklagten, schlank, wendig und sportlich zu sei weggerannt. Den ganzen Weg zum Bahnhof, der 2 Kilometer weit sei, sei er gerannt, weil er gewusst habe, dass er dort Polizei antreffen würde. Der Angeklagte habe heimtückisch und aus niedrigen Beweggründen gehandelt. Da mit [seiner Waffe, Anm. democ.] keine unüberschaubare Anzahl von Verletzten möglich sei, sei das Mordmerkmal der Gemeingefährlichkeit hier nicht erfüllt.
Der Angeklagte habe [ehe er von seinem Auto in den “Kiez Döner” zurückkehrte, Anm. democ.] auf der Straße zwei Bauarbeiter wahrgenommen und auf diese geschossen. Herr Abdülkadir B. aus der Türkei, habe, anders als der Angeklagte, hart gearbeitet. Er sei um sein Leben gerannt. Er habe berichtet, dass ihm aufgrund des weiten Rennens in den schweren Sicherheitsschuhen noch monatelang die Füße geschmerzt hätten. Der Angeklagte habe die Verfolgung von Abdülkadir B. und dem weiteren Bauarbeiter [der namentlich nicht bekannt ist, Anm. democ.] aufgenommen, sie aber erschöpft und schwer atmend nach wenigen Metern aufgegeben. Er sei von dem Versuch nicht zurückgetreten, sondern an der Reaktion der Männer gescheitert. Er habe bei diesem versuchten Mord heimtückisch und aus niedrigen Beweggründen gehandelt.
Es sei in der Chronologie der Tat nun 12:15 Uhr, der Angeklagte kehre zu Herrn S. zurück und beende seine grausame Tat.
Die Verhandlung wird für 15 Minuten unterbrochen.
Die Vorsitzende fährt fort. Anschließend habe sich der Angeklagte in sein Mietfahrzeug gesetzt und sei die Ludwig-Wucherer-Straße hochgefahren. Dort habe er zwei querstehende Fahrzeuge wahrgenommen, in denen sich Polizeibeamte befunden hätten. Die Beamten in den beiden Fahrzeugen hätten sich unabhängig voneinander, von anderen Einsätzen kommend, auf den Weg gemacht, um den Täter, der den Schlag auf die Synagoge begangen hatte, womöglich ergreifen zu können. Der Angeklagte habe gesagt, dass er durch die Polizeibeamten an der Flucht gehindert gewesen sei. Dem glaube das Gericht nicht. Er habe viele Möglichkeiten zur Flucht gehabt. Nichts habe ihn gezwungen, ausgerechnet in Richtung der Polizei zu fahren. Der Senat ginge davon aus, dass der Angeklagte Polizeibeamte habe töten wollen, die den ihm verhassten Staat repräsentierten. Der Angeklagte habe das Feuer in Richtung der Beamten eröffnet. Er habe mehrfach auf sie geschossen, habe aber das Fahrzeug getroffen, da sie in Deckung gegangen seien. Er habe eine Rauchgranate zünden wollen, um sich ihnen nähern zu können. Die Polizeibeamten Sarah B. habe dem Beamten Daniel L. den Befehl gegeben, zu schießen. Er habe sich aus der Deckung begeben und drei Schüsse auf den Angeklagten abgegeben. Ein Schuss habe diesen am Hals getroffen. Dieser Schuss sei aus Sicht des Angeklagten der Anfang vom Ende gewesen. Er habe erkannt, dass er keine Chance haben würde, sein Vorhabe, Beamte zu töten, umzusetzen. Er sei wieder an der Synagoge vorbei Richtung Steintor gefahren. Das Gericht wolle den Beamten B. und L. ausdrücklich für ihre Reaktion danken. Frau B. habe vor Gericht auf die Frage, warum sie sich dem Angeklagten nicht zu Fuß genähert hätten, geantwortet, dass sie gern am Ende eines Arbeitstages gesund bei ihrer Familie sein wolle. Dass hier drei Schüsse von Herrn L. gewagt worden seien, sei sehr mutig gewesen. “Wir danken ihm und seinen Kollegen ausdrücklich für ihren Einsatz”. Der Angeklagte habe die Polizisten zweifelsfrei töten wollen, das habe er gestanden. Auch das Gutachten des BKA habe ergeben, dass die Schüsse aus einer Distanz von 70 Metern potenziell tödlich gewesen seien. Das sehe man auch an den Beschädigungen der Polizeifahrzeuge. Die Einlassung des Angeklagten, dass er sich über die Wirkung der Schrotflinte keine Gedanken gemacht habe, sei unwahr, denn er habe vorher mit ihr auf Kevin S. und andere geschossen. Auch seine Einlassung, dass er nur habe flüchten wollen, sei ebenfalls unglaubhaft. Auch das Vorhaben, die Rauchgranate zu zünden, zeige, dass er sich den Beamten habe nähern wollen, um diese zu töten.
Die Vorsitzende richtet sich anschließend an den Nebenkläger İsmet Tekin: “Es ist richtig Herr Tekin, auch sie waren im Kugelhagel. Sie waren in Lebensgefahr, auch Sie sind ein Opfer dieses Anschlags.” Der Angeklagte hätte wegen versuchten Mordes in seinem Falle jedoch nur verurteilt werden können, wenn er bedingt vorsätzlich gehandelt hätte. Mit dem Wissen, dass er gefährlich handelte, wenn er mit einer Schrotflinte die Straße entlang schoss, sei noch nicht gesagt, dass er auch den konkreten Erfolgseintritt akzeptiert hätte. Es sei nicht belegt, dass der Angeklagte Herrn Tekin wahrgenommen hätte – dass er im Blickwinkel des Angeklagten war, sei auf dem Video nicht zu sehen. Es sei nicht nachzuweisen, dass der Angeklagte ihn wahrgenommen habe, auch wenn die Situation gefährlich für ihn gewesen sei. Der Angeklagte habe, wie oben dargelegt, auf Herrn Malek B. und Herrn Abdülkadir B. geschossen, einen gezielten Schuss auf Herrn Tekin habe man aber nicht feststellen können. Hinzu käme, dass alle anderen Personen bei dem Gefecht weggelaufen seien. Der Angeklagte habe nicht damit rechnen können, dass sich jemand in die gefährliche Zone begeben würden. Die Straße sei nicht mehr belebt gewesen. Hinzu käme, dass die Polizeifahrzeuge die Straße vom Steintor her abgeriegelt hätten. Im Hinblick auf die Raserfälle hinke der Vergleich. Ein Täter der mit 200 km/h am Ku’damm entlang fahre müsse damit rechnen, Menschen zu verletzen. Er werde aber nicht für alle Menschen auf der Straße wegen versuchten Mordes verurteilt.
Sie sagt, der Attentäter habe Tekin traumatisiert, deshalb müsse der die Kosten für seine Nebenklage tragen.
Anschließend kommt die Vorsitzende auf die Vorfälle in der Magdeburger Straße zu sprechen. Es stehe nicht fest, dass der Angeklagte Herrn Aftax Ibrahim vorsätzlich verletzt habe. Der Angeklagte habe im Ermittlungsverfahren angegeben, dass er aufgeregt gewesen sei und ihm schwammig vor Augen gewesen sei. Der Weg auf der linken Straßenseite sei versperrt gewesen. Er habe nicht anhalten wollen und sei auf die Gegenfahrbahn gezogen. Die Vorsitzende richtet sich direkt an den Angeklagten: “In dem Moment haben Sie eine Person mit dunkler Hautfarbe gesehen, die Ihnen vor das Auto gesprungen ist.” Der Angeklagte habe wegen seines zerschossenen Reifens nicht mehr richtig bremsen können. Er habe nicht gesehen, ob er Aftax Ibrahim angefahren habe. “Es wäre ihm aber durchaus recht gewesen.” Die Beweisaufnahme habe ergeben, dass der Angeklagte die Haltestelle erreicht habe, als dort die Straßenbahn angehalten habe. Die Fahrbahn, die er zuvor nutzte, sei auf der Höhe der Straßenbahn auf eine Spur verengt gewesen. Dort habe sich ein Hindernis befunden, linker Hand ein Metallgeländer. […]
Bei einem Frontalzusammenprall mit einem Fußgänger hätte sich das Risiko des Angeklagten, gefasst zu werden, deutlich erhöht, so die Vorsitzende. Außerdem habe der Angeklagte ausgeführt, dass er sein Ziel nach der Flucht weiterverfolgen wollte – insofern habe er eine Ergreifung natürlich verhindern wollen. Man habe nicht feststellen können, dass er Herrn Ibrahim bewusst angefahren habe. Der Angeklagte habe ausgesagt, dass er ihm vors Auto gesprungen sei. Eine Kollision habe nicht in seinem Interesse gelegen. Die Tatsache, dass er einen Song über den Attentäter von Toronto abgespielt habe, greife nicht. Zurzeit deutlich vor der Tat, als der Angeklagte die Playliste vorbereitete, sei es ihm darum gegangen, die Menschen in der Synagoge zu ermorden – nicht unter Einsatz eines Fahrzeugs. Alles, was danach geschah, sei spontan gewesen. Bei seiner Flucht sei der Angeklagte zu keinem Zeitpunkt in eine Menschenmenge gefahren. Aus der Gefährlichkeit eines riskanten Fahrmanövers können nicht automatisch auf einen bedingten Vorsatz geschlussfolgert werden. Es sei unklar, ob er überhaupt an dieser Stelle mit Passanten gerechnet hatte. An der Stelle, wo Herr Ibrahim die Straße überquert habe, befände sich kein Fußgängerüberweg. Das Fahrmanöver und der Zusammenstoß hätten sich innerhalb weniger Sekunden ereignet. Für das frühzeitige Erkennen von Fußgängern sei da gar kein Raum gewesen, ein Zusammenstoß wäre dem Angeklagten nur hinderlich gewesen. “Nach dem Zweifelssatz ist nicht auszuschließen, dass er darauf vertraute, die Haltestelle problemlos zu passieren.” Fest stehe, dass Herr Ibrahim mit dem Außenspiegel des Wagens gestreift worden sei. Durch die Einhaltung der Verkehrsregeln hätte der Angeklagte dies verhindern können. Durch sein Fahrverhalten sei es zur Körperverletzung zum Nachteil des Herrn Ibrahim gekommen. Die Vorsitzende sagt, der Geschädigte habe ihr berichtet, dass er seit 2015 in Deutschland sei. Er sei als 18-Jähriger hier her gekommen und vermisse seine Familie. Sie spricht dabei Herrn Ibrahim direkt an. “Zurzeit schuften Sie bei Amazon. Es geht Ihnen oft nicht so gut in Halle.” Der Geschädigte habe ihr berichtet, dass er häufig bedroht werde. “Das Leben ist nicht einfach für Sie, in einem Land, dass Ihnen Schutz vor Verfolgung bieten soll.” Es sei schlimm, dass er sich bedroht fühle. Das Gericht habe aber nicht feststellen können, dass der Angeklagte ihm nach dem Leben getrachtet habe. Das müsste es aber mit der für die Verurteilung erforderlichen Wahrscheinlichkeit feststellen.
Der Angeklagte sei dann weiter Richtung Landsberg gefahren und habe um Kurz vor 13 Uhr Wiedersdorf erreicht. Er habe festgestellt, dass er seine Flucht mit dem beschädigten Fahrzeug nicht fortsetzen könne. Der Angeklagte habe seine Waffen aus dem Auto mitgenommen und sei zu einem Wohnhaus in der Nähe gegangen. Dort habe er sich bemerkbar gemacht und Jens Z. habe die Hoftür geöffnet. Der Angeklagte habe die Schlüssel für den Wagen vor der Tür des Hauses verlangt. Herr Z. habe gesagt, dass er die Schlüssel nicht habe. Aus Verärgerung habe der Angeklagte auf den Kopf von Herrn Z. gezielt und abgedrückt. Dieser habe gerade den Kopf gedreht, sodass die Kugel in die Nackenmuskulatur eingetreten sei. Herr Z. habe operiert werden müssen, aber habe überlebt.
Frau Dagmar M., die Lebenspartnerin von Herrn Z., habe diesen gesehen – den Angeklagten hatte sie noch nicht wahrgenommen. Die Vorsitzende spricht in Ihren Ausführungen den Angeklagten immer wieder direkt an. “Dann taten Sie, was sie Sie am besten können: Von hinten feige und hinterhältig auf andere Menschen schießen.” Der Angeklagte habe Frau M. von hinten in den Oberschenkel geschossen. Er habe gegenüber beiden Opfern aus menschenverachtender Gesinnung heraus gehandelt und habe Sie für minderwertig gehalten. Dabei habe er etwas von Unterschicht gefaselt. Zu welcher Schicht er denn zähle, fragt die Vorsitzende. Er habe es für möglich gehalten, dass die beiden an ihrer Verletzung sterben – es sei ihm aber vollkommen egal gewesen. Im Hinblick auf Herrn Z. habe er mit direktem Tötungsvorsatz gehandelt: ein Schuss auf den Kopfbereich mit einer scharfen Waffe führe nahezu zwingend zu schweren Verletzungen. Bezogen auf Frau M. sei von einem bedingten Tötungsvorsatz auszugehen. Dagmar M. habe ihrem Mann zu Hilfe eilen wollen. Der Angeklagte habe sie von hinten angeschossen, die Eintrittsstelle des Schusses könne sehr wohl auf die Bewegung von Frau M. zurückgeführt werden. Es wäre dem Angeklagten ein leichtes gewesen, so die Vorsitzende, unten auf die Beine von Frau M. zu zielen, wenn er dies gewollt hätte. So wie der Schuss traf, sei auf die Körpermitte geschossen worden. […] Die Mordmerkmale Habgier und Ermöglichungsabsicht seien in beiden Fällen erfüllt. Der Angeklagte habe gehofft, mit seiner Tat eine räuberische Erpressung umsetzen zu können. Bezogen auf Frau M. sei auch das Mordmerkmal der Heimtücke erfüllt, da er ihr von hinten hinterlistig in den Rücken geschossen habe. Einen Rücktrittsversuch habe man nicht feststellen könne, der Angeklagte habe keinerlei Rettungsbemühungen an den Tag gelegt. Stattdessen habe er Herrn Z. nach den Autoschlüsseln durchsucht. Dagmar M. und Jens Z., die sich in Wiedersdorf mit viel Einsatz eine schöne Oase aufgebaut hätten, habe der Angeklagte aus dem Leben gerissen. Beide seien nicht mehr arbeitsfähig und müssten im Haus ihrer Eltern schlafen, da Dagmar M. die Treppen ihres Hauses nicht mehr bewältigen könne. Zum Angeklagten sagt die Vorsitzende: “Frau M. hat sie als Muttersöhnchen bezeichnet. Das wird sie mit ihrer Lebenserfahrung sicherlich gut einschätzen können.”
Die Vorsitzende sagt, es sei das erste Mal in ihrem Berufsleben, dass sie eine Urteilsbegründung schriftlich niedergeschrieben habe. Sonst habe Sie Urteilsbegründung immer frei vorgetragen, auch bei sehr langen Urteilen. In diesem Falle habe sie sich zwingen müssen, die Sätze aufzuschreiben, “damit man die Fassung behalten kann”.
Sie fährt mit der Erbeutung des Fluchttaxis fort. […] Das Schlimmste für die drei Geschädigten sei gewesen, dass jeder einzelne von ihnen den Angeklagten hätte überwältigen können. Die Vorsitzende richtet sich auch hier immer wieder an den Angeklagten: “Einen Kampf mit diesen Herren hätten sie auf keinen Fall gewonnen. Das treibt die drei besonders um.” Die Vorsitzende sagt, sie habe sich mit vielen Nebenklägern auch außerhalb der Verhandlung unterhalten, weil sie wisse, dass im Sitzungssaal nicht alles zur Sprache komme und sie sich für Menschen und ihre Schicksale interessiere. “Herr B., Sie hätten keine Chance gehabt und das wussten Sie auch. Deshalb waren Sie relativ zurückhaltend.” Der Angeklagte habe sich zur Werkstatt von Herrn Kai H. bewegt und Christian W. bedroht. Er habe die Herausgabe des Fahrzeugs verlangt. Daniel W. und Herr H. seien dazu gekommen. Daniel W. habe dem Angeklagten die Zündschlüssel zu seinem Taxi gegeben, aus Angst erschossen zu werden. Der Angeklagte habe zwei 50 Euro Scheine auf den Boden geworfen und sei davongefahren. Er habe sich besonders schwerer räuberischer Erpressung schuldig gemacht. Die Erpressung sei verwirklicht worden, dies reiche für eine Bereicherungsabsicht aus. Es habe nicht festgestanden, dass er das Fahrzeug nur für kurze Zeit habe nutzen wollen. Da der Angeklagte nicht gewusst habe, wem das Auto gehört, beziehe sich die räuberische Erpressung auf alle drei Personen. Dank Daniel W., der die GPS-Daten des Taxis weitergeben konnte und dem “heldenhaften Einsatz” der Polizeibeamten F. und K., die sich um 13 Uhr selbst in den Dienst versetzt hätten und den Angeklagten auf der B91 hätten festnehmen können, sei Schlimmeres verhindert worden. “Ich möchte sagen, dass die beiden Beamten unter Einsatz Ihres Lebens Ihren Einsatz gemacht haben. Bis heute sind sie von staatlichen Stellen nicht ausgezeichnet worden.” Auf Gedenkveranstaltungen, so hätten sie es der Vorsitzenden geschildert, seien sie nicht als Gäste eingeladen, sondern als Bewachungspersonal vor Ort gewesen. Die beiden hätten den Angeklagten festgenommen, ohne zu wissen, ob und in welcher Weise er noch bewaffnet war und ob es weitere Täter gebe.
Das seien die Geschehnisse des 9. Oktober. Die Vorsitzende sagt, sie komme nun zur Frage der Schuldfähigkeit. Die Feststellungen des sachverständigen Zeugen Professor Norbert Leygraf seien eindeutig und nachvollziehbar gewesen. Der Angeklagte leide an einer komplexen Persönlichkeitsstörung, die durch schizoide, paranoide und selbstunsichere Anteile geprägt sei. Zudem gebe es Anzeichen einer Autismusstörung. Forensisch sei dieses Bild nicht schwer, schwer sei es, weil es dazu geführt habe, dass der Angeklagte seit Jahren allein in seinem Zimmer gelegen habe. Auch seine Eltern hätten keine Verhaltensänderung bei ihm bewirken können oder wollen, sie hätten ihn noch krankenversichert, um ihn nicht aus seiner Lethargie zu reißen. Von Professor Leygraf habe man gehört, dass dieser Persönlichkeitsstörung nicht zu einer verminderten Schuldfähigkeit geführt habe. Man habe nachvollziehen können, wie der Angeklagte aus seiner Logik konsequent vorgegangen sei und in der Lage gewesen sei, sein Verhalten zu steuern. Dass er gedachte habe, dass sein Verhalten richtig sei, ändere nichts daran, dass sein Verhalten nicht erlaubt sei, dass man die Menschenwürde zu achten habe und andere Menschen nicht töte oder verletze.
Die Vorsitzende fasst zusammen, wie der Angeklagte schuldig sei. Das Verbreiten des Tatvideos und der Dokumente stelle in verschiedener Hinsicht eine Volksverhetzung gemäß § 130 StGB dar. Die Dokumente “Manifest” und “Pre-Action Report” würden Gewaltaufrufe zur Tötung von Juden und Muslimen beinhalten und folglich eine friedensgefährdende Hetze darstellen. Ferner habe der Angeklagte diese Menschen mehrfach beschimpft und verächtlich gemacht. Die Vorsitzende wolle die Worte des Angeklagten nicht wiederholen. Die in Englisch gehaltenen Äußerungen des Angeklagten am Beginn des Live-Streams würden ebenfalls eine friedensgefährdende Hetze im Sinne von § 130 StGB darstellen, indem eine religiöse Gruppe böswillig verächtlich gemacht werde. Diese Äußerungen würden auch die erforderliche Eignung zur Störung des öffentlichen Friedens erfüllen, da sie über das Internet verbreitet und damit einer unbestimmten Anzahl von Personen zugänglich gemacht werden sollten. Dabei habe der Angeklagte auch darauf abgezielt, durch die Verbreitung Nachahmungstäter zu motivieren. Die Äußerungen des Angeklagten in Bezug auf den Holocaust würden zudem eine Leugnung des Holocaustes gemäß § 130 Absatz 3 StGB darstellen.
Im Ergebnis sei der Angeklagte schuldig des Mordes in zwei Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit versuchtem Mord in vier tateinheitlich zusammentreffenden Fällen – das beträfe den Überfall auf den “Kiez Döner” (Fälle 3 und 6 der Anklageschrift). Er sei weiterhin schuldig des versuchten Mordes in 51 tateinheitlich zusammentreffenden Fällen (Fall 2 der Anklageschrift), des versuchten Mordes in fünf tateinheitlich zusammentreffenden Fällen (dies beziehe sich auf die Polizeibeamten vor dem “Kiez Döner”), des versuchten Mordes in zwei tateinheitlich zusammentreffenden Fällen, des versuchten Mordes in drei Fällen (Fälle 5 und 7 der Anklageschrift, [Malek B. und Abdülkadir B. und eine unbekannte Person, Anm. democ.]), des versuchten Mordes in zwei Fällen jeweils in Tateinheit mit versuchter räuberischer Erpressung mit Todesfolge und mit gefährlicher Körperverletzung (dies beträfe die Fälle 11 und 12 der Anklageschrift, also Dagmar M. und Jens Z.), der besonders schweren räuberischen Erpressung zum Nachteil von Herrn H. und den Brüdern W., der fahrlässigen Körperverletzung in Tateinheit mit vorsätzlicher Gefährdung des Straßenverkehrs und verbotenem Kraftfahrzeugrennen zum Nachteil des Herrn Ibrahim und der Volksverhetzung.
Anschließend kommt die Vorsitzende zur Strafzumessung. Es sei festzustellen, dass der Angeklagte nach den Erkenntnissen des Sachverständigen Professor Leygraf vollumfänglich schuldfähig sei und bei den Taten auch kein Zustand einer verminderten Schuldfähigkeit gegeben gewesen sei. Eine Strafrahmenverschiebung komme also nicht in Betracht. Zugunsten des Angeklagten sei in allen Fällen zu werten, dass er bislang nicht vorbestraft sei und sich überwiegend geständig gezeigt habe. Als maßgeblicher Gesichtspunkts zulasten des Angeklagten würde gemäß § 46 Absatz 2 StGB dessen antisemitische, rassistische, fremden- und frauenfeindliche Tatmotivation gewertet werden. Gleiches gelte für die erhebliche kriminelle Energie, die der Angeklagte aufgewandt habe, die sich insbesondere in der langen und akribischen Tatvorbereitung, im Umfang des mitgeführten Waffen- und Sprengstoffarsenals, im Bestreben möglichst viele Menschen zu töten, in der gezielten Aufforderung zum Nachahmen seiner Tat und in der Fortführung des Tötungsvorhabens und Auswahl immer neuer Opfergruppen zeige. Insgesamt könne man sagen, dass der Angeklagte zwischen 12:00 Uhr und 13:15 Uhr eine Vielzahl schwerwiegendster Straftaten begangen habe. Für Volksverhetzung gebe es eine Mindestfreiheitsstrafe von drei Monaten und ein Höchstmaß von fünf Jahren. Es sei strafschärfend zu sehen, dass der Angeklagte durch dieselbe Handlung den Straftatbestand mehrfach verwirklicht habe (Absatz 1 und Absatz 3 seien erfüllt worden). Es sei auch strafschärfend zu berücksichtigen, dass die hochgeladene Dokumente des Angeklagten und das Tatvideo und die Aussagen im Nachhinein im Internet eine Verbreitung gefunden habe, was man auch von der Sachverständigen Karolin Schwarz gehört habe. Dies sei auch das Ziel des Angeklagten gewesen, der in bewusster Anlehnung an andere Mordanschläge möglichst viele gleichgesinnte Zuschauer habe finden wollen. Das Gericht halte, wie die Bundesanwaltschaft, eine Freiheitsstrafe von 3 Jahren für tat- und schuldangemessen.
Bezogen auf die Mordvorwürfe sehe das Gesetz eine lebenslange Freiheitsstrafe vor. Dies gelte grundsätzliche auch für versuchte Morde. Zu prüfen sei, ob wegen der ausgebliebenen Vollendung nicht womöglich eine Strafrahmenverschiebung vorzunehmen sei. Dann wäre der Strafrahmen von einer Freiheitsstrafe von 3 bis 15 Jahren. Bei dem versuchten Mord an den Besuchern der Synagoge könnte für die Vornahme einer Strafrahmenverschiebung sprechen, dass der Versuch doch nach sieben Minuten stecken geblieben sei. Glücklicherweise seien die Besucherinnen und Besucher der Synagoge nicht körperlich verletzt worden. Trotzdem müsse hier eine Strafrahmenverschiebung nach der Auffassung des Senats, wie auch nach der Bundesanwaltschaft, ausscheiden. Der Angeklagte habe über Monate die Tat vorbereitet, Waffen und Sprengstoff über einen langen Zeitraum hergestellt. Er sei schwer bewaffnet gewesen, habe vollautomatische Waffen und Sprengsätze dabei gehabt. Er habe auch jenseits des Mordmerkmals der Gemeingefährlichkeit eine besondere Gefahrenlage geschaffen, die wirklich nur ganz knapp an der Vollendung vorbeigegangen sei. Außerdem habe der Angeklagte mehrere Mordmerkmale verwirklicht, er habe heimtückisch, aus niedrigen Beweggründen und gemeingefährlich gehandelt. Er habe letztlich 51 Menschen gefährdet und das wiege besonders schwer, weil er sich bewusst diesen Anschlagsort und diese Anschlagszeit ausgesucht habe, da er sich erhofft habe, dass an diesem Tag möglichst viele Menschen in der Synagoge zu Halle beten würden. Deswegen bleibe hier überhaupt kein Zweifel daran, dass der Angeklagte wegen dieser Tat zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe zu verurteilen sei. Für den Mord an Frau Jana L. sei nur eine lebenslange Freiheitsstrafe möglich, die man auch verhängt habe. Bei dem versuchten Mord an Herrn Stanislaw G. habe der Angeklagte zweimal versucht, aus kurzer Distanz mit einer vollautomatischen Waffe Herrn G. zu erschießen. Dabei habe er zwei Mordmerkmale verwirklicht – er habe kaltblütig und mit erheblicher krimineller Energie gehandelt und habe geäußert, dass auch antisemitische Motive eine Rolle gespielt hätten. Andererseits könnte man, so die Vorsitzende, zugunsten einer Strafrahmenverschiebung ins Feld führen, dass sich kein Schuss gelöst habe und Herr G. glücklicherweise keine psychischen Verletzungen davon getragen habe. Er habe vor Gericht sehr eindrücklich geschildert, wie er danach noch weitergearbeitet habe. “Herr G. hat in seinem Leben womöglich auch schon viele Dinge erlebt, er hat das Geschehen glücklicherweise gut verarbeitet.” Das sei zu berücksichtigen. Unter Würdigung aller Umstände halte das Gericht eine Freiheitsstrafe von 12 Jahren für tat- und schuldangemessen. Im Falle des Angriffs auf den Dönerimbiss sehe das Gesetz aufgrund der vier versuchten Morde, tateinheitlich begangen mit dem vollendeten Mord an Kevin S. nach § 52, Absatz 2 StGB insgesamt eine lebenslange Freiheitsstrafe vor. Durch die lebenslange Freiheitsstrafe würden auch die versuchten Morde zum Nachteil der Geschädigten [XXX, Mandant von RAin Doreen Blasig-Vonderlin], Conrad R., Rıfat Tekin und Kai H. gesühnt. Bezogen auf den versuchten Mord an Malek B. habe man wieder zu prüfen, ob eine Strafrahmenverschiebung vorzunehmen sei. Die Nichtvollendung dieser Tat sein von einem glücklichen Zufall abhängig gewesen. Der Geschädigte sei nicht weit vom Angeklagten entfernt gewesen und habe völlig überraschend auf ihn angelegt. Dieser Mordversuch habe für Herrn B. eine erhebliche Gefahr dargestellt. Seiner schnellen Reaktion sei es zu verdanken, dass er körperlich nicht verletzt sei. Allerdings habe er psychische Beeinträchtigungen davongetragen. Gleichzeitig sei mit Blick auf die nur einmalige Schussverwirklichung davon auszugehen, dass die Strafe aus dem verschobenen Strafrahmen zu ziehen sei. Das Gericht halte eine Freiheitsstrafe von 12 Jahren für tat- und schuldangemessen.
Anschließend kommt die Vorsitzende auf Herrn Abdülkadir B. und die unbekannte Person zu sprechen. Da habe man einen vergleichbaren Ablauf wie bei Herrn Malek B. Es sei zu sehen, dass der Angeklagte zwei Personen im Visier gehabt habe. Zudem sei zu sehen, dass Herr B. schwer an den Taten trage. Er sei lange arbeitsunfähig gewesen und habe keine psychologische Hilfe in Anspruch genommen. Seine Familie habe ihn sehr unterstützt, aber er habe immer noch um Fassung gerungen, dass jemand ihn erschießen wollte. Die Vorsitzende richtet sich an den Angeklagten: “Jemand, der morgens ganz normal zur Arbeit gegangen ist, der drei Kinder hat, der seit Jahren in Halle lebt und versucht sein Leben zu meistern, dass dieser jemand einfach unvermittelt Zielscheibe von Ihnen geworden ist.” Daran habe Herr B. heute noch zu tragen. Trotzdem sei das Gericht der Auffassung, dass eine Strafrahmenverschiebung zu gewähren sei. Der Angeklagte sei den beiden Herren zwar hinterhergelaufen, habe aber dann – weil er durch seine schwere Kleidung körperlich nicht zu einer Verfolgung in der Lage gewesen sei – dann doch schnell aufgegeben. Das Gericht halte eine Freiheitsstrafe von 13 Jahren für tat- und schuldangemessen.
Auch bei den versuchten Morden zulasten der fünf Polizeibeamten, Herr L., Herr D., Frau F., Frau S. und Frau B., sei eine Strafrahmenverschiebung zu prüfen. Diese Tat habe sogar fünf Tatopfer betroffen. Die Polizeibeamten seien alle erheblich gefährdet gewesen. Auf der anderen Seite sei zu sehen, dass der Angeklagte hier nur ein Mordmerkmal erfüllt habe und dass es den Polizeibeamten letztlich gelungen sei, sich doch zu schützen. Insofern sei das Gericht der Auffassung, dass eine Freiheitsstrafe von 14 Jahren angemessen sei. Sie hätten zwar eine Strafrahmenverschiebung vorgenommen, sich aber trotzdem am oberen Bereich orientiert, da hier fünf Polizeibeamte unter Einsatz ihres Lebens die Gesellschaft haben schützen wollen und sich relativ spontan postiert hätten, um Hallenser Bürger vor dem Angriff zu schützen. Dass der Angeklagte diese Menschen ins Visier genommen habe, weil er sie als Repräsentanten des ihm verhassten Staates angesehen hatte, habe das Gericht zu seinem Nachteil gewichtet.
Im Hinblick auf die Tat zum Nachteil von Herrn Aftax Ibrahim handele es sich um eine fahrlässige Gefahr für Leib und Leben im Rahmen der Straßenverkehrsgefährdung, in Tateinheit mit fahrlässiger Körperverletzung. Der Strafrahmen belaufe sich auf eine Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder eine Geldstrafe. Man habe zu berücksichtigen, dass durch die Tat drei Straftatbestände verwirklicht worden seien. Man habe zudem die Gefährdung des Herrn Ibrahim zu beachten. Es sei ein glücklicher Zufall, dass Herr Ibrahim nicht verletzt worden sei. Je nachdem in welchem körperlichen Zustand das Opfer gewesen wäre, hätten auch schwerer Verletzungen entstehen können. Das Gericht halte eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren und drei Monaten für angemessen.
Es folgt eine 15-minütige Lüftungsunterbrechung.
Um 13:23 Uhr wird die Verhandlung fortgesetzt.
Jens Z. sei aus nächster Nähe getroffen und schwer verletzt worden, sagt die Vorsitzende. Die Grenze zur Vollendung sei “ganz, ganz knapp” nicht erreicht worden. Es lägen in diesem Fall zwei Mordmerkmale vor, der Angeklagte habe vorsätzlich gehandelt. Z. sei lange krank gewesen und versuche jetzt wieder, Fuß im Arbeitsleben zu fassen, wie er geschildert habe. Dies sei ihm aber über ein Jahr lang nicht möglich gewesen. Der Senat habe sich für eine Strafrahmenverschiebung entschieden und halte eine Freiheitsstrafe von 14 Jahren für angemessen.
Ähnliches gelte auch für die Tat gegen Dagmar M. Von einer Gutachterin sei gehört worden, dass in der Nähe der Schusswunde an der Hüfte wichtige Gefäße lägen und Frau M. viel Glück gehabt habe, diese Verletzung überlebt zu haben. Es lägen drei Mordmerkmale vor. Anders als bei dem Schuss gegen Z. gehe das Gericht hier von einem bedingten Vorsatz aus. Dagmar M. könne bis heute keine Treppen steigen und nicht arbeiten. Sie habe früher einen Job als Kellnerin gehabt, das gehe heute alles nicht mehr. Sowohl Z. als auch M. hätten große Probleme, sich in der Öffentlichkeit zu bewegen. Auch für den versuchten Mord an M. entscheide das Gericht auf eine Freiheitsstrafe von 14 Jahren.
Für die besonders schwere räuberische Erpressung von Daniel und Christian W. und Kai H. verhänge der Senat eine Freiheitsstrafe von 8 Jahren. Der Strafrahmen liege hier zwischen 5 und 15 Jahren. Für die Annahme eines minderschweren Falls gebe es nicht im Ansatz irgendeinen Raum. Man müsse bedenken, was der Angeklagte vorher gemacht und dass das Taxi einen hohen Wert gehabt habe. Auch sei zu berücksichtigen, dass die Brüder das Taxi lange nicht zurückbekommen hätten und dass es derart beschädigt worden sei, dass man damit kein Geld mehr verdienen könne. Die Betroffenen hätten die Tat wohl “ganz gut verkraftet”, hätten aber auch daran zu knabbern. Sie seien dem Angeklagten hilflos ausgeliefert gewesen, weil dieser eine Waffe gehabt habe. Andernfalls hätte jeder einzelne von ihnen den Angeklagten mühelos überwältigt. Das mache ihnen besonders zu schaffen.
Kai H. habe außerdem berichtet, wie schlimm für ihn die Vorstellung sei, was passiert wäre, wenn an diesem Tag sein Auszubildender, der einen Migrationshintergrund habe, dabei gewesen wären. “All das treibt Menschen um, Herr B.”, richtet sich die Vorsitzende an den Angeklagten. Diese Gedanken würden die Betroffenen der Tat auch Monate später beschäftigen.
Aus den dargestellten Strafen sei eine Gesamtstrafe zu bilden, sagt Mertens. Es käme hier nur die lebenslange Freiheitsstrafe in Betracht, etwas andere gebe das Gesetz nicht her.
Der Senat stelle außerdem die besondere Schwere der Schuld fest. Das Gesamtbild der Tat weiche einfach so stark von einem gewöhnlichen Mord ab. “Ihre Schuld kann nicht nach 15 Jahren gesühnt sein”, sagt Mertens zum Angeklagten. Die Tat weiche zu stark von einem normalen Mord, wenn es so etwas geben könne, oder jedenfalls von einem durchschnittlichen Mord. Es seien ja allein schon zwei Morde und zudem viele weitere Straftaten, die er in rund einer Stunde und 15 Minuten verübt habe.
Die Tat sei zudem zutiefst menschenverachtend gewesen. Der Angeklagte habe mit Absicht, “also noch mehr als Vorsatz”, gehandelt und möglichst viele Menschen umbringen wollen. “Und ihre emotionale Kälte”, fährt Mertens in der Begründung der besonderen Schwere der Schuld fort, diese hätte alle besonders getroffen. “Man musste da auch um Fassung ringen”, sagt Mertens, als der Angeklagte auf eine entsprechende Frage einer Nebenklagevertreterin gesagt habe, dass er auch Kinder umgebracht hätte, denn diese könnten ja später auch seine Feinde sein. Allein dieser Satz könnte schon für sich genug sein, um die besondere Schwere der Schuld zu rechtfertigen, sagt Mertens.
Außerdem werde die Sicherungsverwahrung angeordnet. Sie kenne diese aus ihrem Berufsleben aus Fällen, bei denen viele Vorstrafen vorgelegen hätten, sagt Mertens. Sie erinnere sich etwa an einen Angeklagten, der im Dezember freigekommen und im Januar schon wieder eine Reihe von Überfällen von Tankstellen mit Schusswaffengebrauch durchgeführt habe und für den dann eine Sicherungsverwahrung angeordnet worden sei. Vorstrafen lägen beim hier Angeklagten aber nicht vor, insofern käme nur § 66 Abs. 2 StGB infrage und sei zu prüfen.
Der Angeklagte sei ein fanatisch ideologisch motivierter Einzeltäter. “Sie sind antisemitisch, Sie sind ausländerfeindlich, Sie sind menschenfeindlich.”, sagt die Vorsitzende zum Angeklagten. “Sie sind ein Menschenfeind”, der zutiefst absurde Phantasien entwickelt habe, als er allein in seinem Kinderzimmer vorm PC gehockt habe. Dazu wolle sie noch sagen, dass sie hier zwar immer von “Alleintäter” gesprochen habe, das aber natürlich in einem strafrechtlichen Sinne meine. Er habe in diesem Sinne allein gehandelt, aber habe vorher online Anschluss gesucht und auch gefunden. Insofern hätten sich auch viele, viele andere Menschen mitschuldig gemacht. Vielleicht seien darunter auch Menschen gewesen, die in diesen Kreisen nur mal hätten gucken wollen. Es habe den Angeklagten jedenfalls niemand auf- oder abgehalten und eine “Internetpolizei” gäbe es nicht, da komme sie später noch drauf.
Der Senat sei der Ansicht, dass die normale Strafe hier nicht ausreiche, um den Angeklagten “auf den rechten Weg” zurückzuführen. “Sie sind für die Menschheit gefährlich”, richtet sich Mertens wieder an B. Er sei für Bürger verschiedener Glaubensrichtungen extrem gefährlich und dem Senat sei nichts anderes eingefallen, wie man die Bevölkerung schützen könne, als die Anordnung der Sicherungsverwahrung. […]
Nach § 74 Abs. 1 StGB werde außerdem die Einziehung der Gegenstände angeordnet, die der Angeklagte für seine Tatausübung verwendet habe. Im Urteil werde dazu Bezug genommen auf die Auflistung in der Anklageschrift, weil die Vorsitzende nicht noch einmal die lange Liste der Tatmittel vorlesen wolle, woran sich der Angeklagte vielleicht sogar noch einmal erfreuen würde. Die Auflistung aus der Anklageschrift werde dem Urteil daher dann beigefügt.
Sie komme jetzt noch einmal zu den Adhäsionsanträgen, sagt Mertens. Das Gericht habe über diese entschieden und in Bezug auf Sarah B. und Daniel L. die Beträge des Schmerzensgeldes gegenüber den Anträgen noch erhöht. Die Polizeibeamten hätten “uns unter Einsatz ihres Lebens geschützt”. […] Dies gelte auch für die anderen Einsatzkräfte, aber diese hätten keine Adhäsionsanträge gestellt. Der Senat habe in Bezug auf die Adhäsionsanträge bezüglich zukünftiger Schäden allerdings von einer Entscheidung abgesehen, sagt Mertens zu den Anwälten der Adhäsionskläger, RA Siebenhüner und RA Günther. Wenn in Zukunft noch weitere Schäden entstehen würden, stehe es den Betroffenen frei, den Zivilrechtsweg zu bestreiten.
Sie wolle noch einmal ein Wort zu ihrem Mandanten sagen, richtet sich Mertens an RAin Doreen Blasig-Vonderlin. [der Mandant, ein Arbeitskollege von Kevin S., möchte namentlich nicht erwähnt werden, Anm. democ.] Dieser trage sehr schwer an der Tat zulasten von Kevin S., wie eindringlich geschildert worden sei und auch aus vorliegenden Attesten hervorgehe. So sei das, wenn man sich um jemanden kümmere, wie es Blasig-Vonderlins Mandant in Bezug auf Kevin S. getan habe, weil man ein großes Herz habe. Der Mandant habe gesehen, wie sich Kevin S. ins Leben gekämpft habe und er fühle sich jetzt verantwortlich für das, was Herrn S. passiert sei. “Das ist das perfide, Herr B.”, richtet sich die Vorsitzende an den Angeklagten. Es sei perfide, dass sich der Kollege von Kevin S. nun verantwortlich fühle, obwohl es nur einen Verantwortlichen, nämlich den Angeklagten, gebe.
Es sei viel diskutiert worden, wer was falsch oder richtig gemacht habe. Eines sei aber klar: Der Mandant von RAin Blasig-Vonderlin habe alles richtig gemacht. Er habe sich vor Herrn S. gestellt und ihn schützen wollen, als dieser völlig schockiert gewesen sei. […] Dem Angeklagten glaube sie kein Wort, dass er gedacht habe, dass es sich bei Kevin S. um einen Muslim handele, sagt die Vorsitzende. “Und selbst wenn, würde das gar nichts ändern”, schiebt sie energisch nach. Der Angeklagte habe einfach alles niedergeschossen. Das sehe man auch an den Taten gegen Jens Z. und Dagmar M. Diese habe er frustriert niedergeschossen, da sonst niemand da gewesen sei. Die Leben der Betroffenen hätten sich durch das Verhalten des Angeklagten komplett verändert.
“Wir haben in 25 Verhandlungstagen in menschliche Abgründe geschaut”, sagt die Vorsitzende mit brechender und erstickter Stimme. Viele Momente seien unerträglich gewesen. Die Vorsitzende unterbricht ihre Rede kurz. Als Vorsitzende einer großen Strafkammer habe sie im Laufe ihres Berufslebens viele schreckliche Momente erlebt. So etwas wie in dieser Hauptverhandlung habe sie aber noch nie erlebt.
Aufgeklärt worden sei die Tat von jungen engagierten Beamten, die hier als Zeugen zu hören gewesen seien. Es sei aber nicht deren Aufgabe gewesen, etwa eine besondere Expertise zu Internetaktivitäten zu entwickeln.
Nach Kenntnissen des Senats sei das BKA derzeit dabei, eine Art “Internetpolizei” aufzubauen. Das sei enorm wichtig, weil das Internet an Bedeutung gewonnen habe, wie man sehen könne. Sie wolle seinen terroristischen Vorgängern hier keine Bühne bieten wollen, sagt die Vorsitzende zum Angeklagten. Deren Namen seien schon zu oft genannt worden in dem Prozess und sie werde diese deshalb in dieser Urteilsbegründung nicht wiederholen.
Am besten sei es, so Mertens, diese Menschen mit Schweigen zu bedenken. Man solle dabei natürlich nicht vergessen, was sie taten und gesagt haben und nicht aufhören, darüber nachzudenken, wie man diese Taten verhindern könne.
Es sei relativ kurz zusammenzufassen. Der Angeklagte habe sich antisemitischen, antimuslimischen und antifeministischen Gruppen angeschlossen. Niemand habe ihn aufgehalten, RA Feige habe das treffend gesagt. In der analogen Welt hätten ihn vielleicht Menschen aufgehalten und gefragt, ob er noch “alle beisammen hat”. Wenn man sich aber in der sozialen Welt gar nicht mehr bewege und diese Menschen wegschauen, dann würde man nicht gestoppt. Der Angeklagte sei jemand gewesen, der mindestens sechs Jahre völlig beschäftigungslos allein zu Hause in seinem Kinderzimmer gezockt habe. Vom Sachverständigen Herrn Quent habe man erfahren, dass sich viele Menschen in dieser Online-Welt bewegen würden. Dass aber ein Angriff in der tatsächlichen Welt stattfinde, “dürfte trotz allem eher selten sein”.
Die Vorsitzende sagt, sie frage sich, wie es dazu kommt, dass Bildung, Familie und soziales Umfeld so versagen. “Wie kommt es, dass jemand keine Herzensbildung erfahren hat?” Aus ihrer Zeit als Vorsitzende einer Jugendstrafkammer wisse sie, dass die ersten fünf Jahre des Lebens entscheidend für die Entwicklung der Empathie seien. Später entwickle sich dann das Verantwortungsgefühl. Alle Menschen würden unterschiedlich auf Gefahren reagieren. Der eine würde sich dem stellen, der andere sei ängstlich und rufe wenigstens den Notruf. Wieder andere würden nichts tun und wegsehen. Die Vorsitzende spricht den Angeklagten an: “Bei Ihnen hat niemand den Notruf angerufen. Niemand hat verstanden, welche Gefahr von Ihnen ausgeht”. Sie sagt, sie wolle niemandem einen Vorwurf machen. Sie wisse nicht, warum es geschehen sei. Tatsache sei, es sei geschehen. Sie wünsche sich für die Zukunft, dass die Menschen Lehren aus diesem Vorkommnis ziehen würden. Sie sei 1963 geboren und mit einem unerschütterlichen Vertrauen in diesen Staat aufgewachsen. Mertens sagt, sie denke, dass wir grundsätzlich in einer Gesellschaft leben würden, in der Missstände und Skandale aufgeklärt würden und der Rechtsstaat letztlich alles richte. Wer im Geschichtsunterricht aufgepasst habe, wissen, dass Antisemitismus, Rassismus und Fremdenhass zu Krieg und Bürgerkrieg führen würden. Menschen die eine so etwas tun, würden die Grundfesten unserer Gesellschaft angreifen. Jeder solle seinen Glauben leben können, oder auch ohne Zugehörigkeit zur Religion leben können. Niemand dürfe Opfer von solchen Straftaten in unserem Staat werden. “Wir denken heute nochmal an alle Menschen, die so unsagbares Leid erfahren haben. Zwei Menschen haben ihr Leben verloren, viele wurden körperlich und seelisch massiv verletzt.” Die Vorsitzende sagt, das Gericht sei nicht dazu berufen, den Angeklagten für sein ganzes Leben seiner Freiheit zu berauben. Es sei aber dazu berufen, ihn mit einer angemessenen Strafe zu bedenken und die Gesellschaft vor ihm zu schützen – solange er seine Grundhaltung nicht ändere. “Und wenn Sie sie nicht ändern, Herr B., werden Sie wohl niemals mehr in Freiheit leben können”.
Im Anschluss verliest die Vorsitzende noch zwei Beschlüsse. Die Untersuchungshaft des Angeklagten dauere fort, der Haftbefehl vom 10. Oktober werde aus fortbestehenden Gründen seines Erlasses aufrechterhalten. Dann habe sie noch einen Streitwertbeschluss mitzuteilen. Der Wert der Adhäsionsanträge wird für die Nebenklägerin und Polizeibeamtin Sarah B. auf 4.000 Euro, für den Nebenkläger und Polizeibeamten Daniel L. auf 5.000 Euro, sowie für die Nebenkläger Jens Z., Dagmar M. und [den Mandanten RAin Blasig-Vonderlins] auf jeweils 50.000 Euro festgesetzt.
Die Vorsitzende teilt dem Angeklagten die Rechtsmittelbelehrung mit. Das Urteil könne er mit Revision anfechten. Eine Revision sei binnen einer Woche beim Oberlandesgericht einzureichen. Wenn das Urteil schriftlich abgesetzt sei, was in ca. elf Wochen der Fall sein dürfte, werde es dem Angeklagten und seinen Verteidigern förmlich zugestellt. Dann habe er nochmal einen Monat Zeit die Revision schriftlich zu begründen. Die Vorsitzende händigt ihm das Rechtsmittelformular aus.
Zum Abschluss des Verfahrens bedankt sich die Vorsitzende bei allen Verfahrensbeteiligten, dass dieses Verfahren in diesen schweren Zeiten doch beendet werden konnte. Sie sei dankbar dafür, dass die Regeln eingehalten worden seien und Menschen mit Krankheitssymptomen der Verhandlung ferngeblieben seien. Soweit sie wisse, habe sich im Saal niemand angesteckt. Sie beendet die Hauptverhandlung gegen 13:48 Uhr.
Ehe er aus dem Saal gebracht werden soll, wirft der Angeklagte einen Schnellhefter in Richtung der Nebenklage. Er hatte diesen vorher zusammengerollt und mit einem Gummi so fixiert. Der Angeklagte wird von vier Sicherheitskräften an seinem Platz zu Boden gebracht und in Handschellen abgeführt.
Veröffentlicht am 24. Dezember 2020.